Diese Liebe zu Frankreich und zur französischen Sprache, die er perfekt beherrschte, hat ihn allerdings nicht daran gehindert, die politischen und sozialen Zustände des Landes überaus realistisch, also frei von Idealisierung und falscher Bewunderung, wahrzunehmen. Denn trotz aller Nähe zum Objekt seines Begehrens wusste Baier, dass Distanz die Voraussetzung von Wahrnehmung ist. Sein 1988 erschienenes Buch mit dem ironischen Titel Firma Frankreich – eine Betriebsbesichtigung zog eine im Wesentlichen ernüchternde Bilanz der ersten Jahre der sozialistischen Regierungsära unter Francois Mitterrand. Baier, der linke Intellektuelle, der wie so viele andere den Wahlsieg der Sozialisten Anfang der achtziger Jahre vorbehaltlos begrüßt hatte, stieß sich zunehmend an den bombastischen Selbstinszenierungen dieser Politik, an dem falschen Pathos und dem Kulturrummel, die so gar nicht zu den eher bescheidenen sozialen Errungenschaften und faulen Kompromissen passen wollten, die das linke Regime mit den Kräften des konservativen Frankreich einging.
Der Betrieb, so Baiers Befund, funktionierte im Großen und Ganzen weiter so, wie er auch vorher funktioniert hatte. Weit davon entfernt, nur aus schöngeistiger Perspektive unser Nachbarland zu betrachten, nahm Baier auch scharf den französischen Kapitalismus und dessen ganz spezifische Verquickungen mit den Agenturen und Eliten des Zentralstaates in den Blick. Es war ein enttäuschter Blick.
Bereits ein paar Jahre früher, 1982, hatte Baier mit seinen Französischen Zuständen ein grundlegendes Frankreich-Buch vorgelegt, das bis heute zum Besten und Genauesten zählt, was es auf diesem Gebiet in Deutschland gibt. Erst mit diesem Buch im Gepäck lernten nicht wenige von uns, Frankreich und seine neuere Geschichte differenzierter zu sehen – ein Land mit seinen Widersprüchen zwischen Kapitale und Provinz, Pariser Zentralismus und lokalem Eigensinn, kapitalistischer Moderne und ländlicher Zurückgebliebenheit, aufklärerisch-revolutionärer Tradition und finsterem Rechtspopulismus und Xenophobie. Immer auch mit komparativem Blick auf die deutschen Zustände schildert Baier die Befindlichkeiten eines Landes, das sich bis heute schwer damit tut, als einstige Kolonial- und Großmacht seinen Platz in Europa und der Welt zu definieren.
Was an diesen Frankreich-Reportagen und -Analysen auffällt, ist der Wille zur Konkretion und Bestimmtheit. Baier schrieb nicht über die Pariser Intellektuellen, über die kommunistischen Schriftsteller oder über den Antisemitismus in Frankreich, sondern über ganz bestimmte Leute und einen ganz konkreten Antisemitismus. Das heißt, er unterzog sich der Mühe, die Leute und die Dinge jeweils auseinander zu halten. Das macht sein Buch im höchsten Maße glaubwürdig und lesenswert. Natürlich schrieb er auch über Sartre, einen seiner literarischen Fixsterne, aber nicht über Sartre schlechthin, sondern über dessen Flaubert-Biographie, der er ein enthusiastisches Kapitel gewidmet hat. Und was man schließlich bei Baier nicht genug hervorheben kann, ist, dass sein Blick auf Frankreich nicht von metropolitanen Pariser Vorurteilen und Gerüchten geprägt war, sondern von einer ganz unverkrampften Zuneigung zur französischen Provinz. Zum Beispiel zu Okzitanien, das er mehrfach bereist hat:
Es ist eine karge und raue Landschaft, der Sonne und dem Mistral ausgesetzt, der häufig viele Tage lang aus Norden bläst und die Erde ausdörrt. Nur in den Tälern und Senken, wo sich Kalkerde zwischen Erosionsbrüchen halten kann, gibt es Landwirtschaft. Tatsächlich wurde dort schon vor zweitausend Jahren Wein angebaut, und griechische Kaufleute aus Marsaille ließen sich hier Landhäuser bauen, aus denen im Lauf der Jahrhunderte Weiler und Dörfer entstanden. (...) Man kann stundenlang über die versteppten Hügel gehen, ohne einem Menschen zu begegnen. Aber man kaum ein paar Schritte tun, ohne auf die Spuren menschlicher Arbeit zu stoßen. Dort, wo sich ein kleiner Pinienwald den Hügel hinaufzieht, wurden vor einem halben Jahrhundert vielleicht noch Reben geschnitten und wurde Lavendel geerntet; die Terrassierung ist noch deutlich zu erkennen. (...) Manchmal ist der Anblick der verlassenen, versteppten Hügel für mich nicht leicht zu ertragen; er stellt eine Herausforderung dar, die ich nur in Umrissen erkennen, der ich mich aber nicht entziehen kann.
