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Konfessionalismus in Afghanistan
Terror gegen Schiiten

In Afghanistan sind in den vergangenen Jahren Schiiten vermehrt Opfer von Anschlägen geworden. Verantwortlich dafür soll vor allem ein Ableger des Islamischen Staats sein. Experten befürchten einen konfessionellen Konflikt – und die Schiiten fühlen sich von ihrer Regierung allein gelassen.

Von Florian Guckelsberger | 08.01.2020
Ein fahnengeschmückter schiitischer Friedhof außerhalb der afghanischen Hauptstadt Kabul
Immer wieder werden in Afghanistan Schiiten ermordet (Deutschlandradio / Florian Guckelsberger)
Rund 70 Jugendliche trainieren im Ringerklub Maiwand, im Westen der afghanischen Hauptstadt Kabul. In der Mitte des Raums steht Qambar Sultani, ein 58-Jähriger mit breiten Schultern und festem Händedruck. Er leitet das Training der Jugendlichen. "Ein guter Ringer ist stark und schnell," sagt Sultani.
Zwei Eigenschaften, die sein Trainerkollege Maalim Abbas vor anderthalb Jahren unter Beweis stellte. Denn an diesem Tag, im September 2018, wird der Sportverein von Terroristen angegriffen. Abbas hält dem ersten Angreifer geistesgegenwärtig die Tür zu, und so explodiert dessen Sprengstoffgürtel vor der Halle. Sultani selbst überlebt diese Nacht wohl nur, weil er verwundete Freunde ins Krankenhaus begleitet. Denn wenig später explodiert eine zweite Bombe vor der Sporthalle. 26 Menschen sterben.
"Die Schüler sind wie unsere eigenen Kinder. Niemand hatte das erwartet. Warum sollte man Sportler angreifen?"
Später reklamiert der selbsternannte Islamische Staat Khorasan, der regionale Ableger des IS, den Angriff für sich. Und beantwortet die Frage von Trainer Sultani nach dem Warum: Der Angriff galt Afghanistans Schiiten, in deren Stadtviertel der Ringerklub liegt.
Konfessionalismus war bislang kein Problem
Kabul ist die größte Stadt des Landes, rund fünf der 35 Millionen Afghanen leben hier. Wie viele Teile des Vielvölkerstaats ist die Hauptstadt ein Mix verschiedener Ethnien. Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazara. Letztere sind überwiegend Muslime schiitischen Glaubens, im Unterschied zur sunnitischen Mehrheit der Afghanen. Eine Tatsache, die der IS nutzen könnte, sorgen sich Analysten wie Hekmatullah Azamy. Azamy arbeitet am Centre for Conflict & Peace Studies, einem dem ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai nahestehenden Thinktank, und warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft entlang religiöser Bruchlinien:
"Afghanistan mangelt es nicht an Problemen. Krieg, Bürgerkrieg, über Jahre und Jahrzehnte. Doch eines hatten wir nie: Konfessionalismus. Wenn wir nicht alle gemeinsam diese Ideologie bekämpfen, droht uns am Ende das Schicksal von Syrien oder Irak."
Aufgegebene und verrostete Panzer stehen in der afghanischen Landschaft
Afghanistan ist seit Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg zerrüttet (Deutschlandradio / Florian Guckelsberger)
Denn nach anfänglichen militärischen Erfolgen 2015, steht der IS auch in Afghanistan unter enormen Druck und verlegt sich zunehmend auf medienwirksame Bombenanschläge in der Hauptstadt Kabul. Die richten sich oft gezielt gegen schiitische Einrichtungen und fordern einen hohen Blutzoll.
Laut Statistik der Vereinten Nationen haben im Jahr 2018 mehr als 220 Menschen durch anti-schiitische Anschläge ihr Leben verloren, fast 550 wurden verletzt. Damit sind innerhalb eines Jahres so viele Schiiten ermordet worden wie in den Jahren 2016 und 2017 zusammen. Ein Trend, der sich für Azamy nicht nur im Entstehen des afghanischen Ablegers des IS begründet, sondern für den er auch die Taliban verantwortlich macht:
"Es gab immer anti-schiitische Elemente bei den Taliban, aber ihre Führung hat sich nicht öffentlich distanziert von ihnen – aus Angst vor einer Spaltung der Bewegung. Und 2015 bekamen diese Elemente dann die Gelegenheit, sich unter dem Label Islamischer Staat neu zu formieren. Seitdem eskalieren die Angriffe auf Schiiten im Land."
Terror gegen Schiiten
Ein Friedhof etwas außerhalb Kabuls, auf einem kleinen Hügel. Ein kräftiger Wind bläst in die schwarzen, roten und grünen Fahnen, die die Ruhestätte rahmen. Hier liegen Menschen begraben, die 2016 ihr Leben verloren. Menschen, von denen viele dem Hazara-Aktivisten Ahmad Behzad nahestanden:
"Wer einen Funken Menschlichkeit in sich trägt, muss angesichts der Gräber doch verstehen, warum wir Hazara das jetzige System ablehnen. Erst gestern haben wir die sterblichen Überreste eines getöteten Demonstranten auf den neuen Friedhof übergeführt."
