Dienstag, 19. März 2024

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Komponist Arvo Pärt
"Die Seele so lange läutern, bis sie singt"

Spiritualität war ihm zeitlebens wichtig. Der estnische Komponist Arvo Pärt ist nicht nur musikalisch, sondern auch religiös auf der Suche. Interviews gibt der 81-Jährige nicht mehr. Er will seine Ruhe - und komponieren. Aber es ist viel zu entdecken zur Frage: Wie hält Arvo Pärt es mit der Religion?

Von Burkhard Reinartz | 01.06.2020
Ein alter Mann mit Vollbart und grauem Haar an den Kopfseiten schaut im Porträt nach rechts aus dem Bild.
Der estnische Komponist Arvo Pärt, Mai 2008 (picture-alliance/ dpa)
"So stelle ich mir Musik vor: wie ein Nahrungsmittel, wie ein Feld voll Weizen."
"Musik ist ein Freund, verständnisvoll, empathisch, vergebend, tröstend, ein Tuch, um die Tränen der Traurigkeit zu trocknen, eine Quelle von Freudentränen, aber auch ein schmerzhafter Dorn im Fleisch und in der Seele."
"Ich könnte meine Musik mit weißem Licht vergleichen, in dem alle Farben enthalten sind. Nur ein Prisma kann diese Farben voneinander trennen und sichtbar machen; dieses Prisma könnte der Geist des Zuhörers sein."
"Arvo Pärt ist wahnsinnig populär. Das ist der meistaufgeführte lebende Komponist. Er ist fast schon ein Pop-Star. Ich persönlich höre ihn wahnsinnig gerne. Das ist beruhigend, das ist nachdenklich, das ist wunderschön, das hat Tiefe, das hat besondere Klänge, die er aus allen möglichen Instrumenten herausholt." So Olga Scheps, Pianistin und Pärt-Interpretin.
"Ich finde, was er mit dem Klavier macht, sehr besonders. Aber er hat ja auch ganz neue Klangfarben mit dem Orchester erschaffen. Es gibt wirklich eine ganz eigene Tonsprache bei Arvo Pärt."
Russische Tradition bis Zwölftonmusik
Arvo Pärt wird am 11. September 1935 im estnischen Paide geboren. Mit vierzehn Jahren entstehen seine ersten Werke. 1954 beginnt er, Komposition zu studieren, arbeitet parallel als Tonmeister beim estnischen Rundfunk und schreibt Filmmusiken. Sein Frühwerk orientiert sich an der russischen Tradition eines Sergei Prokofjew und Dimitri Schostakowitsch. Von Mitte der 1960er Jahre an konzentriert sich Arvo Pärt auf serielle Gestaltungsformen und experimentiert mit der avantgardistischen Zwölftonmusik.
Sein umstrittenes Werk "Nekrolog" steigert seinen Bekanntheitsgrad. Die Kommunistische Partei wirft ihm "westliche Dekadenz" vor. Unbefriedigt von der Zwölftonmusik arbeitet Arvo Pärt mehrere Jahre lang mit Collagetechniken, hauptsächlich mit der Musik von Bach. Dann das Werk "Credo", in dem er moderne Kompositionstechniken mit Bach-Zitaten kontrastiert. Pärts offenes Bekenntnis zum Christentum - das gesungene 'Credo in Jesum Christum'- wird als politische Provokation betrachtet und als Angriff auf das Regime.
Musikalisch steckt der Komponist fest, fühlt die Richtung, in die er gehen möchte, findet aber noch nicht die richtige Form.
"Ich musste wieder ganz neu gehen lernen."
Die künstlerische Reifung dauert fast acht Jahre. In dieser Zeit komponiert er kein größeres Werk.
"Um in dieser Krise weiter zu machen, war es, als müsste ich eine Mauer durchdringen. Die Hilfe kam durch einige zufällige Ereignisse. In einem Schallplattenladen hörte ich ein Stück aus dem gregorianischen Repertoire. Darin fand ich eine Welt ohne Harmonien, ohne Metrum, ohne Klangfarbe, ohne Instrumentation. Ohne Alles. Kurz darauf entdeckte ich zum ersten Mal, dass man mit einer einzigen Melodiestimme oft mehr ausdrücken kann als mit vielen. Ich erkannte, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird."