Okzitanien, jener große südwestliche Landstrich Frankreichs zwischen Albi, Toulouse und Narbonne, der Baier wohl besonders fasziniert und dessen geschichtlichen Humus er gründlich umgegraben hat, war im 12. Jahrhundert Schauplatz einer antikatholischen religiösen Häresie, der Baier 1984 eine eigene Untersuchung gewidmet hat. In Die große Ketzerei schildert er den Aufstieg der Katharer zu einer spirituellen Macht, die weit in den europäischen Raum ausstrahlte, ehe sie der Verfolgung durch Kirche und Wissenschaft zum Opfer fiel. Die Vernichtung der Katharer war für Baier nicht bloß eine religionspolitische Katastrophe, sondern auch der Weg zur Bildung des französischen Nationalstaates. Unverkennbar gehören die Sympathien des Autors einer Dissidentenbewegung, die zumindest im historischen Rückblick für regionale Autonomie und für das Recht auf Eigensinn steht. Dieses Buch, heißt es am Ende der Einleitung, wäre nicht zustandegekommen "ohne den Anstoß der Empathie, der im Willen zum Wissen nicht aufgeht". Man kann es auch heute noch jedem historisch und politisch interessierten Leser uneingeschränkt empfehlen.
1985 veröffentlichte Baier die Erzählung Jahresfrist. Sie berichtet von einem Mann, einem Deutschen, der sich aus dem Betrieb zurückzieht und sich eine Auszeit nimmt, indem er in einer entlegenen Gegend von Frankreich ein altes Gemäuer kauft, das er mühevoll restauriert. Im ständigen inneren Zwiegespräch mit dem kommunistischen Schriftsteller Paul Nizan, der zu Beginn des Frankreichfeldzugs bei Dünkirchen fiel, sucht der Ich-Erzähler nach einer haltbaren Orientierung, nach politischer und moralischer Klarheit jenseits einer von Kleinlichkeit, Enge und Opportunismus limitierten Existenz. Es ist am Ende die Geschichte eines Scheiterns, die Baier erzählt, und den Satz Nizans, den er in seinem Buch zitiert, kann man getrost auf ihn selber münzen:
Er war bis zu jenem Grad der Einsamkeit gelangt, an dem die Bande so endgültig zerschnitten sind, dass es nicht mehr möglich ist, unter den Menschen Fuß zu fassen.
Lothar Baier hat trotz allem unaufhörlich versucht, unter den Menschen Fuß zu fassen, auch wenn es ihm immer schwerer fiel. Die Wiedervereinigung der Deutschen hat ihm in der rüden Art und Weise, wie sie betrieben wurde, wenig behagt, wovon sein 1990 erschienenes Buch Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland Zeugnis ablegt. Auf das Thema einer immer knapper werdenden Zeit kam er später in anderem Zusammenhang noch einmal zurück, in dem Band Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, den er im Jahr 2000 veröffentlichte. Darin findet sich, exemplifiziert an einer Reihe historischer und aktueller Befunde, die zugespitzte Diagnose, der heiße Zeitkern der globalisierten kapitalistischen Zivilisation bestehe in der hybriden Ineinssetzung von Lebenszeit und Weltzeit. Weil wir, wie schon Walter Benjamin beklagte, nicht mehr "über Saisonabschlüsse hinaus" denken und fühlen könnten, weil wir alles nach dem Maßstab der eigenen kurzen Lebenszeit gemäß dem Motto "Nach uns die Sintflut" berechneten, sei die westliche Zivilisation in ihrem Innern letztlich apokalyptisch und suizidal. Gerade dieses Buch Baiers verdient immer noch aufmerksame Leser.
Lothar Baier war ein vielgereister Schriftsteller. In seinen letzten Jahren zog es ihn immer stärker ins frankophone Kanada, wohin er zum Schluss, nach Montréal, übersiedelte. Hatte er uns in den siebziger und achtziger Jahren Frankreich erklärt, so erklärte er uns jetzt einen noch viel unbekannteren Kontinent. Erst durch ihn erfuhr der deutsche Leser etwas von der Existenz einer französischsprachigen Kultur und Literatur, die inmitten einer anglophon geprägten Mehrheitskultur und -literatur blüht. Lothar Baiers persönliche politische Utopie, wenn man so will, sein Traum von einem menschenwürdigen Leben lag in der konkreten Vorstellung eines Neben- und Miteinander des Unterschieds.
Was er in Ostmitteleuropa durch die Katastrophen des 2o. Jahrhunderts, durch Rassismus, Nationalismus und Krieg, zerstört sah – die lebendige Koexistenz und Vermischung diverser Kulturen, Sprachen und Literaturen –, glaubte er im Mikrokosmos der Stadt Montréal wiedergefunden zu haben, wenigstens ein Stückchen davon. In seinem Buch Ostwestpassagen aus dem Jahr 1995 hat Baier, selber Immigrant unter russischen, polnischen und jüdischen Immigranten, diese Erfahrung eindrucksvoll festgehalten. Man täte Baier im übrigen Unrecht, wenn man seine Utopie, die auf die Vollendung der politischen, sozialen und kulturellen Integration des Fremden zielt, mit jenem billigen folkloristischen "Multikulturalismus" verwechselte, der hierzulande eine gewisse Popularität erlangt hat.
Zeit ist, wie uns von den gesellschaftlichen Bewusstseinsagenturen ständig eingehämmert wird, eine knappe Ressource, weshalb wir bekanntlich auch keine mehr haben. Beim Lesen und Wiederlesen der Bücher von Baier merken wir aber plötzlich, wieviel Zeit wir haben, und vor allem, dass diese Lektüre-Zeit erfüllt ist. Der Schriftsteller Lothar Baier ist tot. Wir verdanken ihm mehr, als sich an dieser Stelle sagen lässt.