Die Aufgabe, die sich Michael Warschawski gestellt hat, ist seit dem Scheitern des Oslo-Prozesses und im Windschatten des Bürgerkriegs im Irak zweifellos noch schwieriger geworden. Eine militärisch mit Schutzmauer und Todesstreifen erzwungene Trennung der beiden Völker, "sie bei sich, wir bei uns" das ist der schäbige Rest, der von allen Friedenshoffnungen der letzten Jahre übrig geblieben ist. Folgt man Warschawskis Analyse der inneren Entwicklungstendenzen der israelischen Gesellschaft, so verdichtet sich das Bild vom historischen Zeitfenster, das sich unwiederbringlich geschlossen hat. Friedensaktivisten wie Warschawski sind heute in Israel ebenso isoliert wie in jener "bleiernen Zeit" nach dem strahlenden militärischen Sieg im Sechstage-Krieg.
Damals hatte ein beispielloser Triumphalismus die israelische Gesellschaft erfasst, der jede kritische Stimme mit wütender Repression und der symbolischen Verstoßung aus der Gemeinschaft des jüdischen Staates bestrafte. Warschawski und ein kleines Häuflein Gleichgesinnter betätigten sich damals am äußersten linken Rand des politischen Spektrums als angefeindete Rufer in der Wüste. "Mazpen" zu deutsch "Kompass" nannte sich diese Bewegung, die vom Aufbruch des Mai 68 in Paris, Berlin und Berkeley getragen wurde. Diese Friedensaktivisten wurden nicht müde im Geist eines an der französischen und amerikanischen Revolution orientierten Universalismus, die Grundwidersprüche des politischen Zionismus anzuprangern.
Israel sollte ein moderner und demokratischer Staat werden, der gleichwohl die Araber auf seinem Territorium von Bürgerrechten und Demokratie ausschloss. Israel sollte den Überlebenden des Holocaust eine sichere Zuflucht bieten und verstrickte sich zugleich in einem andauernden blutigen Kolonialkrieg. Schlimmer noch, die Machteliten im Israel der Sechziger Jahre hegen eine tiefe Verachtung für die eingewanderten Diaspora-Juden, die eben mit knapper Not den Tötungsfabriken des Nationalsozialismus entronnen waren. Man macht ihnen ihre Ohnmacht gegenüber ihren Verfolgern zum Vorwurf. Durch aggressive Assimilierung sucht das Israel Ben Gurions ihnen die Verhaltensmuster der Diaspora auszutreiben. Religiosität und Bescheidenheit werden als Rückständigkeit bekämpft.
Eindrucksvoll beschreibt Warschawski diesen paradoxen israelisch-zionistischen Antisemitismus, den er, der damals als religiöser Juden aus Frankreich nach Israel kam, als tiefen Schock erlebte. Vor allem in der modernen Vorzeigemetropole Tel Aviv verkörpert der nach der Kaktusfeige benannte "Sabre" das Idol des Zionismus: ein David der zum Goliath wurde, wehrhaft, selbstbewusst und mit deutlichen Zügen des Machismus. Der eigenartige Hass, den der neue Israeli im Kampfanzug für die schmächtigen Diaspora-Juden in schwarzen Mänteln und Hüten hegt, kulminiert in ihrer Beschimpfung als "Seife". Eine blasphemische Anspielung auf das, was die Nazi-Vernichtungsmaschinerie aus dem Körperfett der ermordeten Juden gemacht hatte. Für Warschawski bleibt die Beziehung zwischen Zionismus und Antisemitismus bis heute in vieler Hinsicht ambivalent.
