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Konfliktherd und Touristenparadies

Als Gott die Welt erschuf und sie unter den Völkern aufteilte, behielt er Abchasien zunächst für sich - so schön fand er den Flecken am Schwarzen Meer. Doch weil ihm die Abchasen so gastfreundlich schienen, überließ Gott ihnen, was er eigentlich für sich reserviert hatte. So erzählen es die Abchasen. Der Landstrich, ehemals Teil der Georgischen Sowjetrepublik, galt als Cote d'Azur der Sowjetunion. Hunderttausende kamen jeden Sommer in das Urlaubsgebiet.

Eine Sendung von Gesine Dornblüth, Redakteur: Henning von Loewis |
    Diese Zeiten sind vorbei. In den 90er-Jahren erklärten sich die Abchasen für unabhängig, es kam zum Krieg mit Georgien, das Ferienparadies wurde zerstört. Seitdem möchte Georgien Abchasien zurückholen.

    In ihren Unabhängigkeitsbestrebungen werden die Abchasen von Russland unterstützt. Im vergangenen Jahr hat Russland Abchasien als unabhängigen Staat anerkannt und damit den Zorn der EU auf sich gezogen. Abchasien ist damit ins Zentrum der Weltpolitik gerückt. Für die Abchasen jedoch steht fest: Mit Georgien nie wieder. Und die Leute vor Ort wollen vor allem eines: Dass endlich die Urlauber zurückkommen.

    Abchasien am Schwarzen Meer

    Erholung auf sowjetisch. Besuch im Sanatorium "Tscheljuskin"


    Der Direktor eines Sanatoriums über den abchasischen Kurort Gagra:

    "Das hier ist ein Paradies, und die Menschen hier müssen schön und in Würde leben. Sie leben, wie sie können. Gut, die Zeiten sind schwer. Der Krieg ist ja noch nicht lange her. Aber es wird viel getan. Wir sollten nicht über Politik reden."

    Und der Leiter einer Waffenfabrik über die Zukunft Abchasiens:

    "Eins steht fest: Zu Georgien werden wir nicht mehr gehören. Weder in einem Föderalen Staat, noch als Autonome Republik. Warum das immer alle verlangen, verstehe ich nicht."

    Gesichter Europas. Konfliktherd und Touristenparadies - Abchasien am Schwarzen Meer. Eine Sendung von Gesine Dornblüth.

    Kräftig brandet das Meer gegen den Strand von Gagra. Einige Wagemutige tasten sich mit nackten Füßen über die glutheißen Steine, dem Wasser entgegen, rutschen ein wenig, lassen sich dann ungelenk in die Wellen fallen. Ein sanfter Wind weht durch die Palmen, dahinter erheben sich Zypressen kerzengerade in den blauen Himmel. Hier und da hängt eine Wolke zwischen den sattgrünen Bergen. Sommerurlaub am Schwarzen Meer, in Abchasien.

    Boris liegt auf einer Matte, neben sich zwei Flaschen abchasischen Rotwein, die eine noch voll, die andere bereits geleert. Er kommt aus Russland, aus Tula, einer Stadt etwa 150 Kilometer südlich von Moskau, arbeitet dort als Taxifahrer. Jetzt guckt er seiner Freundin beim Baden zu.

    "Wir sind seit sieben Tagen hier und haben schon viele Ausflüge gemacht. Am Strand sind wir gar nicht so oft. Wir waren am Ritsa-See, das war sehr schön, und in den Höhlen von Neu Athos. Das war ein unvergessliches Erlebnis, das müssen Sie unbedingt sehen. Es sind neun Höhlen, voll mit Stalaktiten und Stalagmiten. Man muss das mit eigenen Augen sehen, es ist unbeschreiblich. Die Natur ist hier einfach wunderschön. Berge, Meer, Palmen – es gibt alles, alles war das Herz begehrt."

    Boris schöpft mit den Händen Sand über seine braungebrannten Füße.

    "Ich hatte die Wahl, in die Ukraine oder nach Abchasien zu fahren, und ich habe mich für Abchasien entschieden, weil die hiesige Bevölkerung Russland lieber mag. Im Oktober komme ich wahrscheinlich noch mal. Abchasien ist Russland freundlich gesonnen, deshalb ist es kein Risiko hier herzufahren."

    "Freundlich gesonnen" ist untertrieben. Die Abchasen sind den Russen zutiefst dankbar. Denn im letzten Jahr hat Russland Abchasien als unabhängigen Staat anerkannt. Abchasien ist ein Landstrich, etwa halb so groß wie Schleswig-Holstein. In der Zeit der Sowjetunion gehörte er zur Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien. Als die Sowjetunion auseinander brach und Georgien sich für unabhängig erklärte, zogen die Abchasen nach und erklärten sich ihrerseits für unabhängig. Sie wollten nicht zu einem unabhängigen Georgien gehören.

    Die Georgier aber wollten die Abchasen nicht ziehen lassen. Es kam zum Krieg. Der endete 1994 mit einem Waffenstillstand. Da waren bereits 200.000 Georgier aus Abchasien vertrieben worden. 16 Jahre existierte der Pseudo-Staat, ohne dass irgendein Land der Welt Notiz davon nahm. Das änderte sich, als im August letzten Jahres der Krieg zwischen dem zweiten Separationsgebiet Südossetien und Georgien ausbrach. Nach 16 Jahren erkannte Russland die beiden Regionen, Südossetien und Abchasien, als Staaten an.

    Außer Russland hat das bisher nur Nicaragua getan. Die Russen sind deshalb besonders gern gesehene Gäste in Abchasien. Auch Olga kommt von dort, aus Perm im Ural, sie ist Friseurin. Gerade ist sie mit ihrem Mann in Gagra angekommen. Zweieinhalb Tage Zugfahrt liegen hinter ihr, jetzt steht sie im Bikini am Strand und blickt abwechselnd auf das kalk-blaue Meer und die grünen Berge.

    "Sehen Sie doch selbst, wie schön es hier ist. Eine Freundin hat uns gesagt, dass die Lage hier ruhig ist. Und damit stand für uns fest, dass wir hier her fahren müssen. Nach Gagra, unsere Perle. Der schönste Platz der Welt. Unsere Seele. Früher sind wir immer auf die Krim gefahren. Hier ist das Meer anders. Die Natur. Das Klima, die Menschen, die Küche. Alles ist anders. Die Palmen, die Luft."

