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Kommt jetzt das Stück zur Kulturpolitik?

Der bekannte russische Dramatiker Nikolai Erdman wurde 1933 vom Dreh eines völlig harmlosen Films weg verhaftet und für drei Jahre nach Sibirien verbannt, nachdem ein betrunkener Schauspieler ein paar seiner Fabeln auf einem Empfang im Kreml rezitiert hatte. Die Leiter des TAT, Tom Kühnl und Robert Schuster, hat man wegen ungleich harmloserer Späße in die Wüste geschickt. Umstürzlerisches jedenfalls war nicht geboten, seit die beiden vom Schauspielhaus an die ehemalige Experimentierbühne im Bockenheimer Depot wechselten. Jetzt, zum Schluss, erlaubte sich das Theater noch einen kleinen Knalleffekt.

Karin Fischer |
    Dramaturg Bernd Stegemann erläutert den aktuellen Zusammenhang:

    Das TAT wird ja bekanntlich geschlossen, die Ära Kühnl/Schuster endet Ende diesen Jahres und da machen wir den "Selbstmörder", ein Stück, das davon handelt, dass ein Arbeitsloser nicht mehr den Weg zurück findet in die Gesellschaft, es sei denn er bringt sich um. Er ist nur noch nützlich für die Gesellschaft mit seinem Tod, indem er sich als Märtyrer für irgendeine Institution opfert, damit diese Institution dann überleben kann. Und da gibt’s natürlich diverse Identifikationsmomente, natürlich auf eine sehr augenzwinkernde Weise.

    Man versteht Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow wirklich. Wer eine Frau mit Locken in Aubergine, eine sehr männlich aussehende Schwiegermutter mit altrosa Mopsfrisur und eine Nachbarin mit orangefarbener Pudelmähne zu ertragen hat, der kann schon mal auf dumme Gedanken kommen.

    Was denkst du eigentlich, nur weil ich ein Mensch ohne Gehalt bin, kannst du mich rumreglementieren...?! ... soll ich meinen letzten Seufzer tun?

    ...heißt es im Stück. Doch der sinnlose Selbstmord kann gerade noch verhindert werden. Auftritt Jürgen Kuttner im Namen der schweigenden Intellektuellen.

    Es folgen: eine liebeskranke Schabracke, ein Bote des marxistischen Standpunkts, ein Vertreter des Mittelstands und ein Schriftsteller. Noch nie war Semjon Semjonowitsch so wichtig wie heute. Seine Leiche soll zum "Stein des Anstoßes auf dem Felde der Geschichte" werden - natürlich ein viel zu hoher Anspruch für Kühnls "armes Theater" zwischen Plastikstühlen, Multifunktionssofa und einer Wand mit drei Türen auf gehobenem Baumarktniveau. Und so poltert die Satire weiter mit Slapstick und Philosophie kurz vor dem Abgrund, poetisch und schnapstrunken, ein böser musikalischer Schwank über das Opfer als gemeinschaftsstiftende Größe.

    Es marthalert übrigens heftig, mit mehrstimmigem Summen und Singen und rhythmischem Leeren von Kümmerlings-Fläschchen, und da trifft es sich gut, dass Kühnl und Schuster demnächst in der Schweiz arbeiten, wenn auch bei Stefan Bachmann in Basel. Nach der Pause gerät der Rhythmus der Inszenierung zuweilen etwas ins Stocken, nicht nur, weil das Begräbnis, in das alle ernsthaft investiert haben, nicht stattfindet. Dafür wird das Anarchische in Stück von Nikolai Erdman am Schluss in starke und hochaktuelle Bilder gefasst: ein Sensenmann führt die demonstrierende Trauergemeinde zum offenen Sarg, deren Transparente sind aber leer. Die Grabrede besteht aus dem offenen Brief, den Frankfurter Intendanten mit dem Vorwurf der Inkompetenz und Verzögerungstaktik an ihre Stadtverwaltung gerichtet hatten. Die Aufführung endet in einem deutschen Ost-West-Lied-Potpourri, das von der Friedenstaube bis zum griechischen Wein Aufbruch und Abschied gleichermaßen besingt. Und im letzten Drittel werden sogar die Eingangstüren des Theaters geöffnet: Hereinspaziert also, liebe Trauergemeinde fürs TAT. Beileidsbekundungen werden bei Vorstellungen des "Selbstmöders" gerne entgegengenommen.

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