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Kompensationen und Perversiönchen

Michka Assays nun auf Deutsch erschienenen Roman "Zu wahr um schön zu sein" handelt vom existentiellen Schlingerkurs eines Mittvierzigers. Anti-Held Philippe steckt tief in er Leere Konsumgesellschaftsleere, verliert sich im Chatten und kleinen Perversiönchen. Assays Roman ohne Plot will düster und zeitkritisch sein. Doch große Ambitionen allein reichen nicht für ein überzeugendes Erstlingswerk.

Von Christoph Vormweg | 15.03.2005
    "In der französischen Literatur gibt es ein Vor- und ein Nach-Houellebecq. Er hat ein Erdbeben verursacht. Die Werte der Vergangenheit sind zusammengebrochen. Plötzlich wehte ein Wind des Neuen. Endlich kamen Stimmen zur Geltung, die bis dahin nicht gehört wurden. Und er hat in einigen, darunter in mir, Ehrgeiz geweckt."

    Das Phänomen Houellebecq: Rockmusik-Kritiker Michka Assayas vergleicht es mit dem Aufkommen der Punk-Rock-Band "Sex Pistols". Denn auch sie hätte der Gesellschaft ihre Hässlichkeit vor Augen geführt und damit hunderte anderer Bands inspiriert. "Zu wahr um schön zu sein" - für die deutsche Ausgabe von Michka Assayas Erstling hat der DuMont-Verlag den Titel der französischen Werbe-Banderole übernommen. Der Original-Titel ist "exhibition", was so viel heißt wie "Zur-Schau-Stellung". Zur Schau gestellt wird der existentielle Schlingerkurs des Mittvierzigers Philippe:

    Ich war immer für Romane empfänglich, die den Ungewissheiten des Lebens folgen. Vor allem für die von Memoirenschreibern wie Proust. Auch er hat das Thema seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" erst beim Schreiben entdeckt. Es gibt einen Satz von Julien Green, den ich immer wieder zitiere: "Ich schreibe meine Roma-ne, um zu wissen, was in ihnen passiert". Ich wusste also am Anfang nicht, um was es gehen würde. Ich hatte einen ganz banalen Ausgangspunkt, den ich selbst erlebt habe: Da fährt ein Typ zur Beerdigung der Mutter seines früheren Freundes. Und dabei wird ihm klar, dass er die anderen nicht wieder erkennt, ja nicht einmal sich selbst, wie er früher war. Aber der Rest des Buches folgt keinem Plan, keiner Geschichte. Ich habe also hier gesessen und nicht gewusst, worüber ich am nächsten Tag schreiben würde.

    Und so liest sich auch der Roman "Zu wahr um schön zu sein". Immer wieder setzt der Erzähler neu an - mal aus der intimen Ich-, mal aus der distanzierten Er-Perspektive, mal über, mal un-ter der Gürtellinie. Auf Rückstürze in die 70er Jahre mit ihren utopischen Hoffnungen folgen Einblicke in die Trübsal Ende der 90er Jahre. Keine feste Arbeit, kein Sozialleben: so lautet die knappe Diagnose des vereinsamten Philippe. Der kaum gekannte Vater ist tot, die Mutter, eine einst hochbegabte Pianistin, egomanisch und überkandidelt. Und auch die geliebte Großmutter muss er beerdigen. Mit einem Wort: Michka Assayas schleppt uns durch die Jammertäler eines "banlieusard", wie die Bewohner der uferlosen Pariser Vorstädte genannt werden. Die kleine Erbschaft, von der er zehrt, dient vor allem den Ausflügen in die Welt des Minitel. Chatten auf 3615 SADO - nur das schafft Abstand von der inneren Leere und erleichtert nebenbei das Onanieren.

    "Es gibt in diesem Buch Vorstellungen, die nicht unbedingt meine sind. Es gibt Meinungen, die ich nicht teile, Lebenseinstellungen, die mich erschrecken. Es gibt Dinge, die dem Erzähler durch den Kopf gehen, so wie sie mir haben durch den Kopf gehen können - aber ich mag sie nicht. Ich glaube, ich habe mich in diesem Buch von unangenehmen Obsessionen befreit."

    Es lebe die literarische Selbsttherapie! "Ich erzähle all das", gesteht Philippe folgerichtig, "weil ich zu verstehen versuche, wie ich zu einem solchen Stück Dreck verkommen konnte." Kurz, Michka Assayas taucht seinen Anti-Helden tief in die Konsumgesellschaftsleere mit ihren Kompensationen und Perversiönchen, lässt ihn anschließend darüber nachsinnen und zetern - und fertig sei ein düsterer, zeitkritischer Roman à la Houellebecq. Nur, so leicht ist das leider nicht. Denn dem groß gewachsenen, gut aussehenden, beredten Mittvierziger, Vater zudem eines reizenden Sohnes, fehlen einfach die Erfahrungen eines kleinen, hässlichen, nach Worten ringenden Michel Houellebecq:

    "Stellen wir uns eine Figur vor, die mir an meinen schlechten Tagen gleicht und die ihre Ohnmacht ausdrückt, verstärkt noch durch den Wunsch, etwas sagen zu wollen, eine Figur also, die sich der Eitelkeit ihres Bemühens bewusst ist. Das entspricht, glaube ich, meinem literarischen Geschmack, der mich immer zu Schriftstellern geführt hat, in deren Werk die Negativität im Mittelpunkt steht. So bin ich vor allem von Thomas Bernhard geprägt, auch von Moravia. Ich spüre in mir eine Art widersprüchlicher Energie, in der der Nihilismus zentral ist und in der dieser Nihilismus gleichzeitig als etwas Unerträgliches attackiert wird. Er wird also als eine Art Widerspruch erlebt, der zum Handeln treibt. In jedem Fall: Ich habe dieses Buch in dem Bewusstsein geschrieben, es sei das letzte, das ich schreiben würde. Ich habe sogar versucht mir vorzustellen, ich hätte eine schwere Krankheit oder müsste sterben. Das ist schon merkwürdig: Ich habe es in drei, vier Monaten geschrieben, und mir scheint, ich bin unfähig etwas zu machen, ohne dass ich mir sage, es ist das Ende."

    Nach der Begegnung mit Michka Assayas im 18. Pariser Arrondissement dümpelt auch die Rezensentenseele im Jammertal. Wie sein Erzähler Philippe beklagte er bei unserem Gespräch die Oberflächlichkeiten der modernen Welt, die Allgegenwart einer zersetzenden Ironie, die keine Ernsthaftigkeit mehr zulasse. Doch es ist das alte Dilemma: die Welt analysieren ist eine Sache, von ihr erzählen eine andere. Das literarische Parkett der halb erlebten, halb erdachten Lebensbeichte jedenfalls ist für Michka Assayas - zumal er ohne Plot auskommen wollte - ein paar Nummern zu groß.

    Michka Assayas: "Zu wahr um schön zu sein"
    DuMont Literaturverlag