    Knapp 40 Sanatorien sind in Gagra derzeit in Betrieb, viele stehen leer. Olga und ihr Mann wohnen im Sanatorium mit dem Namen "Tscheljuskin". Eine Zypressenallee führt zum Eingang. Tscheljuskin hieß ein sowjetisches Forschungsschiff, das in den frühen 30er-Jahren bei einer Expedition ins Nordpolarmeer sank. Das gleichnamige Sanatorium wurde nur wenige Jahre später erbaut, direkt am Meer. Vier Stockwerke, die Fensterrahmen bröckeln, über den Balkonbrüstungen trocknen Handtücher.

    Hinter einem Sperrholztisch sitzt die Empfangsdame. Sie hat nur wenig zu tun. Die russischen Schüler, die in der vorigen Woche zur Matheolympiade da waren, sind bereits abgereist, die russischen Hochbegabten, die sich in Gagra auf ihr Studium vorbereiten wollen, kommen erst in einigen Tagen. Ein freies Zimmer ist deshalb kein Problem. Der Direktor, ein eleganter Herr in tadellos gebügeltem Hemd, lässt es sich nicht nehmen, den Gast persönlich zum Zimmer zu begleiten. Das Treppenhaus riecht ein wenig nach Katzenpisse, ein wenig nach Terpentin. Die Sitzecke auf der Etage zeugt von besseren Tagen, müsste dringend neu bezogen werden. Und in den Sperrholzbetten haben auch schon Sowjeturlauber geschlafen.

    Sowjetisch ist auch das kollektive Mittagessen, pünktlich um eins.

    Der Speisesaal ist in der obersten Etage. Ein Fernseher läuft, der russische Staatskanal zeigt die unvermeidliche Dokumentation über Hitler. Niemand schaut hin. Elena Patrachowa stochert etwas lustlos in dem Rest Reis auf ihrem Teller, ihr Sohn beißt in einen Apfel. Vorher gab es ein Stück Fisch mit kalten eckigen Erbsen, dann Gemüsesuppe, schließlich Reis mit schwer zu bestimmendem rötlich-beigen Fleisch. Dazu ein Glas Kompott. So heißt hier der zum Konzentrat eingekochte und dann mit Wasser verdünnte Obstsaft. Mutter und Sohn kommen aus St. Petersburg.

    "Das Essen hier ist sowjetisch. Abends gehen wir deshalb auswärts essen. Die abchasische Küche schmeckt uns sehr. Da gönnen wir uns einiges. Der Urlaub ist hier billiger als anderswo. Ehrlich gesagt, wurden bei uns in Petersburg die Löhne gekürzt. Den Urlaub hier können wir uns trotzdem leisten."

    Elena Patrachowa war schon als Jugendliche in Abchasien, als die Sowjetunion noch existierte. Damals war das Leben vom Staat organisiert, auch die Ferien. Der Gewerkschaftsbund schickte die Arbeiter gruppenweise zur Erholung, und zwar vorzugsweise in die Heime und Sanatorien nach Abchasien. Wer gut arbeitete oder Beziehungen hatte, durfte im Sommer fahren, die anderen im Winter. Abchasien galt als Cote d' Azur der Sowjetunion. Selbst die Sowjetführer hatten hier Datschen. Mit dem Krieg Anfang der 90er-Jahre brach der Tourismus in Abchasien zusammen. Elena Patrachowa legt die Gabel zur Seite.

    "Leider sehen die alten Sanatorien jetzt alle verlassen aus. Und neue habe ich noch nicht entdeckt. Mir scheint, die Bevölkerung lebt schlechter als damals, zu Sowjetzeiten. Aber das Meer ist dasselbe, das Klima ist dasselbe, man erholt sich gut. Wir genießen das Meer, liegen herum, gehen spazieren, sammeln Krebse."

    Nach dem Mittagessen lädt der Direktor an die Strandbar ein. Tische und Stühle hat eine russischen Brauerei geliefert. Khadschik Minosjan bestellt grünen Tee und Apfelsaft. Er leitet das Sanatorium seit acht Jahren.

    "Wir müssen unseren Service schrittweise verbessern. Mein Sanatorium ist bescheiden, aber wir versuchen, jedes Zimmer mit einer Klimaanlage, einem Fernseher, und einem Kühlschrank auszustatten. Denn dauernd schwärmen alle davon, was für schöne Hotels es im Ausland gibt, in der Türkei vor allem! Mit denen können wir nicht mithalten. Kommt ein Mann zum Hodscha Nazzredin und sagt: Hodscha, ich habe 30 Probleme. Hilf mir! Fragt der Hodscha: welches denn zum Beispiel? - Hodscha, ich habe kein Geld. - Alles klar, wenn du Geld hättest, hättest du keine weiteren Probleme. Du brauchst nur Geld. Geld hat man nie genug."

    Minosjan blickt auf das Meer. Am Strand bauen drei Jungs Burgen aus Steinen. Abends, vor Sonnenuntergang, kann man vor der Küste Delfine beobachten. Einige Meilen weiter liegen Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte vor Anker. Sie sollen die Georgier von einem Angriff auf Abchasien abhalten. Die Schiffe sind außer Sichtweite. Und auch sonst ist in Gagra wenig vom Konflikt zu spüren. Vom Krieg in den 90er-Jahren blieb der Kurort verschont. Die Kämpfe begannen weiter südlich, nahe der Hauptstadt Suchumi. Dort wurde etwa die Hälfte der Bevölkerung vertrieben, die georgischen Häuser niedergebrannt, in die, die stehen blieben, zogen Abchasen ein. Bis heute liegen ganze Straßenzüge in Ruinen.

    "Hier ist es zu schön, um aufeinander zu schießen. Das ist ein Verbrechen gegenüber Gott. Hier muss man schön leben. Freundschaften pflegen. Einander verzeihen können. Dann kommen auch die Urlauber wieder. Und dann werden die Menschen hier gut leben. Das hier ist ein Paradies, und die Menschen hier müssen schön und in Würde leben. Mehr kann man nicht sagen. Das ist eine schöne Gegend hier. Und auch die Menschen sind schön. Sie arbeiten. Sie leben, wie sie können. Gut, die Zeiten sind schwer. Der Krieg ist ja noch nicht lange her. Aber es wird viel getan. Wir sollten nicht über Politik reden. Für Konflikte sind immer nur die Politiker verantwortlich. Kein Volk, keine Nation, will Konflikte. Fragen Sie einen Bauern in Georgien, ob er Krieg will. Er will es nicht. Kein Armenier will es, kein Abchase will es, kein Aserbaidschaner."

