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Komponiert "im Zigeunerstil"

Sie waren, sie sind, und ein Bestseller werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch immer bleiben: Die "Ungarischen Tänze" von Johannes Brahms. 21 knackig-kurze Stücke, die vor Leidenschaft und Sehnsucht nur so triefen, deren prägnante Melodien einem jedem ins Ohr gehen, und die zum Ungarn-Klischee genau so gehören wie Puszta und Paprika.

Von Maja Ellmenreich |
    Brahms' Verleger Simrock haben sie ein Vermögen beschert, denn jeder einigermaßen begabte Hobbymusiker wollte die "Ungarischen Tänze" spielen - ob auf dem Klavier, im Blasorchester oder mit der Flöte. Für alle möglichen Instrumente wurden sie bearbeitet. Ganz besonders bezaubernd aber klingen sie mit der klassischen Duo-Besetzung Violine/Klavier - eingerichtet von dem Meistergeiger und Brahms-Freund Joseph Joachim.

    Beim britischen Label Hyperion ist jüngst eine Neueinspielung dieses Arrangements erschienen - mit dem israelischen Duo Hagai Shaham und Arnon Erez spielen.

    Musikbeispiel: Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 5 g-moll, Allegro (Heft I)

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Ungarn in - besonders in Komponistenkreisen. Als einer der ersten hatte der gebürtige Ungar Franz Liszt das Kolorit seiner Heimat in die Kunstmusik eingebracht - seine "Ungarischen Rhapsodien" brachten es zu beachtlicher Berühmtheit. Zunehmend tauchten in den Partituren Angaben wie "all'ongarese" oder "alla zingarese" auf: "im ungarischen" oder "im Zigeunerstil" wurde komponiert und sollte nun musiziert werden.

    Tiefschürfende musikethnologische Feldforschungen waren dem allerdings nicht vorausgegangen: Erst Béla Bartók sollte sich Anfang des 20. Jahrhunderts an die systematische Aufarbeitung der ungarischen Volksmusik machen.

    Den Romantikern reichte es meist aus, rhythmische Muster oder melodische Schnipsel, die sie für ungarisch hielten, vielleicht irgendwo aufgeschnappt hatten, in ihre Musik aufzunehmen und sie mit "all ongarese" zu betiteln.

    Auch dem Norddeutschen Johannes Brahms waren solche Stilmittel zu Ohren gekommen. Fasziniert von der exotischen Ausdruckskraft der so genannten "Zigeunermusik" machte er sich daran, eine erste Sammlung aus 10 "Ungarischen Tänzen" für Klavier zu vier Händen zu komponieren.

    Johannes Brahms war vorsichtig gewesen und ließ in der Erstausgabe nicht bloß seinen Namen über die 10 kurzen Stücke drucken, sondern wählte die bescheidenere Formulierung "gesetzt von Johannes Brahms". Und trotzdem handelte er sich ordentlich Ärger mit seinen "Ungarischen Tänzen" ein: Brahms wurde des Diebstahls geistigen Eigentums bezichtigt, denn die Urheber der meisten Melodien konnten zweifelsfrei identifiziert werden. Von einem gewissen János Travnik etwa stammt die Csárdás-Vorlage des 9. Ungarischen Tanzes.

    Musikbeispiel: Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 9 d-moll, Allegro non troppo (Heft II)

    Die Violine gibt den sprichwörtlichen Ton an, führt durch die Melodie - und das Klavier begleitet, füllt harmonische Lücken aus und liefert den rhythmischen Unterbau. Die klassische Rollenverteilung also finden wir vor im Arrangement von Joseph Joachim. Alles andere würde auch verwundern, ist doch der Geigenklang mit der ihm eigenen Präsenz wie geschaffen für die führende Stimme. Im Brahms'schen Original müssen die Interpreten die Hierarchie erst herausarbeiten.

    Wenn etwa die Schwestern Katia und Marielle Labèque nebeneinander am Flügel sitzen, um Brahms "Ungarische Tänze" zu spielen, muss ihnen bei jedem einzelnen Tanz bewusst sein, was erstrangig und was Nebensache ist, welcher Stimme Emphase gegeben werden muss.

    Musikbeispiel: Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 14 d-moll,Un poco andante (Heft III)

    Der Geiger Joseph Joachim hat bei seiner Bearbeitung zweifelsohne dem eigenen Instrument den Vorzug gegeben. Auf der neuen CD von Hagai Shaham und Arnon Erez, wird das Kräfteverhältnis umso deutlicher.