Insbesondere die Regierung Ehud Barak hat wieder damit begonnen, das Schreckbild des Antisemitismus zu instrumentalisieren, um damit einen nationalen Konsens herzustellen. Es sollte den Paradigmenwechsel in der israelischen Politik mehrheitsfähig machen, die nach 2 Jahrzehnten Friedenspolitik wieder auf Kriegskurs gegangen ist. "Die ganze Welt ist gegen uns" war ein Slogan in den Fünfzigern und Sechzigern. Golda Meir vertrat die Ansicht, ohne Antisemitismus in der Welt käme der Exodus der Juden nach Israel ins Stocken, deshalb werde ein gewisse Dosis Antisemitismus gebraucht. Es gab Zionisten, die den Holocaust als eine Art Blutopfer betrachteten, mit dem man die Gründung des jüdischen Staates erkaufen konnte. Danach hatte dieses Motiv der ewigen Opferrolle der Juden an Bedeutung verloren, bis es heute auf die politische Bühne zurückgekehrt ist. Das Trauma des Massenmords an den europäischen Juden ist sicher immer noch tief in Bewusstsein und Unterbewusstsein der Israelis eingebrannt. Aber gerade deshalb lässt es sich auch so leicht politisch instrumentalisieren. Als der malaysische Premierminister seine antisemitische Rede hielt, war die Empörung groß. Regierung und alle Medien stellten sofort die Verbindung zu Hitler her. Aber als Jörg Haider in Österreich in eine Regierungskoalition einzog, verhielt sich Israel seltsam zurückhaltend. Auch als bekannt wurde, dass ein israelischer Offizier palästinensischen Gefangenen Erkennungsnummern auf den Unterarm tätowieren ließ, war das Ausmaß öffentlicher Proteste vergleichsweise gering. Ebenso wie im Fall eines ranghohen israelischen Militärs, der die Auffassung vertrat, man könne von der Strategie der deutschen Wehrmacht im Warschauer Ghetto lernen, wie man mit den palästinensischen Flüchtlingslagern zu verfahren habe. Mit diesem Widerspruch zwischen der Allgegenwart des Holocaust, wann immer er der Staatsräson nützt und seiner Verdrängung bei anderen Gelegenheiten, will ich mich nicht abfinden.
Unerbittlich geht Warschawski auch mit der traditionellen Linken seines Landes ins Gericht. Dreißig Jahre lang hat die Arbeiterpartei Israel als ureigensten Besitz betrachtet. Mit ungeheurer Arroganz verdrängten die Linkszionisten den eklatanten Widerspruch zwischen dem humanitären Anspruch ihres Projekts und den kolonialistischen Mittel seiner Durchsetzung. Für die Entwicklung der israelischen Gesellschaft vielleicht fataler noch war die Verachtung, die sie der in der Diaspora entstandenen jüdischen Kultur entgegenbrachten. Im Schmelztiegel Israel sollte alles verschwinden, was an das Jahrtausende alte europäische und arabische Ghetto erinnerte. Wer diese Identität nicht aufgeben wollte, fand sich sehr schnell am Rande der israelischen Gesellschaft wieder.
Heute ist dieses Kräfteverhältnis gekippt, die säkularisierten Eliten der alten Arbeiterpartei befinden sich sowohl ideologisch wie demographisch auf dem Rückzug. Und die jemenitischen Juden haben nicht vergessen, dass man einst ihre Kinder zur Zwangsadoption freigab, dass übereifrige Einwanderungsbeamte des jungen israelischen Staates Jagd auf die Schläfenlocken der Orthodoxen machten. Die marokkanischen, irakischen und polnischen Einwanderer erinnern sich gut an die Verachtung und Ausgrenzung, mit der man sie empfing. Israel ist nie wirklich zu ihrer Heimat geworden, sie gehören auch heute noch zu den sozial Ausgegrenzten.
Für Warschawski hat diese blinde Verdrängung der in der europäischen und orientalischen Diaspora entstandenen jüdischen Kulturen den Nährboden bereitet für eine geschichtlich neue und äußerst gefährliche Vermischung von israelischem Nationalismus und jüdischer Religion. Im Diskurs des neuen jüdischen Messianismus wird Israel zu Judäa, zur letzten Etappe auf dem Weg zur verheißenen Erlösung des jüdischen Volkes, der Errichtung des dritten Tempels in Jerusalem. Eine Vorstellung, die noch in den Siebzigern von einer Mehrheit der Rabbiner als Blasphemie abgelehnt worden wäre.
An der Grenze zeigt die israelische Gesellschaft aus der ungewöhnlichen Perspektive eines Linksintellektuellen, der sich von der Religion seiner Vorfahren losgesagt hat, ohne sich deshalb dem technokratischen Projekt des Zionismus zu verschreiben. Warschawski hält der Tradition der jüdischen Diaspora die Treue, wie sie sein Vater verkörperte, ein aus Polen ins Elsass ausgewanderter Rabbiner. Nie auf Seiten der Stärkeren zu stehen, immer die Rechte der Unterlegenen zu verteidigen sind unverzichtbare Bestandteile dieser Tradition, ebenso wie die unermüdliche Suche nach einem Modus des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen unter schwierigsten Bedingungen. Die Tragik Israels ist es, dass der aus dem Trauma des Holocaust geborene Kult der Stärke nun auch noch jene Reste dieser Tradition zerstört hat, die den Feuerofen des europäischen Antisemitismus überlebt hatten.
Michael Warschawski
An der Grenze
Nautilus Verlag, 256 S., EUR 19, 90