    In Abchasien leben viele Völker, darunter, Griechen, Ukrainer, Esten, Russen, dazu Georgier. Die wurden zu Sowjetzeiten von Stalin angesiedelt, nahmen schnell Führungspositionen ein und machten sich in Abchasien unbeliebt, unter anderem, weil sie die abchasische Sprache aus den Schulen verbannten. Khadschik Minosjan ist Armenier. Im Krieg Anfang der 90er-Jahre waren die meisten Armenier auf der Seite der Abchasen.

    "Das abchasische Volk hat viele sehr schöne Traditionen. Sie haben ihren eigenen Moralkodex. Natürlich legt die Jugend den allmählich ab. Aber vieles gibt es noch. Man sieht zum Beispiel nie, dass ein jüngerer Mensch sitzt, während ein älterer steht. Nie. Sie haben so etwas Erhabenes, Schönes. Fazil Iskander hat über diese abchasischen Traditionen geschrieben. In seinem Buch "Onkel Sandro aus Tschegem". Er ist stolz auf Abchasien, und das ist auch gut so. Er schreibt schön. Sehr schön. Über Menschlichkeit. Über das Gute im Menschen. Über Anstand. Über die schönen Traditionen seines Volkes."

    An jenem Morgen saß Onkel Sandro mit seinem Freund Micha am Frühstückstisch. Sie aßen kaltes Fleisch mit heißem Maisbrei. Onkel Sandro schnitt das Fleisch in angenehme Häppchen, bestrich die Fleischhäppchen mit Senf und beförderte sie in den Mund. Dann wurde etwas Maisbrei hinterhergeschickt, über den zuvor Schlehdorntunke gegossen worden war. Von Zeit zu Zeit goss der Hausherr Rotwein in die Gläser nach.
    An diesem Tag war vor dem Haus des Dorfältesten eine Versammlung angesetzt. Die erwachsene Bevölkerung männlichen Geschlechts war zum Erscheinen aufgefordert.

    Onkel Sandro und Micha traten auf die Straße hinaus. Vom Meer her wehte eine frische Brise. Nach einiger Zeit holten sie einen Ochsenkarren ein. Der Lenker war Kunta Margania, der früher einmal als Viehhirt gearbeitet und im Haus von Onkel Sandros Vater gelebt hatte. Nach den üblichen Fragen nach der Gesundheit der Anverwandten lebte Kunta plötzlich auf. "Haben Sie schon gehört?", fragte er und blickte Onkel Sandro in die Augen.

    "Fragt sich was", sagte jener.
    "Die Menschewiken stellen Freiwillige ein", bemerkte Kunta wichtigtuerisch.
    "Das wissen alle längst", sagte Micha.
    "Es wird geredet", erläuterte Kunta, "dass im Fall einer Eroberung von Suchumi die Kaufläden der bolschewistischen Händler ausgenommen werden dürfen."
    "Wenn wir Suchumi erobern, darf man nehmen, was man will?", fragte Onkel Sandro mit heimlichem Spott und blinzelte Micha zu.
    "Das wird nicht geredet", sagte Kunta, ohne zu bemerken, dass man sich über ihn lustig machte. "Man darf nur das nehmen, was ein Mann wegtragen kann."
    "Was würdest du am liebsten wegtragen?", fragte Onkel Sandro.
    "Textilien, Eisennägel, Salz, Gummistiefel, türkischen Honig", zählte Kunta mit Vergnügen auf. "In meiner Wirtschaft kann ich alles brauchen."
    "Hör zu, Kunta", sagte Onkel Sandro gewichtig. "Bleib lieber daheim und iss deinen Maisbrei, sonst geht es dir noch schlecht."

    Besuch aus Woronesch. Die abchasisch-russische Freundschaft


    Entspannt lehnt sich Indira Barcidz in einer Sofaecke auf dem Flur zurück, plaudert mit den Parlamentsangestellten. Sie arbeitet für die abchasische Nachrichtenagentur "Apsnypress". Indira Barcidz hat einen kleinen Sohn und würde sich lieber um den kümmern, statt jeden Tag auf Termine zu gehen, aber ihr Mann ist Beamter, die Gehälter in Abchasien sind gering, und so muss sie dazuverdienen – auch wenn es sie langweilt.

    Ein Gruppe Abgeordneter aus dem russischen Woronesch ist zu Besuch im Parlament von Abchasien. Dessen Präsident hat die Gäste zunächst in sein Büro gebeten.

    "Die werden heute nichts wichtiges unterschreiben, das ist nur wieder so ein Kennenlern-Treffen. Über Wirtschaft reden die selten. Grob gesagt, sind diese Delegationen aus Russland die zweite Wahl für uns. Denn wir halten uns für Europäer. Leider haben unsere Abgeordneten nicht die Möglichkeit, nach Europa zu reisen und dort Kontakte zu knüpfen. Ich denke, es gibt in Europa viele Menschen, die sich für die Situation in Abchasien interessieren. Aber leider ist die Realität so, dass die europäischen Staaten uns nicht anerkennen. Und deshalb sind wir gezwungen, mit denen zu reden, die mit uns reden wollen."

    Das Treffen mit dem Parlamentspräsidenten zieht sich. Indira Barcidz erzählt von den seltenen Fällen, bei denen dann doch mal Besucher aus den europäischen Hauptstädten nach Abchasien kommen.

    "Das ist gewöhnlich der Fall, wenn es Spannungen zwischen Georgien und Abchasien gibt. Dann kommen Abgeordnete des Europäischen Parlaments in großer Zahl, bis zu 20 Personen, für zwei Stunden nach Abchasien und fangen an, unseren Abgeordneten zu beweisen, dass Abchasien nicht ohne Georgien leben kann, und dass wir uns mit Georgien einigen müssen. Dabei ist dieser Zug längst abgefahren. Sie versuchen dann auch immer, Abchasien nicht Abchasien zu nennen. Und sie lehnen grundsätzlich jeden Kommentar ab. Sie rufen immer "Kein Kommentar, kein Kommentar" und laufen aus dem Büro."