    Musikbeispiel: Johannes Brahms : Ungarischer Tanz Nr. 14 d-moll, Un poco andante (Heft III)

    Hagai Shaham und Arnon Erez aus Israel sind ein eingespieltes Team: Vor nunmehr 18 Jahren gewannen sie den Münchner ARD-Wettbewerb im Duo-Fach Violine/Klavier. Ein eingespieltes Team, beim dem sich allerdings der Pianist Arnon Erez ab und zu über Gebühr zurückhält. Im Rampenlicht steht der Geiger Hagai Shaham mit seinem eigentümlichen Violinklang. Nicht ohne Grund und nicht ohne Übertreibung vergleichen Kritiker ihn regelmäßig mit dem großen Jascha Heifetz, der zwar gut zwei Geigergenerationen vor ihm lebte, ihm dennoch verblüffend ähnelt. Wie für Heifetz gilt auch für Shaham: Ausdruck ist oberstes Gebot. Die Joachimsche Bearbeitung der "Ungarischen Tänze" bietet da eine seltene Gelegenheit: Die Geige von Hagai Shaham darf seufzen und schluchzen, und der Bogen darf schon mal über die Saiten springen. Hagai Shaham verbindet fingerakrobatisches Virtuosentum mit einem romantisch-vibratolastigen Virtuosenton. Wie wir beim Hören, scheint Hagai Shaham beim Spielen das geläufige Bild eines Zigeunergeigers vor Augen zu haben, dem es nicht so sehr um lupenreinen Perfektionismus geht, sondern dessen Ziel es ist, seine Zuhörer zu Tränen zu rühren.

    Musikbeispiel: Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 16 g-moll, Con moto (Heft III)

    Mit Doppelgriffen und anderen technischen Raffinessen gespickt, ist Joseph Joachims Arrangement wahrlich kein Kinderspiel. Alles andere aber hätte ihn selbst gelangweilt, den gefeierten Geigenvirtuosen, der 1831 nahe des heutigen Bratislava geboren worden war, was damals zum ungarischen Königreich gehörte. Auch nach Studien bei Mendelssohn in Leipzig und in Weimar bei Franz Liszt behauptete Joseph Joachim, als Komponist fühle er sich weiterhin als Ungar. Folgerichtig nur, dass er sich den "Ungarischen Tänzen" seines guten Freundes Johannes Brahms zuwandte. Die Bearbeitung war nicht zuletzt für Joachim selbst, der in ganz Europa damit auftrat und die Tänze noch bekannter machte, als sie ohnehin schon waren und durch die berühmte Orchesterfassung noch werden sollten. Brahms selbst war hellauf begeistert von Joachims Bearbeitung - so wie er grundsätzlich dessen Leistungen schätzte. Zwischen den beiden Freunden herrschte ein reges Geben und Nehmen: Sie legten einander zur Begutachtung ihre jüngsten Kompositionen vor, musizierten miteinander und pflegten einen regen Briefverkehr. Brahms widmete Joachim sein Violinkonzert und den Geigenpart seines Doppelkonzertes. Nach fast 30jähriger inniger Freundschaft aber kommt es zum Bruch. Als sich Joachim scheiden lassen will, ergreift Brahms Partei: nicht für den Freund, sondern für dessen Noch-Ehefrau. Mehrere Jahre lang herrscht Funkstille zwischen den einstmals Vertrauten, und dann gelingt ihnen doch, an die alte Freundschaft wieder anzuknüpfen und die Vergangenheit ruhen zu lassen.

    Joseph Joachim ist mittlerweile Leiter der Königlich akademischen Hochschule für Musik in Berlin und bildet hunderte von jungen Geigern aus. Für's Komponieren reicht seine Zeit kaum noch, dabei hatte er zu Beginn seiner Karriere viel versprechend damit begonnen. Auf der neuen CD von Hagai Shaham und Arnon Erez tritt Joseph Joachim nicht nur als Bearbeiter in Erscheinung, sondern auch als Komponist: Neben den 21 "Ungarischen Tänzen" von Brahms in Joachims Bearbeitung reicht der Platz noch für Joachims Variationen in e-moll: Auf ein melancholisches Thema folgen 18 Variationen von zum Teil halsbrecherischer Schwierigkeit. Zwischendurch aber stellt Joachim auch seine lyrische Begabung unter Beweis. Für Hagai Shaham und Arnon Erez die Chance, sich uns auch noch einmal als gleichberechtigte Kammermusikpartner zu präsentieren.

    Musikbeispiel: Joseph Joachim: Variationen Nr. 10-12, aus: Variationen in e-moll

    Das israelische Duo Hagai Shaham und Arnon Erez widmet seine neue CD der Musiker-Männerfreundschaft von Johannes Brahms und Joseph Joachim. Brahms' "Ungarische Tänze" in Joachims Bearbeitung für Violine und Klavier und die Variationen in e-moll von Joseph Joachim finden sich auf dieser "Neuen Platte", die beim britischen Label Hyperion erschienen ist und Ihnen heute im Deutschlandfunk empfohlen wurde von Maja Ellmenreich.

    Titel: Johannes Brahms: Ungarische Tänze,
    in der Bearbeitung für Violine und Klavier von Joseph Joachim Joseph Joachim: Variationen in e-moll
    Ausführende: Hagai Shaham, Violine
    Arnon Erez, Klavier
    Label: LC 07533 Hyperion CDA67663