"Wir wissen aus Biografien, dass Menschen ohne Lautsprache über Jahrzehnte als schwer geistig behindert einsortiert worden sind. Die sind zum Teil in Kinderheimen, Wohnheimen groß geworden und sie haben keine Möglichkeit gehabt zu sagen: Hallo? Ich kriege alles mit, was ihr sagt, wenn ihr mir nur einmal richtig in die Augen schauen würdet, würdet ihr sehen, dass ich die ganze Zeit nein, nein, nein sage. Aber leider guckt mir keiner in die Augen und deswegen kriegt keiner mit, dass ich das jetzt gar nicht möchte, was ihr mit mir vorhabt.'"
Jens Boenisch beschreibt hier eine Situation, wie sie vor 20 bis 30 Jahren in Deutschland keine Seltenheit war. Der Wissenschaftler arbeitet daran, Menschen zu helfen, die körperlich oder geistig so stark behindert sind, dass sie per Sprache nur sehr eingeschränkt oder gar nicht kommunizieren können. Und auch heute gibt es noch viele Menschen - von sprechgestörten Kindern bis hin zu Schlaganfallpatienten - deren Fähigkeit zu kommunizieren stark unterschätzt oder falsch gefördert wird.
"Das was wir machen in der unterstützen Kommunikation ist es, Sprache zu visualisieren."
Die unterstützte Kommunikation umfasst alle Techniken, die die Kommunikationsmöglichkeiten eines Menschen erweitern. Gebärdensprache, Symbolkarten, Sprechcomputer. Was für wen geeignet ist, ist abhängig von Art und Grad der Behinderung. Ein Kind mit Downsyndrom braucht etwas anderes als ein Patient mit Körperbehinderung. Die meiste Zeit beschränkte man sich an vielen Förderschulen und in Alltagssituationen auf plakative Kommunikations-Symbole wie Essen, WC und Schmerzen - grundlegende Nomen und Verben also, die Betreuer und Familie verstehen müssen. Die sogenannten Funktionswörter wurden außer Acht gelassen - und somit auch eine grammatikalisch korrekte Sprache.
"Und wir konnten durch unsere Forschung feststellen, dass diese alten Kommunikationshilfen wenig kommunikative Funktionen haben und dass die vielen kleinen Wörter eine ganz hohe kommunikative Funktion innehaben, weil wir sie ständig im Alltag brauchen und weil sie eben Themen unspezifisch sind."
Völlig unabhängig vom Gesprächsthema bestehen 80 Prozent unserer Alltagssprache aus Wörtern wie ich, du, er, sie, es, mögen, wollen, können, noch mal, aber, dein, mein, und, mit und zu.
"Wir brauchen sie beim wissenschaftlichen Vortrag genauso wie am Strand, wenn wir im Urlaub sind. Wir brauchen sie, wenn wir mit der Familie sprechen oder mit Freunden oder ein Vorstellungsgespräch haben."
Kernvokabular nennt Jens Boenisch diese Funktionswörter. Seine jahrelange Forschungsarbeit verknüpfte er mit direkten Erfahrungen im Beratungszentrum für Unterstützte Kommunikation an der Uni Köln. Dort arbeitet Boenisch zusammen mit Kindern und Erwachsenen samt deren Familien daran, die passende Kommunikationshilfe zu finden. Am Ende stand ein ausgeklügelter Sprechcomputer. Auf dessen Touchscreen umrahmen viele Symbole für Kernvokabular ein kleines Quadrat von themenabhängigen Wörtern und Symbolen für Freizeit, Essen, Natur oder Körper.
Boenisch: "Ich kann von links nach rechts einen Satz aufbauen, drücke auf ich."
Sprechcomputer: "Ich."
Boenisch: "...drücke auf möchten."
Sprechcomputer: "Möchten."
Boenisch: "Muss jetzt aber noch konjugieren ..."
Sprechcomputer: "Möchte ... Fußball ... spielen. Ich möchte Fußball spielen."
Was zunächst banal klingt, ist eine große Neuerung in der Unterstützten Kommunikation. Man gibt sprechbehinderten Menschen die Möglichkeit, sich grammatikalisch richtig auszudrücken - und das mit verhältnismäßig wenigen Handgriffen. Das Gerät wird seit fast einem Jahr erprobt, ist seit letztem September auf dem Markt und zeigt bei Schlaganfallpatienten und Kindern in Förderschulen bereits erste Erfolge.
"Verschiedene Lehrer und Therapeuten haben uns Einzelfall-Geschichten erzählt, die sind so atemberaubend, da bekommt man selbst als Forscher noch Gänsehaut, wenn man mitbekommt, wie Kinder innerhalb von drei oder vier Monaten nicht nur kleine Fortschritte machen, sondern Sprachentwicklungssprünge."
Denn auch die gesprochene Sprache entwickelt sich mit dem Hilfsmittel schneller. Bis der Sprechcomputer alle, die darauf angewiesen wären, erreicht, wird es jedoch wohl dauern - bisher sind noch über hunderttausend Betroffene in Deutschland nicht einmal mit den einfachsten Mitteln der unterstützten Kommunikation versorgt.