    Die russischen Politiker aus Woronesch dagegen bleiben mehrere Tage, und sie sind auch sehr gesprächig. Als erstes tritt Alexander Verikovskij aus der Tür: Heller Sommeranzug, helle geflochtene Schuhe, blassblaue Socken, ein Lächeln auf den Lippen.

    "Offensichtlich ist die Zeit angebrochen, die Beziehungen zwischen Russland, den russischen Regionen, und Abchasien zu vertiefen. In enger Zusammenarbeit können wir sehr viel schaffen. Heute haben wir zum Beispiel darüber gesprochen, in Abchasien Trainingslager für unsere Sportler aus der Region Woronesch zu gründen. Hier können Fußballer das ganze Jahr über an der frischen Luft trainieren, und das ist gut. Bei uns geht das nicht wegen des Klimas. Und dann sind natürlich Probleme in Abchasien zu lösen: Die Abchasen müssen Produkte entwickeln, ihre Landwirtschaft, und natürlich brauchen sie einen Absatzmarkt. Den können wir schaffen, indem wir die Beziehungen zwischen den russischen Regionen und dieser Republik oder, besser gesagt, diesem Land intensivieren."

    Alexander Verikovskij gehört zur Putin-Partei "Einiges Russland". Ebenso wie sein Kollege, Pjotr Semjonov, der Delegationsleiter. Der ist zum ersten Mal in Abchasien und wirkt ein wenig aufgeregt.

    "Ich hatte vorher sehr viel über Abchasien gehört, über die Gastfreundschaft, über das schöne Wetter. Aber, wie man bei uns sagt: Einmal sehen ist besser als 100 Mal hören. Zumal, was ich 100 Mal gehört habe, kein Vergleich ist zu dem, was ich jetzt gesehen habe. Ein kleines Beispiel von gestern: Ich habe morgens im Meer gebadet, und zwei kleine Jungs, die mit dem Boot unterwegs waren, sind einfach zu mir herangepaddelt und haben gesagt: Onkelchen, nimm Platz, wir fahren dich ein wenig herum. Das habe ich gern angenommen, und sie haben mir alles mögliche erzählt, ohne jegliche Scheu. Diese Offenheit ist beeindruckend."

    Es folgt eine Führung durch das Parlament Abchasiens. Die dauert nur wenige Minuten, denn es gibt lediglich zwei kurze Flure, einen oben und einen unten.

    Nugzar Aschuba, der abchasische Parlamentsvorsitzende, ein untersetzter Mann im blauen Anzug, zeigt auf eine Flügeltür. Dahinter sitze der Präsident Abchasiens, im selben Haus, und auf der anderen Seite auch noch die Regierung. Na das sei aber interessant, nickt Semjonov. In Woronesch hätten sie getrennte Gebäude.

    Im Plenarsaal des Parlaments warten die Abgeordneten. Der Plenarsaal, das ist ein Konferenzraum mit einem langen Besprechungstisch. Etwa ein Drittel der 35 Abgeordneten ist erschienen. Parlamentspräsident Aschuba unterstreicht die Freundschaft zwischen den Völkern. Dann stellt er alle ausführlich vor.

    Er redet lange. Einer unterdrückt ein Gähnen, anderen gelingt das nicht. Eine der Abgeordneten ist Emma Gamisonia. Die Politologin unterrichtet an der Universität von Abchasien. Sie trägt einen Anstecker mit dem Wappen und der Fahne Abchasiens an der Bluse. Die Fahne ziert auch das Zifferblatt ihrer Armbanduhr. Sie stellt klar:

    "In der jetzigen Situation in Abchasien sehen wir nur Russland als Partner. Der Westen und Europa kommen zu spät. Wie orientieren uns an Russland. Ganz klar."

    Endlich werden die Gastgeschenke ausgetauscht. Der Parlamentspräsident erhält eine faustgroße Glocke, hergestellt in einer Gießerei in Woronesch. Außerdem gibt es das Modell eines Flugzeugs und viel Kleinkram in Papiertüten, darunter Schirmmützen mit einem Aufdruck des Parlaments von Woronesch. Auch die Gäste werden bedacht. Pjotr Semjonov erhält als Delegationsleiter eine Silbermünze. Vorsichtig öffnet er die Schatulle. Die Münze zeigt den Umriss Abchasiens und ein kantiges Männerprofil.

    "Das ist das Profil des großen abchasischen Schriftstellers Fazil Iskander, den wir sehr lieben, lesen, und den die ganze Welt kennt. Diese wunderbare Münze haben wir zum Andenken bekommen, und wir werden sie unserem Parlamentsmuseum übergeben."

    Die Delegation aus Woronesch bricht auf zur Stadtrundfahrt. Parlamentspräsident Aschuba atmet durch.

    "Wir müssen viele Delegationen betreuen, ich kann gar nicht sagen, wie häufig, aber wir nehmen alle in Empfang, die kommen. Es geht dabei vor allem um Symbolik."

    "Ertoba! Ertoba!", war das erste, was Onkel Sandro vernahm, als Micha und er der Versammlung nähergekommen waren. Für Onkel Sandro waren das unbekannte Worte. Am Rande des Tisches stand der Redner. Er sprach ein reines Abchasisch, würzte jedoch seine Rede mit russischen und georgischen Einschüben. Noch vor Onkel Sandros Eintreffen musste der Redner auseinandergesetzt haben, warum die menschewistische Macht gut und die Sowjetmacht schlecht sei. Jetzt ging er davon als von einer bereits verbürgten Tatsache aus und verweilte bei den Vorteilen, welcher sich die Bauern unter der Macht der Menschewiken erfreuen würden: just darum, weil sie die gute Macht sei, und nicht umgekehrt. Da das nun aber so ist, sagte er, müssen die Bauern Bewusstheit an den Tag legen und die Reihen der Freiwilligen auffüllen.
    "Ertoba! Ertoba!" rief der Redner bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
    "Was ist das für ein Wort?", fragte Onkel Sandro seinen Kameraden, der in der Beherrschung der georgischen Sprache besser war als Onkel Sandro.
    "Ertoba bedeutet Einheit", erwiderte Micha. "Er möchte, dass wir eins mit ihm sind."