Begegnung mit der Gregorianik
Erst die Begegnung mit der Gregorianik, dann ein Buch in einer Kirche - solche Erlebnisse sollten Arvo Pärts Leben und Arbeit radikal verändern.
"Ich wollte etwas finden, das lebendig, einfach und nicht destruktiv war, eine absolute Melodie, eine nackte Stimme, die die Quelle alles anderen ist. All das fand ich in einem Notenbuch, das ich in einer Kirche in Tallin bekam. Ich begann diese Melodien zu spielen und zu singen. Es war, als bekäme ich eine Bluttransfusion. Ich hatte es geschafft, eine Brücke zwischen gestern und heute zu bauen, ein Gestern, das mehrere Jahrhunderte alt war. In diesen Jahren füllte ich tausende von Übungsseiten. Es war eine fürchterlich anstrengende Arbeit. Der gregorianische Gesang hat mich eins gelehrt: Hinter der Kunst, nur zwei oder drei Noten zu verbinden, steht ein kosmisches Geheimnis. Das haben die typischen Zwölftonkomponisten nicht verstanden. Die sterile Demokratie zwischen den Noten hat jedes lebendige Gefühl abgetötet."
Scheps: "Ich finde das auch ganz besonders spannend, wie Arvo Pärt mit Harmonien arbeitet. Er bedient sich aus verschiedenen Harmonielehren, auch aus der Gregorianik. Er mischt das aber und bricht das gleichzeitig auf mit dissonanten Harmonien."
Neue Kompositionstechnik "Tintinnabuli"
1976 entsteht "Für Alina" - ein kleines Klavierstück. Nach acht Krisenjahren entdeckt Arvo Pärt ein neues kompositorisches Prinzip, das sein Werk bis zur Gegenwart prägen wird. Arvo Pärt nennt die neue Kompositionstechnik "Tintinnabuli". Tintinnabuli - das bedeutet wörtlich übersetzt: "Glöckchen".
"Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. Deshalb habe ich es Tintinnabuli genannt. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer, mit zwei Stimmen, ich baue aus primitivstem Stoff. Dieser eine Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Mit der Tintinnabuli möchte ich gewissermaßen unterstreichen, dass die Wahrheit Gottes ewig währet, ich möchte sagen, dass sie einfach ist. Man möchte direkt zu ihr hingehen. Ich denke, es ist der Klarheit und Einfachheit der Konstruktion zu verdanken, dieser absolut klaren Ordnung, die wir alle bewusst oder unbewusst wahrnehmen. Meiner Meinung nach handelt es sich um Schwingungen, die eine Art Resonanz entstehen lassen. Das ist das Geheimnis von Musik, von jeder Musik."
Arvo Pärt hat mit diesem Werk zu sich gefunden und die Urzelle seiner Arbeit gelegt, die er in den folgenden Jahrzehnten verfeinern und erweitern wird.
Emigration auf Druck der Kommunistischen Partei
Dann wieder ein Bruch in seinem Leben: Im Herbst 1980 schellt ein Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei an der Haustür des Komponisten und legt Arvo und Nora Pärt nahe, das Land umgehend zu verlassen. Ansonsten würden harte Repressalien folgen. Es war bequem für die Machthaber, kritische Künstler aus dem Land zu drängen, ohne sie offiziell auszuweisen. Zwei Wochen später steigen die Pärts in einen Zug nach Wien, wo die Emigranten ein Sammellager erwartet.
Dann eine unerwartete Fügung: Der Komponist Alfred Schnittke informiert den Wiener Universal Edition Verlag, dass die Pärts am frühen Morgen in der Stadt ankommen werden. Eine Mitarbeiterin des Verlags trifft den Komponisten im Bahnhof und bietet ihm die Mitarbeit im Verlag an - und damit die Möglichkeit, österreichischer Staatsbürger zu werden. Nach eineinhalb Jahren in Wien siedelt Pärt, gefördert durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, nach Berlin um.
1984 erscheint die CD "Tabula Rasa", die den Komponisten mit einem Schlag weltberühmt macht. Das Eingangsstück "Fratres", vom Violinisten Gidon Kremer und dem Jazzpianisten Keith Jarrett gespielt, verweist auf eine weitere Eigenart seiner Musik.
