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Konfrontation mit Tod und Vergänglichkeit

Der Roman "Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich ..." besticht durch die Verknüpfung von Schauplätzen und Epochen. Sorgfältiger Umgang mit der Sprache, ein Blick auf das Verdrängte, Suche nach Versöhnung und ein tiefes Verständnis für die Flüchtlinge des 20. und 21. Jahrhunderts machen das Buch von Edgardo Cozarinsky lesenswert.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 08.05.2007
    Edgardo Cozarinsky wurde 1939 als Sohn jüdischer Einwanderer in Buenos Aires geboren. Seit 1974 lebt er in Paris; in den letzten Jahren hält er sich allerdings immer öfter und länger in seiner Heimatstadt auf, da für ihn die kulturelle Aufbruchstimmung in Film, Theater und Literatur die notwendige Sauerstoffzufuhr ist, die er derzeit in Europa vermisst.

    Edgardo Cozarinsky hat zunächst als Filmemacher und Filmkritiker gearbeitet. International bekannt wurde er mit dem 1981 gedrehten Film "Krieg eines Einzelnen", der auch im ZDF lief. Dieser Film zeigt die enge Zusammenarbeit zwischen der Wehrmacht und den französischen Streitkräften bei der Deportation von Juden in die Konzentrationslager anhand von Wochenschauen der damaligen Zeit und Auszügen aus den Kriegstagebüchern von Ernst Jünger.

    Edgardo Cozarinsky hat immer auch geschrieben, zunächst Filmkritiken und Essays über Henry James und Jorge Luis Borges. 1985 erschien der Erzählungsband Vudú urbano, mit einem Vorwort von Susan Sonntag und einem Nachwort des kubanischen Schriftstellers und Filmkritikers Guillermo Cabrera Infante. In den letzten Jahren hat sich Edgardo Cozarinsky auf die Literatur konzentriert und Erzählbände und Romane veröffentlicht, die in der hispanischen Welt, im angelsächsischen Sprachraum, doch auch zunehmend in Deutschland großen Anklang finden, weil er den Erzählbogen weit spannt, zwischen Europa und Lateinamerika hin und her pendelt, sich auf die Geschichte des Judentums im 20. Jahrhundert bezieht und einen Faschismus, den er sachkundig und leidenschaftlich denunziert, diesseits und jenseits des Atlantiks.

    In deutscher Übersetzung liegt bislang vor der Erzählungsband "Die Braut aus Odessa", Wagenbach, 2006. Die Übersetzung des Erzählungsbands "Tres fronteras" wird demnächst erscheinen

    "Der Tango ist für mich enorm wichtig, für den interessiere ich mich, diese Musik berührt mich tief, doch interessiere ich mich für die Worte des Tango erst jetzt. Der Tango war Tanzmusik bis in die 20 Jahre, und da fing man an, ihn auch zu singen. Er hatte stets etwas mit der Welt der Prostitution zu tun, der Zuhälterei und den Bordellen, anständigen, einfachen Mädchen, die in die Welt des Nachtlebens gerieten, eine Welt wie im Roman, allerdings unterstes Niveau, gesellschaftlich wie literarisch."

    Mit diesen Worten beschreibt Edgardo Cozarinsky die tonangebende Musik seines Romans, dessen Titel einem Tango entnommen ist, den ein blutjunges Mädchen aus Osteuropa in dem Theaterstück "Der moldawische Zuhälter" anstimmt, um zahlungskräftige Freier anzulocken. Noch ein Roman über den Tango, der zur Zeit in der argentinischen Literatur en vogue ist wie nie zuvor?

    Tangos sind hier die Begleitmelodie eines Romans, der eine breit angelegte Spurensuche ist, die sich von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in die heutige Zeit erstreckt und von Osteuropa nach Argentinien und Frankreich führt, um schließlich in Argentinien abzubrechen. Gesucht wird nach den Spuren einer jiddischen Kultur und Sprache, die in Argentinien auszusterben droht, genau wie die heute hochbetagten Juden, die dereinst von Osteuropa nach Argentinien kamen, so dass die Spurensuche auch zur Konfrontation mit Tod und Vergänglichkeit wird.

    "Meine Imagination funktioniert immer über das, was ich verloren habe, was wir, das heißt viele, verloren haben, die Menschen, die ich geliebt habe und die nicht mehr da sind, Orte, die ich besucht habe und die sich verändert haben oder gar nicht mehr da sind und vor allem die Vergangenheit, die ich nicht gekannt habe, eine Welt, die mir, wie die Vergangenheit, wie ein ökologisches Reservat vorkommt, ein Reservat, in dem es Arten gibt, die aus der heutigen Welt verschwunden sind. Das regt meine Imagination an, erlaubt mir, Personen zu erfinden, Situationen, Geschichten."

    In einem heruntergekommenen Altenheim in Buenos Aires nimmt die Spurensuche ihren Anfang und zwar mit dem Tod des Bandoneonspielers Samuel Warschauer. Er hinterlässt einen Schuhkarton mit Programmheften jiddischer Theaterstücke, die der namenlose Ich-Erzähler auszuwerten versucht. Darüber hinaus recherchiert er in verstaubten Archiven und kaum besuchten Bibliotheken und sucht das Gespräch mit Zeitzeugen. In dem Schuhkarton befindet sich auch das Programmheft des eingangs erwähnten Theaterstücks "Der moldawische Zuhälter". Das irritiert und fasziniert den Erzähler: Wer war der Autor des Stücks? Warum wurde es 1927 nur kurz am Theater Ombú in Buenos Aires aufgeführt und danach nur noch in zwei Kabaretts? Wie reagierte die Jüdische Gemeinde auf ein derart frivoles Stück? Und wie kommen all die schönen jungen Mädchen von Osteuropa nach Argentinien?