    Linkerhand von Onkel Sandro stand ein unbekannter Bauer. Als er jetzt Michas Worte hörte, wandte er sich um: "Ich kann mit meinem Gevatter eins sein", sagte er, "ich kann mit meinem Nachbarn oder sonst einem Dörfler eins sein, aber mit diesem Menschen, den ich zum ersten Mal sehe: Wie soll ich mit dem eins sein?"


    Georgisch als Fremdsprache. Die Rechte der georgischen Minderheit im Bezirk Gali


    Gali, eine Stadt nicht weit von der Grenzlinie zwischen Georgien und Abchasien, etwa achtzig Kilometer östlich von Suchumi. Etwa die Hälfte der Häuser ist zerstört, die Straßen sind zerfurcht von Schlaglöchern. Der Bahnhof, an dem einst die Züge zwischen der georgischen Hauptstadt Tiflis und der Küstenstadt Suchumi hielten, besteht nur noch aus Betongerippe. Gigantische Treppen ohne Geländer führen über stillgelegte Gleise. Daneben umgeknickte Strommasten.

    Im Zentrum von Gali hat die russische Armee ein Camp errichtet. Etwa 5.000 russische Soldaten sind zur Zeit in Abchasien. Mehr schlecht als recht verdecken Planen die Kanonenrohre ihrer Panzer. Ein Schild verspricht: Wo die russische Armee ist, herrscht Frieden.

    Nur wenige Schritte von den Panzern entfernt steht ein braunes Gebäude: Die Schule Nummer Zwei. Es ist Vormittag, und es ist ungewöhnlich ruhig. Bald sind Ferien, und die Schüler schreiben ihre Abschlussarbeiten. Heute sind die neunten Klassen dran, in Russisch. Alle anderen haben frei. In Reih und Glied sitzen die Schüler an Einzeltischen und fassen eine Episode aus Nikolaj Gogols Roman "Taraz Bulba" zusammen. Vorn steht die Direktorin, Nunu Chintbaia. Auf ihrem Pult türmen sich Sahnetorten, Pralinen und Salate – Geschenke der Schüler, mit denen sie die Lehrerinnen zu Examenszeiten gnädig stimmen. Nunu Chintbaia mahnt die Schüler zur Ruhe.

    Nunu Chintbaia ist Megrelin, genau wie ihre Schüler. Die Megrelen begreifen sich als Georgier. Viele waren im Krieg Anfang der 90er-Jahre aus Abchasien geflohen. Nach dem Waffenstillstand zwischen Georgiern und Abchasen sind etwa 60.000 von ihnen in ihre Häuser nach Gali zurückgekehrt. Den Georgiern aus der Hauptstadt Suchumi oder dem Kurort Gagra ist das bis heute verboten. Auch, wer gegen die Abchasen gekämpft hat, darf nicht zurückkehren.

    Die Megrelen sprechen untereinander Megrelisch. Das ist ein Dialekt des Georgischen, der keine Schriftsprache kennt. Georgisch lernten die Kinder bis vor dem Krieg in der Schule. Alle Fächer wurden auf Georgisch unterrichtet. Seit aber die Abchasen das Sagen haben, wird Georgisch an den Schulen von Gali nur noch als Fremdsprache gelehrt: Drei bis vier Stunden die Woche, und es ist nicht mal Pflicht. Das Thema hat in diesem Jahr sogar den Europarat beschäftigt. Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg mahnte nach einem Besuch in Gali, die georgische Minderheit müsse das Recht haben, ihre eigene Sprache zu lernen und zu wahren. Nunu Chintbaia, die Direktorin, überlegt lange, ob sie sich dazu äußern möchte.

    Schließlich bittet die Megrelin einen jungen Mann um Erlaubnis. Er ist zwar nur ihr Stellvertreter, aber er ist Abchase. Erst als er nickt, geht sie in ihr Zimmer. In der Ecke türmen sich Gymnastikreifen, Volleybälle, Flachbildschirme, originalverpackt.

    "Das sind Spenden von den Russen. Wir haben zweihundert Schulbänke bekommen, zwei Computer, einen Fernseher und eine Musikanlage – so viel wie nie zuvor. Gryzlow, der Vorsitzende der russischen Duma, hat das bei seinem Besuch in Abchasien mitgebracht, und die Spende wurde auf die Schulen in Abchasien verteilt. Wir sind sehr dankbar."

    Chintbaia sucht hinter ihrem Schreibtisch Schutz und rückt ihre Hornbrille zurecht.

    "Wir haben überhaupt keine Probleme. Wir unterrichten Georgisch von der ersten Klasse bis zur elften. Wir haben nur keine Schulbücher für den Georgisch-Unterricht. In Abchasien gibt es keine. Die Eltern besorgen sie in Georgien. Manchmal gucken die Schüler zu zweit in ein Buch."

    Natürlich hätte sie gern, dass Georgisch wie früher Unterrichtssprache in allen Fächer wäre, und nicht Fremdsprache. Denn für den Großteil ihrer Schüler ist Russisch die Fremdsprache, nicht Georgisch. Aber:

    "Meine Meinung zählt hier nicht. Und die Eltern fordern das auch nicht. Sie schweigen."

    Viele Megrelen fühlen sich in Abchasien als Bürger zweiter Klasse. Und sie haben Angst. Die Abchasen nehmen die Schlüsselpositionen in Abchasien ein, auch in Gali. Zum Beispiel Dschamila Dzarkasia. Sie ist stellvertretende Direktorin einer anderen, der Schule Nummer 1, in Gali, und sie sitzt zugleich an einer Schaltstelle in der Stadtverwaltung.

    Rübergehen zur anderen Schule

    Die Schule Nummer Eins liegt in Fußnähe, auch hier brüten die Neuntklässler über Gogol. Dschamila Dzarkasia wirkt streng mit ihrem schwarzen Kleid und den zurückgesteckten Haaren.

    "Wie kann man von Repressionen reden, wenn Georgisch doch in den Schulen unterrichtet wird? Und jeder, der möchte, es in der entsprechenden Schule lernen kann? Abchasisch ist unsere Amtssprache, und Russisch ist damit gleichgestellt. Aber niemand sagt: Lernt kein Georgisch, liebt eure Sprache nicht. Das sagt niemand. Die Leute machen aus der georgischen Sprache ein Politikum. Lehrer sollen arbeiten und unterrichten. Politik ist Sache der Politiker."