"Musik muss durch sich selbst existieren. Das Geheimnis muss da sein, unabhängig von jedem Instrument. Der höchste Wert der Musik liegt jenseits ihrer Klangfarbe."
Weshalb "Fratres" von ganz unterschiedlichen Besetzungen aufgeführt werden kann.
In Berlin und teilweise in Estland entstehen Werke wie "Te Deum", "Stabat Mater", "Miserere", "Lamentate", "In Principio" oder die "Sinfonie Nr.4 Los Angeles". Letztere ist dem aus politischen Gründen zehn Jahre lang inhaftierten russischen Unternehmer Michael Chodorkowski gewidmet.

Der Komponist stößt im Westen auf ein großes Medieninteresse. Schnell entsteht ein Zerrbild, das viele Klischees bedient: bärtiger Mystiker, Mönch mit mittelalterlichem Vokabular, Weltfremdheit.
Vom Publikum geliebt - von den Kritikern als zu schlicht bemängelt
Vom Publikum wird Pärt akzeptiert. Manche Kritiker dagegen bemängeln die angebliche Schlichtheit seines Werks. Den Intellekt beim Musikhören ruhen lassen, still werden und sich emotional auf die Hörerfahrung einlassen, ist nicht jedermanns Sache.
"Wenn sich die Dinge übertrieben komplizieren, wie es oft in der zeitgenössischen Musik vorkommt, so können die Menschen dem musikalischen Gedanken des Komponisten nicht mehr folgen und sie verstehen nicht einmal die wichtigen Neuerungen in der Klangwelt des Komponisten."
Scheps: "Ich hatte das große Glück, was Klassik-Interpreten selten haben, dass man mit dem Komponisten direkt sprechen kann über sein Werk."
Die in Köln lebende russische Pianistin Olga Scheps kommt zur Verleihung des Musikpreises "Echo Klassik" am 06.10.2013 in das Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin.
Die in Köln lebende russische Pianistin Olga Scheps (picture-alliance / dpa / Jörg Carstensen)
Olga Scheps wurde 1986 in Moskau geboren und lebt seit ihrem sechsten Lebensjahr in Deutschland. Im Frühsommer 2016 hat sie mit dem "Estonian National Orchestra" ein Klavier- und Orchesterwerk Arvo Pärts in der Kölner Philharmonie aufgeführt – das "Lamentate" aus dem Jahr 2002. Im Frühjahr 2016 reiste sie zu den Proben nach Estland - und hatte dort die Gelegenheit, den Komponisten persönlich kennen zu lernen:
"Die Komponisten, die ich sonst so spiele, Rachmaninow, Frederic Chopin, Franz List, das ist alles großartige Musik, aber ich muss nur noch interpretieren, ich kann den Komponisten nicht nach seiner Meinung fragen. Er ist ganz oft auf die Bühne gekommen, hat uns viele Tipps gegeben, aber das war nie in so einem Ton, dass wir es anders machen müssen. Er hat eigentlich zwischendurch sehr bildliche Impulse gegeben. Die Lamentate von Arvo Pärt war für mich auch eine Neuentdeckung. Ich hab dieses Stück noch nie gespielt und noch nie vorher ein Klavier- und Orchesterwerk von Arvo Pärt aufgeführt. Ich muss sagen, ich war wirklich sehr beeindruckt von diesem Werk. Als ich diese ganz eigenen Harmonien und diese ganz eigene Tonsprache von Arvo Pärt kennen gelernt hab, das hat mich sehr in den Bann gezogen."
"Tod und Leiden sind die Fragen, die jeden Menschen beschäftigen, der in die Welt geboren wird. Davon, wie er diese Fragen löst oder nicht löst, hängt seine Lebenseinstellung ab – ob bewusst oder unbewusst. So habe ich ein Klagelied geschrieben, ein Lamento, nicht für Tote, sondern für uns Lebende, die es nicht leicht haben, mit dem Leid der Welt umzugehen."
"Ein wahnsinnig schönes Werk"
Scheps: "Ich muss auch sagen, dieses Stück ist abgesehen von dem vielleicht religiösen Inhalt oder dem meditativ tragisch-lamentierenden Inhalt, einfach ein wahnsinnig schönes Werk. Das hat großartige tolle Harmonien, die lange klingen; und man hört einfach gerne hin, man lässt sich von diesem Klang einfach mitreißen."