Der Hazara-Aktivist Ahmad Behzad
Ahmad Behzad macht der afghanischen Regierung schwere Vorwürfe (Deutschlandradio / Florian Guckelsberger)
Was war geschehen? An einem Sommertag vor drei Jahren hat ein großer Protestzug Kabul in Beschlag genommen. Angeführt von Behzad und seiner schiitischen Aufklärungsbewegung, zogen tausende Menschen durch die Stadt und fordern ein Ende der anti-schiitischen Diskriminierung.
Und inmitten dieses Protestzugs zünden zwei Selbstmordattentäter ihre Sprengwesten. 80 Menschen sterben, 230 weitere werden teils schwer verletzt. Behzad ist angesichts solcher Anschläge überzeugt, dass die von Sunniten dominierte Regierung des Landes zu wenig zum Schutz der Hazara unternimmt – und so zur Unterdrückung und Diskriminierung schiitischer Afghanen beiträgt:
"Wir glauben, dass durch die Anschläge Druck auf uns ausgeübt werden soll, denn wir haben in den vergangenen Jahren unsere demokratischen Rechte und Teilhabe eingefordert. Es geht nicht um einzelne Angriffe, bei diesem schmutzigen Spiel geht es um mehr."
"Wir glauben, die Anschläge waren abgesprochen"
Behzad glaubt, dass sich führende Politiker mit den Taliban gut stellen, jetzt wo die Amerikaner direkt mit den Taliban verhandeln und sogar eine Regierungsbeteiligung der Islamisten denkbar scheint:
"Manche Regierungspolitiker haben dubiose Verbindungen zu Terrorgruppen, und seit der Friedensprozess gestartet ist, haben einige Politiker ihre Verbindungen zu den Taliban intensiviert. Wir glauben, dass einige der Anschläge auf schiitische Einrichtungen abgesprochen und koordiniert waren."
Vor solchen Aussagen warnt Politikanalyst Hekmatullah Azamy. Das Verbreiten von Verschwörungstheorien vertiefe die ethnischen und konfessionellen Gräben nur weiter:
"Wir müssen uns gegen Konfessionalismus aus jeder Richtung stemmen. Auch wenn schiitische Gruppen die Spannungen für ihre politischen Ziele nutzen und so die Gräben in der Gesellschaft weiter vertiefen. Das ist weder im Interesse der Schiiten noch von uns Sunniten."
"Die Regierung kann nicht mal sich selbst schützen"
Hellblau strahlt die Kuppel der Kabuler Daimirdadiha-Moschee. Im Hauptraum des Gotteshauses sitzen rund 200 Männer aus dem umliegenden Viertel und lauschen dem Mullah. Unter den kratzigen Sound des Verstärkers mischt sich vielstimmiges Schluchzen. Wie es Brauch ist an Arbaeen, gedenken die Schiiten der für sie gebrachten Opfer. Wiederholt wurden auch solche religiösen Feste zum Ziel von Anschlägen.
"Bis zu fünf Wachleute sichern die Moschee. Die Waffen stellt die Regierung, aber ein Teil ihrer Bezahlung kommt von uns."
Schluchzende Männer sitzen in der Kabuler Daimirdadiha-Moschee
Die afghanischen Schiiten leiden unter dem Terror (Deutschlandradio / Florian Guckelsberger)
Haji Noori ist der Gemeindevorsteher, 76 Jahre alt und erinnert sich an eine Zeit ohne Krieg. Er sieht nicht mehr gut – und doch will er seinen Beitrag leisten:
"Die Regierung kann sich nicht mal selbst schützen. Könnte sie es, müssten nicht alte Menschen wie ich sich um die Sicherheit kümmern und während des Trauermonats unser Viertel Tag und Nacht bewachen."
Ringen gegen den Terror
Der Ringerklub Maiwand im Westen Kabuls wurde indessen wieder aufgebaut. In drei Schichten trainieren dort junge Afghanen. Qambar Sultani, ihrem Lehrer, ist eine Sache besonders wichtig:
"Hier trainieren Ringer aller Ethnien. Usbeken, Hazara, Tadschiken und Paschtunen. Es gibt keine Diskriminierung."
Zwei Männer ringen im Trainingsraum des Ringerklubs Maiwand in Kabul miteinander
Die Sportler im Ringerklub Maiwand lassen sich vom Terror nicht einschüchtern (Deutschlandradio / Florian Guckelsberger)
Die Wochen und Monate nach dem Doppelanschlag waren hart. Doch es dauerte nicht lange, und Eltern schickten ihre Kinder ganz bewusst hierher zurück, erinnert sich Sultani:
"Sie wollen ein Zeichen setzen und sich nicht einschüchtern lassen."
Heute, ein Jahr nach dem Anschlag des IS, trainieren hier mehr als doppelt so viele Jugendliche wie zuvor.