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Kongress in Berlin
Fade Streitgespräche über Europa

Bei einer Tagung mit dem Titel "Europa im Streit" im Berliner Haus der Kulturen der Welt sollte über die Entwicklung der Europäischen Union debattiert werden. Die geäußerte Kritik war teilweise sehr platt - und ein wirklicher Streit kam auch kaum auf.

Von Cornelius Wüllenkemper | 03.05.2014
    Flaggen wehen vor dem Europaparlament in Straßburg
    Wohin soll es mit Europa gehen? In Berlin gab es darauf keine klare Antwort. (Bild: EP)
    Schlechte Laune, Verunsicherung und ein Gefühl der Ohnmacht. Der Autor und Essayist Peter Schneider verkündete zum Auftakt der Streitgespräche über Europa, was heute noch von der Utopie der Gründerväter übrig sei. 1988 hatte Schneider mit Hans Christoph Buch und György Konrád ebenfalls im Haus der Kulturen der Welt den Kongress "Ein Traum von Europa" ins Leben gerufen: damals träumte man gemeinsam mit Susann Sonntag, Harry Mulisch und anderen Denkern von einem Europa ohne Mauern. Heute, 25 Jahre nach dem Ende der Spaltung des Kontinents, will Schneider, so scheint es, die Zeit zurückdrehen:
    "Vieles, was in den rauschhaften Jahren der EU-Erweiterung beschlossen wurde, kommt einem heute als ein Schabernack von Dilettanten vor. Wie konnte es geschehen, dass die Europäer einen Klub gründeten, der keines seiner Mitglieder bestrafen oder aus dem Klub ausschließen kann, wenn eines, wie das Mitglied Ungarn, gegen die Grundregeln des Klubs verstößt? Wie kam es dazu, Länder wie Rumänien, Griechenland und Bulgarien damals aufzunehmen, die weder die wirtschaftlichen noch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllten?"
    Dauerkrise, ungeregelte Immigration, Schuldenberge, hastig vereinbarte Gipfeltreffen hinter verschlossenen Türen - der Europa-Traum der Alt-68er, so kam es auf der Tagung in Berlin wiederholt zur Sprache, sei ausgeträumt. Öffentlich streiten wollte man sich, über die Gegenwart und die Zukunft Europas. Daraus wurde nur allzu oft ein bloßes Lamento über die vertanen Chancen, aktuellen Bedrohungen und ungelösten Probleme - von der Jugendarbeitslosigkeit über das Demokratie-Defizit bis hin zur Regelungswut der EU-Bürokratie. Neu ist diese Kritik keineswegs.
    Der Publizist Thomas Rietzschel erging sich im Gespräch mit Hans Christoph Buch in einer haarsträubend platten Anklage gegen "die Politiker", die das Geld der Bürger verschleuderten, auf nationaler und europäischer Ebene. Beweise: Der Flughafen Berlin-Brandenburg und die Hamburger Elbphilharmonie! Die Tatsache, dass hier kein Moderator einschritt, um oft gehörte Grundsatzkritiken zu einem produktiven Streit zu kanalisieren, war leider symptomatisch für die Berliner Tagung.
    Kritik an "Russlandverstehern"
    Streit kam immerhin im Gespräch zwischen der deutsch-türkischen Publizistin Necla Kelek und dem französischen Danone-Erben und Autor Camille de Toledo auf. Dabei ging es um die ziemlich grundsätzliche Frage, ob die Assimilation von Immigranten zur Verteidigung europäischer Werte notwendig sei oder ob sie doch gegen das Menschenrecht der Selbstbestimmung verstoße. Der einzige Beitrag der achtstündigen Veranstaltung, der den Titel "Europa im Streit" wirklich verdient hätte, stammte (ausgerechnet) vom Podium der jungen Generation zwischen 17 und 35 Jahren.
    "Wir haben in Europa eine Tendenz, den Dialog mit Europa-Kritikern zu verweigern. Euroskeptizismus wird im Europäischen Parlament geradezu zensiert. Wo sind die Euroskeptiker denn hier und heute? Ich möchte mich mit ihren Argumenten detailliert auseinandersetzen",
    sagte der gebürtig aus Kasachstan stammende Journalist Daniel Tkatch. Der Mangel an transnationalen europakritischen Debatten spiele nicht nur den Rechtspopulisten in Frankreich oder den Niederlanden in die Hände. Er bediene auch einen "EU-Populismus", so Tkatch: Wer grundlegend Kritik am bestehenden Institutionengefüge äußere, werde auf populistische Weise als Europa-Gegner abgestempelt. Die Apathie der europäischen Öffentlichkeit, die man kurz vor den Wahlen wieder ernüchtert zur Kenntnis nehme, sei auch eine Folge des vermeintlichen Konsens', dass allein Wachstum der Motor Europas sei.
    Am Ende der Berliner Tagung, die sich mit der Streitkultur in Europa auseinandersetzen wollte, saß dann ein recht müde wirkendes Podium zurate über die Geschehnisse in der Ukraine. Anstatt mit sogenannten Russlandverstehern zu streiten, wurde bloß über sie gesprochen. Die Generation der Denker und Autoren, die vor 1989 ein friedliches Europa forderten und sich für die Auflösung der Systemopposition einsetzten, scheint mit der Überwindung der Teilung des Kontinents und der Erweiterung der europäischen Idee nicht wirklich zurecht zukommen.