    Erschöpft fährt sie sich mit einem Tuch über die Stirn. Sie fühlt sich nicht wohl an diesem Tag.

    "Wir rufen die georgischen Lehrer bei jeder Versammlung dazu auf, gewissenhaft und gut zu unterrichten: Die richtige Geschichte und die richtige Geografie, denn beides wurde hier sehr lange verfälscht. Es gibt Erwachsene, die tatsächlich behaupten, Abchasien sei Georgien! Damit diese Fehler ausgeräumt werden, müssen die Kinder richtig Geschichte lernen."

    Die richtige Geschichte ist hier, dass Abchasien seit 16 Jahren ein unabhängiger Staat ist. Irgendwann, so Dzarkasia, würden das auch die Politiker in Georgien begreifen und Abchasien anerkennen. Und dann werde das auch in Georgien so unterrichtet werden. Danach aber sieht es zur Zeit nicht aus, im Gegenteil: Die Regierung Georgiens betont bei jeder Gelegenheit, dass Abchasien zum georgischen Staat gehört und von Russland besetzt ist. Und auch viele Bewohner von Gali zieht es nach wie vor hinüber in das Mutterland. So geht die Hälfte der Schulabgänger aus Gali zum Studium nach Georgien, nicht aber nach Suchumi. Die Abchasen erhöhen deshalb den Druck auf die jungen Leute.

    "Der Präsident hat angeordnet, dass diejenigen, die in Georgien einen Abschluss machen, hier in Abchasien künftig keine Stelle mehr bekommen. Das wird ihnen zu denken geben. Mit der Zeit wird jeder Bewohner von Gali mitbekommen, dass er so oder so Bürger Abchasiens ist und sich den Gesetzen Abchasiens unterzuordnen hat."

    Drüben in der Schule Nummer Zwei geht die Megrelin Nunu Chintbaia zurück in den Prüfungsraum. Eine Schwalbe fliegt durch das Treppenhaus. Vor einer Wandtafel bleibt die Direktorin stehen. Ansichtskarten zeigen die Promenade von Suchumi, Strand, Palmen. Darüber steht "Mein Abchasien". Dazu ein Gedicht, auf abchasisch, auf georgisch, auf russisch.

    Geschrieben hat es ein Abchase, danach ist es übersetzt worden. Sie trägt die georgische Fassung vor. In der weiten Welt gäbe es ein Land der Seele: Abchasien, heißt es, in der Landessprache: Apsny. Abchasien sei schöner als anderen Gegenden, wenn auch klein. Chintbaia schließt, ohne mit der Wimper zu zucken, mit einer Liebeserklärung an Abchasien, "du meine Schönheit". Die abchasische Fassung könne sie leider nicht lesen. Sie könne nur einen Satz auf abchasisch, und zwar: "Ich lebe in Gali."

    Auf der Suche nach Investoren. Besuch in einer ehemaligen Waffenfabrik


    Wachtang Khartschilawa steht hinter seinem Schreibtisch und packt aus: Orden. Dann noch mehr Orden, und schließlich einen Revolver.

    "Den haben wir selbst entworfen. Ein bisschen haben wir bei den Belgiern geklaut, die haben ein ähnliches Modell. Der Revolver läuft bei uns unter dem Tarnnamen "Auftrag 001”. Ach, schauen Sie, hier ist noch ein Leons-Orden. Den hatte ich ganz vergessen! Ich wusste doch, das ich noch einen hier habe. Den bekommen die Helden Abchasiens für Tapferkeit. Dieses Modell hier ist eine Sonderanfertigung. Normalerweise überziehen wir den Orden mit Nickel. Aber der hier besteht zu drei Vierteln aus reinem Silber. Dafür ist er schwer, der wiegt hundert Gramm. Keine Ahnung, wie man den an der Mütze tragen soll. Leon war einer der ersten Zaren Abchasiens."

    Wachtang Khartschilawa hat alle diese Orden nicht bekommen. Er ist der Direktor der Fabrik "Zarja", "Morgenröte", in Tkvartscheli, einer Stadt im Landesinneren Abchasiens. Einst war Tkvartscheli eine Industriestadt, und die Fabrik "Morgenröte" gehörte zu einem Kombinat in Leningrad. Annähernd tausend Arbeiter, Abchasen und Georgier, fertigten hier Schaltstationen für sowjetische Fernmeldeämter. Mit dem Krieg in Abchasien Anfang der 90er-Jahre hörte die Produktion auf. Die "Morgenröte" stellte um auf Pistolen, Gewehre und Granaten.

    Als der Krieg vorbei war, hatte das Mutterwerk in Leningrad, das nun St. Petersburg hieß, die Produktion der Schaltstationen selbst übernommen, und Wachtang Khartschilawa, damals wie heute Direktor des Werkes, musste umdenken. Das tut er bis heute. Denn ausgelastet ist das Werk bei weitem nicht. Die paar Orden und Medaillen für das Verteidigungsministerium bieten allenfalls für ein paar Tage Arbeit. Von den nunmehr 60 Angestellten sind immer nur zwanzig da, den anderen gibt Khartschilawa frei für die Gartenarbeit. Er selbst durchforstet unterdessen das Internet nach möglichen Aufträgen.

    "Das ist meine wichtigste Beschäftigung. Ich komme morgens, gehe ins Internet und versuche, irgendwo Aufträge zu finden. Eigentlich ist das nicht mein Job, aber ich bin bereit, alle Aufträge anzunehmen, und wenn sie noch so klein sind. Gerade habe ich einen Auftrag für fünf Bodenschwellen gefunden. Die sollen im Nachbardorf vor der Schule montiert werden. Wir müssen sie aus Krasnodar in Südrussland holen und anbringen. Verdienen werden wir kaum etwas. Aber das ist besser als nichts."

    Khartschilawa greift nach seinen Zigaretten.