"Erst wenn ein Ton eine gewisse Intensität und Dauer, einen Puls und Schwingungsgrad erreicht, erst daraus kann sich gleichsam ein Gesang entwickeln - und der Stille ihren Raum geben."
"Ich hatte das Gefühl, als ich dieses Stück interpretiert hab, dass ich die Zeit völlig vergessen habe. Ich hab keine Ahnung, wie lange ich einen Ton gehalten hab. Das Pedal wird durchgehalten - manchmal über zwei Seiten von einem Stück. Und das ist etwas sehr ungewöhnliches, weil als Pianist wechselt man das Pedal sonst in jedem Takt. Aber in diesem Stück ist ganz bewusst so, das so, dass immer mehr Töne in das eine Pedal rein kommen, das heißt, die Töne, die schon einmal angeschlagen wurden, klingen noch mal nach und neue Töne kommen dazu. Und ich muss das einfach sagen, so banal das klingt, das ist total schön."
Olga Scheps sitzt in ihrem Proberaum am Flügel, während sie spricht.
"Mein Flügel ist heute nicht gestimmt worden. Das ist hier keine Studioaufnahme, und ich hab das Stück schon seit einem Jahr nicht mehr gespielt. Aber ich würde gerne ein paar Töne anstimmen, um das ein bisschen zu veranschaulichen, was ich gerade erzählt habe."
"Die Religion spielt eine wichtige Rolle in meiner Komposition, aber ich bin nicht wirklich in der Lage zu sagen, wie es funktioniert. Ich schreibe nur. Ich habe nichts zu sagen. Die Musik sagt, was ich sagen muss. Das Geheimnis der Aktualität von Musik verbirgt sich nicht so sehr darin, wie umfassend der Autor seine Gegenwart wahrgenommen hat, sondern die ganze Existenz mit all ihren Freuden, Sorgen und Geheimnissen. Die Kunst sollte sich mit dem Unvergänglichen und nicht nur mit dem Aktuellen beschäftigen."
Arbeit noch im fortgeschrittenen Alter
Arvo Pärt gibt seit einigen Jahren keine Interviews mehr. Er lebt wieder in Estland. Zurückgezogen. Er arbeitet auch im fortgeschrittenen Alter von über achtzig Jahren weiter an neuen Werken.
In der Begründung zur Verleihung des "Internationalen Brückepreises" heißt es: "In seinem Schaffen treffen sich Traditionen aus dem östlich-orthodoxen, dem römisch-katholischen und dem protestantischen Europa und bereichern sich wechselseitig. Es gelingt ihm, eine Brücke zwischen Ästhetik, Ethik und Spiritualität zu schlagen und Elemente der Musiksprache des Ostens in die Konzertsäle des Westens einzubringen. Pärt schärft so den Sinn für die menschliche Gemeinsamkeit und leistet damit einen Völker verbindenden, Frieden stiftenden Beitrag für die Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kulturen."
"Ich war auf der Suche nach einer Klanginsel, auf der Suche nach einem "Ort" in meinem tiefsten Inneren, in dem – sagen wir so - ein Dialog mit Gott entstehen könnte. Ihn zu finden, wurde zu einer lebenswichtigen Aufgabe. Es ist für mich eine große Versuchung, diese kostbare Insel in der inneren Verborgenheit unserer Seele als den Ort anzusehen, über den uns vor über 2000 Jahren gesagt wurde, dass Gottes Reich dort sei, nämlich in unserem Inneren - unabhängig davon, ob wir alt oder jung sind, reich oder arm, Frau oder Mann, farbig oder weiß, begabt oder weniger begabt. Und so versuche auch ich bis heute, mich auf diesem Pfad zu halten, auf dieser Suche nach der "Zauberinsel", wo alle Menschen – für mich auch alle Klänge – in Liebe miteinander leben könnten. Die Türen dorthin sind für jedermann geöffnet. Aber der Weg dorthin ist schwierig – schwierig bis zur Verzweiflung."
(Die Zitate Arvo Pärts sind unterschiedlichen, auch ausländischen Quellen entnommen: Interviews, Zeitungsartikel, Musik-Reflexionen. Diese Sendung wurde erstmals am 17.04.2017 in der Sendung "Tag für Tag" ausgestrahlt)