    Die Ermittlungen verlaufen nicht linear, sondern sprunghaft, ein bisschen wie ein Film, den man nach Belieben vor- oder zurückspult, hin und wieder anhält und gegebenenfalls neu montiert: Rückblick auf Samuel Warschauers Leben als Bandoneonspieler in der tiefsten Provinz, seine Liebe zu Susanna und der kranken Pearl, Auftritte in verschiedenen Kabaretts von Buenos Aires, 1945 Aufführung der "Siegesrevue", seinen Sohn Maxi auf dem Arm. Riesensprung über den Atlantik ins Paris des Jahres 2000: Dort hat Maxi Warschauer auf dem Boulevard Périphérique eine Autopanne und Sex mit einer jungen Prostituierten aus Osteuropa. Sprung zurück nach Buenos Aires, 1949: Der allseits respektierte Heiratsvermittler Theo Auerbauch ist der Autor von "Der moldawische Zuhälter", den er unter dem Pseudonym Teofilo Auer veröffentlichte. Hatte er Kontakt zu einem der größten Frauenhändlerringe der 30er Jahre, den Zwi-Migdal, die das damals wohlhabende Argentinien mit Prostituierten aus Osteuropa versorgten?

    "Der Frauenhandel wurde hauptsächlich von zwei Ringen organisiert, zum einen von französischen Zuhältern mit Sitz in Marseille - das war der Marseiller Ring, und zum anderen der der jüdischen Zuhälter mit Sitz in Warschau, der sich schließlich Zwi-Migdal nannte. Mir ist aufgefallen, dass die Marseiller in erster Linie Geschäftsleute waren. Die Juden der Zwi-Migdal waren sehr religiös und hatten ihre eigenen Synagogen. Das irritierte mich: Wie ist es möglich, dass sie, die sie doch so religiös sind, in einen derart schändlichen Handel verstrickt sind? Da begann ich nachzuforschen. Ich habe keine Antwort, ich bin weder Soziologe noch Historiker, vermute nur, dass es etwas zu tun hat mit der zweitrangigen Rolle der Frau in der gesamten semitischen Kultur.

    Und so wie in den traditionellen Synagogen die Männer unten waren und die Frauen oben auf der Empore, hatte man die Vorstellung, eine gefallene Frau wäre unsauber. Ich glaube, da gibt es - ich würde es nicht wagen, religiös zu sagen - aber doch eine kulturelle Verbindung zu der Vorstellung, dass man eine gefallene Frau wie eine Ware behandeln kann."

    Um das nächtliche Buenos Aires, das Überleben auf der Strasse und käuflichen
    Sex geht es in Cozarinskys Film "Der Nachtschwärmer", dessen Hauptfigur ein junger Stricher ist.

    "Meiner Ansicht nach ist heute die Welt der Prostitution eine Metapher für die Arbeitsverhältnisse in der gesamten kapitalistischen Welt. Da geben wir unser Können und unsere Zeit und das ist nichts Abstraktes. Das sind wir mit unsrem Körper, die wir in diesem Moment anwesend sind und reden. Manchmal ist die Arbeit angenehmer, dann wiederum nicht oder schlichtweg unangenehm und wir entfremden unser Können und unsere Zeit, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich halte das auch für eine Art von Prostitution. Ich spüre das manchmal bei dem, was ich tue, nicht bei dem, was ich schreibe. Ich habe für das Fernsehen Dinge gemacht, das war echter Dreck, und ich habe das gemacht, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich interessiere mich deshalb sehr für die Prostitution als Metapher - sie ist sehr brutal, weil da der Körper ganz direkt eingesetzt wird, was bei anderen Tätigkeiten nicht so sehr der Fall ist.

    Ich wollte deshalb in dem Roman die Verbindung aufzeigen zwischen den 20er Jahren in Südamerika, das damals das El Dorado der Mittel- und Osteuropäer war, die gerade das Elend des Ersten Weltkrieges hinter sich ließen, und dem heutigen Osteuropa, das wiederum zum El Dorado der Armen wird, die von Paris dorthin fahren. Sieh Dir doch nur mal die Jungs aus dem Maghreb und aus Marokko an! Die wollen um jeden Preis in die EG, als wäre sie das Paradies auf Erden."

    Und genau das macht diesen schmalen und doch so kompakten Roman so lesenswert und unterscheidet ihn positiv von den üblichen Tangoromanen: die Verknüpfung von Schauplätzen und Epochen, der sorgfältige Umgang mit der Sprache, der Blick auf das Verdrängte, die Suche nach Versöhnung und ein tiefes Verständnis für die Flüchtlinge des 20. und 21. Jahrhunderts.

    Das Land, die Sprache zu wechseln und sogar seinen Namen zu ändern, ist eine Erfahrung, die immer mehr Menschen machen. Wenn ich in meinen Büchern über die Juden schreibe, dann nicht, weil sie für mich die Einzigen sind, sondern weil sie diese Erfahrung vor anderen Gruppen und Kulturkreisen gemacht haben.


    Edgardo Cozarinsky: "Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich ..."
    Übersetzung aus dem Spanischen: Sabine Giersberg
    Wagenbach, Berlin 2007