    "In diesem Jahr läuft es sehr schlecht. Von Januar bis heute hatten wir 2,5 Millionen Rubel in unserem Plan. Erfüllt haben wir nur 200.000. Das ist ein großer Rückstand. Wenn sich alles so weiter entwickelt hätte wie vor dem Krieg, dann hätten wir heute nicht 2,5 Millionen Rubel Umsatz in einem halben Jahr, sondern das Doppelte in nur einem Monat!"

    Ein Telefonat noch, dann bricht er auf, das Werk zu zeigen.

    "Als die Kommunistische Partei regierte, gab es so eine Gigantomanie. Je größer die Fabrik, desto wichtiger bin ich. So war das damals. Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Hallen noch mal in Betrieb genommen werden."

    Der Flur ist lang und halb dunkel, das Linoleum wellt sich, hier und da schaut der Fußboden hindurch. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben weht ein warmer Wind. Hier wurde seit der Gründung vor 30 Jahren nicht renoviert. Keine Menschenseele, nirgendwo.""

    Im Treppenhaus erinnert ein Wandgemälde an bessere Zeiten. Es zeigt den Schuhabsatz eines Mannes, der wegläuft, und eine leere Flasche. Dazu in roter Schrift die Warnung:

    ""Der Bummelant verliert: Das Anrecht auf eine Prämie. Das 13. Monatsgehalt. Urlaub zur Sommerszeit. Reisen ins Erholungsheim. Das Recht auf eine Wohnung. Die Achtung des Kollektivs."''

    Doch auch Disziplin hat den Verfall der Fabrik nicht aufhalten können. Fliegerbomben im Krieg gaben ihr schließlich den Rest. Durch die zerbrochenen Fenster sind Industriebrachen zu sehen. Trümmer des benachbarten Kohlebergwerkes, verrottete Reste von Produktionshallen, auch Ruinen von Wohnhäusern. Tkvartscheli wurde mehrere Tage lang bombardiert. Viele Bewohner flohen. Die Georgier dürfen bis heute nicht zurückkehren. Die Abchasen lassen sie nicht. Sie wollen verhindern, dass die Georgier wieder die Bevölkerungsmehrheit stellen und dann für eine Rückkehr Abchasiens in den georgischen Staat stimmen. Auch Fabrikdirektor Khartschilawa kennt da keine Kompromisse.

    ""Eins steht fest: Zu Georgien werden wir nicht mehr gehören. Weder in einem föderalen Staat, noch als autonome Republik. Warum das immer alle verlangen, verstehe ich nicht."

    In einer Werkstatt ist doch etwas los. Irakli steht an einer Drehbank, er trägt Schutzbrille und das Fußballtrikot der italienischen Nationalmannschaft. Eisenspäne fliegen.

    "Wir reparieren Autos, tauschen Teile aus. Die Leute aus der Stadt kommen deshalb zu uns. Oder wir fertigen Spitzen für den Alabascha. So heißt der Stock, den unsere alten Männer tragen. Der hat unten eine Metallspitze. Wir ehren ja unsere Alten. Aber es kommen wenige Kunden."

    Wachtang Khartschilawa nickt

    "Ich habe mir eine Regel gesetzt. Als Direktor muss ich alle meine Angestellten mit Arbeit versorgen. Wenn ich einen Auftrag habe, gebe ich ihn an einen Arbeiter weiter, und er erfüllt ihn. Wenn ich keinen Auftrag habe, sage ich ihm: Mach, was du willst, damit du Geld verdienst. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als untätig zu Hause zu sitzen. Hier kommen unterschiedliche Leute her, bei dem einem ist das Auto kaputt, bei dem anderen der Traktor, und sie brauchen Hilfe. Mittlerweile arbeiten meine Leute schon drei, vier Monate nur auf diese Weise. Dieser Arbeiter verdient heute 500 Rubel, gut zehn Euro. In Suchumi, in Gagra, erst recht in Berlin mag das nicht reichen, aber in Tkvarcheli sind 500 Rubel am Tag genug, um nicht zu verhungern.""

    Wie so viele in Abchasien, hofft auch Khartschilawa auf Investoren aus Russland. Und sie hoffen auf Sotschi. Die russische Küstenstadt liegt nur zehn Autominuten von Abchasien entfernt, dort finden in fünf Jahren Olympische Winterspiele statt, und die Abchasen möchten am Bauboom teilhaben. Doch in Russland schlägt die Weltwirtschaftskrise durch, und das bekommen auch die Abchasen zu spüren.

    "Ich habe viele Projekte im Kopf, auch kleine: Zum Beispiel, Marmelade in kleine Döschen abzufüllen, á 20 Gramm, für das Frühstück in den Sanatorien und Hotels. Gefrühstückt wird immer. Erst vorige Woche habe ich mich mit einem Moskauer Geschäftsmann in Suchumi getroffen. Er hat gesagt: Wir machen das, unbedingt! Aber wegen der Krise wagt jetzt niemand zu investieren. Ich versuche, ihn davon zu überzeugen, dass unser Projekt nicht von der Krise abhängt. Denn die Urlauber werden so oder so kommen, und essen werden sie auch."#

    Khartschilawa tritt seine Zigarette aus und streckt die Hand aus:

    ""Alles Gute! Auf Wiedersehen! Kommen Sie das nächste mal zum Urlaub machen. Und bringen Sie Investoren mit!"

    "Morgen früh geht es los, da greifen wir an", verkündete der Redner der Menschewiken. Wer mit uns ist, soll sich bis sechs Uhr früh in die Liste eintragen. Eilt in unsere Reihen! Ertoba, Ertoba!" rief er und warf den Arm hoch, als befände sich vor ihm ein Orchester, dem er den Einsatz zu einem Marsch gab.

    "Ertoba!", wiederholten hinter ihm her ein paar Stimmen, und selbst die verstummten sofort, aus Verlegenheit über ihre Einsamkeit. "Was ich gern wissen würde", fragte eine Stimme. "Bis wohin werden wir Krieg führen: Bis Gagra oder bis Sotschi?" "Bis Sotschi und über Sotschi hinaus." "Wozu? Weiter hinten beginnt doch Russland."
    "Um endgültig siegen zu können, müssen wir notfalls auch noch nach Russland marschieren!", rief der Redner. "Ertoba, ertoba, ertoba!"
    Onkel Sandro und sein Freund Micha gingen zur Straße hinüber.
    "Was denkst du über die Versammlung?", fragte Micha.
    "Das ist keine Macht", sagte Onkel Sandro und schlug mit der Reitpeitsche gegen den Stiefelschaft. "Was bleibt zu tun?", fragte Micha.
    "Wir müssen es mit den Bolschewiken versuchen."

