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Komplexe Geschichte greifbar

Aharon Appelfeld entschärft in seinem Roman "Elternland" den innerisraelischen Generationenkonflikt dadurch, dass die Jüngeren Verständnis für die Älteren entwickeln. Dass Appelfeld mit seinem Thema so viele Leser hat, liegt auch daran, dass er ein Erzähler ist, der komplexe kollektive Geschichte am Beispiel von Individuen greifbar macht.

Von Sabine Peters | 30.07.2007
    Ruth Klüger, Ida Fink, Imre Kertész, Primo Levi - das sind Überlebende der Shoa, die aus eben dieser eigenen frühen Erfahrung ihre Literatur entwickelt haben. Aharon Appelfeld gehört zu ihnen: Er wurde als Kind einer assimilierten jüdischen Familie 1932 in Czernowitz geboren; die Stadt gehörte seinerzeit zu Rumänien, heute zur Ukraine. Er überlebte im Getto, dann im Lager, schließlich als Küchenjunge bei der Roten Armee. 1946 ging er nach Israel, wo er als Literaturprofessor arbeitete. Sein Hauptwerk allerdings besteht aus 40 international bekannten Romanen, in denen er das Leben, die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden schildert. Bei den Überlebenden, die sich künstlerisch mit der Shoa befassen, gibt es eine große Spannbreite zwischen Autoren, die dem Zivilisationsbruch begegnen, indem sie ein "Bilderverbot" weitgehend befolgen - etwa, indem man bewusst Leerstellen in einen Text setzt - und denjenigen, die in immer neuen Ansätzen versuchen, das Geschehene abzubilden und erzählbar zu machen. Appelfeld gehört zu den letzteren.

    Der Protagonist Jakob Fein in seinem neuem Roman "Elternland" ist ein Repräsentant der sogenannten zweiten Generation, ein "Sabre", das heißt, er wurde nach 1948 in Israel geboren. Jakobs Eltern haben die Shoa in ihrem polnischen Heimatdorf überlebt; lange nach ihrem Tod beschließt der Sohn, erfolgreicher Besitzer eines Modegeschäfts, ein glücklos verheirateter Mann und Vater zweier erwachsener Töchter, nach Polen zu reisen. Appelfeld schildert eine Rückkehr in zweierlei Hinsicht: zeitlich in die Vergangenheit, und räumlich nach Osteuropa zurück.

    Als junger Israeli war Jakob nicht mehr religiös wie Vater und Mutter; und er mochte nicht, wenn sie untereinander Polnisch und Jiddisch sprachen. Sie verkörperten für ihn das Erbärmliche, Alte, Überholte. Die Eltern sagten selbst auch sehr defensiv, ihr Leiden in Kellerverstecken, Ställen und im Wald sei so sinnlos gewesen wie die gesamte Shoa und solle vergessen werden. Jakob repräsentierte den "neuen Juden", der das Gegenbild zum diasporischen Juden darstellt und der selbstverständlich auch seine Karriere beim israelischen Militär machte. Nun ist er plötzlich, ohne dass er sich über das Motiv seiner Reise völlig im Klaren ist, in der Gegend von Krakau. Und alles kommt ihm aus den Erzählungen der Eltern vertraut vor: der Fluss Schrinez, das satte Grün der Wälder, die Langsamkeit des Lebens.

    Jakob wohnt auf dem Hof der katholischen Bäuerin Magda, die als Kind im Haus seiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern ein- und ausging. Schon als kleines Mädchen vor dem Krieg verehrte sie die Familie Fein und war nicht nur wie ein Kind im Haus. Sie war auch deren "Schabbesgoi", sprich, sie übernahm diejenigen Arbeiten, die strenggläubigen Juden am Schabbat untersagt sind. Jakob spürt, dass in Magdas Körper Erinnerungen an seine Angehörigen lebendig geblieben sind, und die beiden werden ein Liebespaar. Sie erzählt ihm viele Details über seine Familie, und er fängt an, seine Eltern erstmals zu achten. Im Gegensatz zu dieser positiven Erfahrung wird Jakob auf seinen Wegen durchs Dorf immer wieder mit sattsam bekannten Stereotypen über "die Juden" konfrontiert, die nicht viel mehr zeigen als die Tatsache, dass Philo- und Antisemitismus nur zwei Seiten einer Münze sind.