    "Es gibt nicht genug Patriotismus". Die Jugendbewegung "Junges Abchasien"


    Zur Hälfte ist das ehemalige Standesamt in Abchasiens Hauptstadt Suchumi zerfallen. Im obersten Stockwerk fehlen die Fenster. Doch dieser Raum ist schick: Neue Konferenztische, die Wände frisch geweißt, in der Ecke ein Tresen mit einem Boiler, um Tee oder Kaffee zu bereiten, und vor allem ein riesiges Banner an der Wand. Darauf steht auf Abchasisch: "Der abchasische Staat ist ein souveräner, unabhängiger, demokratischer Staat". Und die Jugendlichen, die an den Tischen sitzen, lesen das auch gern vor:

    Ein Besuch bei der Jugendorganisation "Junges Abchasien". Lana sagt auch das gern auf abchasisch.

    Lana gehört zum Kreis der Aktivisten. Sie sind zwischen 15 und 18 Jahren alt, vor allem Mädchen, die wenigen Jungs ein paar Jahre älter. Sie teilen alles, zum Beispiel einen Apfel, haben aber gerade kein Messer zur Hand.

    Das "Junge Abchasien" gibt es seit gut einem Jahr. Ihr Vorbild ist die "Junge Garde" in Russland, die sogenannte Putin-Jugend, und so wie die von der Putin-Partei Einiges Russland finanziert wird, erhält das "Junge Abchasien" Geld vom Präsidenten Abchasiens. Knapp dreitausend Mitglieder haben sie, organisiert im Schneeballsystem. Fast täglich machen sie patriotische Aktionen.

    Der Vorsitzende kommt. Schnell wird der Apfel weggepackt. Eilig erheben sich die jungen Leute von den Stühlen.
    Aljaz Avidzba trägt einen grauen Anzug, Krawatte, blank geputzte schwarze Schuhe, einen exakten Seitenscheitel.

    "Wie geht es euch, Kinder Abchasiens? Nehmt alles Essbare vom Tisch, damit wir arbeiten können."

    Aljaz holt einen Block aus der Tasche, darauf steht in grünen Lettern: "Abchasien ist unsere Heimat, die Jugend ihre Zukunft". Das steht auch auf seinem Kuli und dem Anstecker an seinem Revers. Es folgt ein Bericht, vorgetragen im Duktus Medvedevs und Putins.

    "Wir beginnen mit einer Bilanz. Heute hatten wir ein Treffen mit der Jugend in Tkvartscheli. Der Dialog war aktiv. Die Jugendlichen waren erst etwas schüchtern, haben sich dann aber geöffnet. Wir haben herzlich miteinander gesprochen, und sie werden nun die Initiative ergreifen und ein Regionalbüro in Tkvartscheli eröffnen. Wir werden künftig sehr eng mit ihnen zusammenarbeiten. Morgen haben wir ein ähnliches Treffen im Kulturhaus des Bezirks Gulripsch. Und ich bitte die Aktivisten dringend, daran teilzunehmen."

    Ein Stellvertreter ergreift das Wort. Denis Solomko studiert Ingenieurwesen in Russland, in seiner Freizeit baut er das "Junge Abchasien" mit auf. Er blickt streng in die Runde: Die Aktivisten seien zu passiv. Das müsse sich ändern. Er kündigt an, die Mitgliederkartei durch zu gehen.

    "Wir werden einige aus dem Kreis der Aktivisten ausschließen und umgehend durch Leute ersetzen, die sich bereits bewiesen haben."

    Dann geht er zum angenehmeren Teil über. Die jungen Abchasen planen eine Wanderung, mit Rucksack, Armeeuniform und schweren Stiefeln, hinauf in die Berge.

    "Es geht vor allem darum, sich selbst zu prüfen. Die Aktion heißt "Pfad der Helden". Wir werden dem Weg folgen, auf dem die Kämpfer Heroismus und Mut bewiesen haben, auf dem sie umgekommen sind. Diesen Pfad sind Menschen gegangen, die sich bewusst waren, dass sie für eine Idee in den Tod gehen: Für die Freiheit ihres Volkes, ihres Staates. Wir wollen das nachempfinden. Natürlich geht das nicht vollständig. Dafür müsste es einen neuen Krieg oder neue Opfer geben, und das möge Gott verhüten. Aber wir können zumindest körperlich erfahren, wie beschwerlich es war, diesen Pfad zu erklimmen. Wenn wir uns dann vorstellen, dass auch noch auf uns geschossen wird, dann durchdringt uns vielleicht der patriotische Geist jener Tage. Ich denke, man kann gar nicht Patriot genug sein. Man kann sein Land nicht genug lieben."

    An der Seite sitzen Alisa und Milada. Sie sind 16 Jahre alt und seit wenigen Monaten beim "Jungen Abchasien". Alisas Augen leuchten, der "Pfad der Helden" reizt sie, sie will auf jeden Fall mit in die Berge. Auch, wenn es hart wird. Gerade dann.

    "Ich habe im Krieg meinen Vater und einen Onkel verloren. Mich beschäftigt das sehr. Und wir denken zu Hause oft daran. Ich war damals gerade geboren. Der Krieg begann, als ich einen Monat alt war."

    Miladas Vater ist verschollen.

    "Wir wissen bis heute nicht, wo er ist, und was mit ihm passiert ist. Er verschwand am 26. August, ich wurde am 31. Oktober geboren. Ich habe sehr viel Gutes von ihm gehört, und ich hoffe, dass er noch lebt."

    Denis wendet sich noch mal an alle: Er will wissen, wer mitkommt auf den "Pfad der Helden". Fast alle melden sich. Abchasien – ein Paradies unter Palmen, aber der Krieg dürfe niemals in Vergessenheit geraten, davon ist Denis überzeugt.

    Das waren Gesichter Europas. Konfliktherd und Touristenparadies - Abchasien am Schwarzen Meer. Eine Sendung von Gesine Dornblüth. Die Auszüge aus Fasil Iskanders Roman "Onkel Sandro aus Tschegem" las Matthias Horn. Redaktion: Henning von Loewis.