    Das wird zugespitzt am Beispiel der Grabsteine von Jakobs Vorfahren, die aus den Friedhöfen herausgerissen wurden und seit der Besetzung Polens durch Deutschland bis heute dazu dienen, den Platz vor dem Rathaus zu pflastern. Jakob wolle die Steine nach Israel bringen? Das sei unmöglich, erklärt der Ratsvorsitzende, denn den Polen liege sehr viel an ihren historischen Kulturgütern. Mit Sehnsucht würden sie der ermordeten Juden gedenken, und nur die Deutschen trügen Schuld an der Schändung der Grabsteine. Zehntausend Dollar, dann könne Jakob die Steine haben. Er wolle die Summe nicht zahlen? So kenne man die Juden, als geschichtsvergessen, wurzellos, geizig. Jakob träumt nachts davon, mithilfe der israelischen Armee in diesen plötzlich so feindseligen polnischen Ort vorzudringen und die täglich mit Füßen getretenen Grabsteine mit Waffengewalt herauszuholen.

    Die Fantasie, die Aharon Appelfeld hier schildert, hat ihre Parallelen in der Realität: Als vor einigen Jahren im polnischen Drohobyz Wandfresken des jüdisch-polnischen Malers und Autors Bruno Schulz entdeckt wurden, die er auf Befehl eines deutschen Nazis malte, verschwanden sie von einem Tag auf den anderen: Im Auftrag Yad Vashems, der israelischen Holocaust-Gedenkstätte, wurden die Fresken des Bruno Schulz in einer hastigen Aktion entfernt und nach Israel gebracht. In den Augen vieler Polen wurden die Bilder gestohlen. Israelischem Verständnis zufolge wurden sie vor Missachtung beziehungsweise Zerstörung in Polen "gerettet".

    Wem "gehören" Geschichtsdokumente? Wohin "gehören" sie? Jakob Fein resigniert, was die Grabsteine seiner Vorfahren angeht,- aber er kehrt mit einem religiösen Buch, der Pessach-Haggada seiner Familie, und einem siebenarmigen Leuchter zurück nach Israel. Appelfeld schildert einen Prozess, von dem nicht ganz sicher ist, ob es ein Zusammenbruch oder ein Aufbruch ist, oder beides gleichzeitig: Erst im "Elternland" Polen nimmt Jakob die Ohnmacht, Verzweiflung und das Leiden der Elterngeneration wahr und identifiziert sich damit. Als ein polnischer Bauer ihn verhöhnt, seinesgleichen sei wie Vieh zur Schlachtbank gegangen, erklärt Jakob, stolz darauf zu sein. Im Widerspruch zu seinen nächtlichen Träumen von der bewaffneten israelischen Aktion stellt sich der Sabre Jakob zunehmend in die diasporische Tradition, die für zionistisch orientierte Israelis bis heute als etwas zu Überwindendes gilt. Mehr noch: Appelfeld geht es in aller Vorsicht um die Bewahrung eines religiösen Erbes, das er selbst in seiner assimilierten Familie nicht kennenlernte, sondern sich erst später erschloss.

    Appelfeld ist sicherlich nicht dogmatisch in Sachen Religion. Aber um dem auch oft in Israel beklagten Werteverlust etwas entgegenzustellen, greift er auf die kulturelle Tradition zurück und erinnert das säkulare, moderne Israel an seine Geschichte, die eine der Vertreibung, Flucht und Emigration ist, aber auch eine Geschichte des Glaubens. In einem Interview schilderte er die Sorge, dass so, wie die Juden aus Europa verschwanden, sie jetzt auch im arabisch geprägten Nahost verschwinden könnten. Er betont allerdings, weder ein politischer Autor zu sein, noch ein Historiker. Seine Arbeit bestünde vielmehr darin, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzubinden. Der innerisraelische Generationenkonflikt wird in dem Roman "Elternland" dadurch entschärft, dass die Jüngeren Verständnis für die Älteren entwickeln.

    Auch das neue Buch ist in einer zurückhaltenden, einfachen Sprache geschrieben, die dabei doch bildreich und detailgenau vor allem in den Landschafts- und Dorfbeschreibungen ist. Dass dieser Autor mit seinem Thema so viele Leser hat, liegt auch daran, dass er ein Romancier, ein Erzähler ist, der komplexe kollektive Geschichte am Beispiel von Individuen greifbar macht.

    Aharon Appelfeld: Elternland
    Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
    Rowohlt Berlin, 254 Seiten, 17,90 Euro