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Konrad H. Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995.

Die Frage nach der eigenen Identität und was sie ausmacht, ist auch Gegenstand des letzten Buches, das wir Ihnen heute vorstellen möchten. Hier geht es indes nicht um das Selbstverständnis einer Partei, sondern unserer Gesellschaft an sich.

Von Ole Wackermann |
    Besonders spannend ist diese Frage schon deshalb, weil sich das deutsche Identitätsgefühl 40 Jahre lang in zwei verschiedenen Staaten entwickelte und: auseinander entwickelte. "Die Umkehr – Deutsche Wandlungen 1945 bis 1995" heißt das Buch aus der Feder Konrad Jarauschs, das diesem und anderen spezifisch deutschen Phänomenen nachgeht. Ole Wackermann stellt es ihnen vor.

    Konrad Jarauschs Nachkriegsgeschichte beginnt mit einer demütigenden Abiturprüfung am Gymnasium in Krefeld. Die Protagonisten: Ein autoritärer Rektor und ein Schüler, der sich von der Generation der Väter nicht mehr ihre Sicht der Dinge aufzwängen lassen will:

    Es gab dann an meinem Gymnasium auch einen Konflikt zwischen einem etwas aufmüpfigen Gymnasiasten, nämlich mir, und dem Rektor. Und ich wurde dann im Abitur in deutsch vorgeführt und auch entsprechend bei den Zensuren bestraft. Der Direktor der Schule war katholisch und er sah es als Aufgabe an, in jedem Jahrgang zwei bis drei Priester aus der Klasse heraus zu erziehen. Wir haben Camus und Sartre gelesen und waren mental einfach auf einem ganz anderen Stern als das traditionelle Bindungsangebot des Gymnasiums.

    Nach der missratenen Prüfung beschließt Jarausch, aus der Enge des Adenauer-Deutschlands auszubrechen und in den USA zu studieren. Jarausch wird Historiker, ist heute Professor in North Carolina und gleichzeitig Leiter des Instituts für zeithistorische Forschung in Potsdam. In "Die Umkehr" schreibt er nun über die deutsche Nachkriegsgeschichte als geglückte Zivilisierung nach Auschwitz und Vernichtungskrieg, und als Jahrzehnte dauernden Abschied von aggressiven Tendenzen und autoritärem Habitus. "Die Umkehr" ist keine autobiografisch gefärbte Geschichtserzählung. Aber gerade Jarauschs deutsch-amerikanische Perspektive macht das Buch lesenswert. Denn Jarausch kann als halb Außenstehender schreiben, der die Veränderungen in Deutschland schärfer sieht:

    Ich schildere da am Anfang ein kleines Erlebnis am Frankfurter Flughafen mit einem Bundesgrenzschutzbeamten, der mich so ganz anders behandelt hat. Bei der Uniform war der Schlips verrutscht und er wünschte mir dann auch noch einen guten Tag und einen schönen Aufenthalt. Also, das war nicht meine Erinnerung an Deutsche in Uniform.
    Es hat eine Verwunderung hervorgebracht und diese Verwunderung war dann der Anlass, darüber nachzudenken, wie diese Veränderung sich langfristig abgespielt hat.


    Jarausch ist nicht der erste, der die deutsche Zeitgeschichte auf das Happy End der gelungenen Demokratisierung hin erzählt. Aber er sucht einen unverbrauchten Zugang zum Thema: Während Heinrich August Winkler die Bundesrepublik auf dem "langen Weg nach Westen" sah, will Jarausch die Nachkriegsgeschichte eben nicht nur als allmähliche Verwestlichung begreifen:

    Entmilitarisierung ist nicht Verwestlichung , Deutschland führte schon längst keine Kriege mehr, als westliche Demokratien fröhlich weiter machten.
    Man muss sich Fragen, was ist der Kern der Werte des Westens, wenn man die Gesellschaft befragt, stößt man auf die Menschenrechte, wenn man fragt was ist die Gesellschaftsform, die die Menschenrechte hervorbringt, kommt man auf die Zivilgesellschaft.


    Ein fundamentaler Aspekt (der Zivilgesellschaft) ist die gesellschaftliche Selbstorganisation durch freie Assoziation von Bürgern. Eine weitere Dimension betont Normen des zivilen Umgangs. religiöse Toleranz, Zivilcourage und Verantwortungsgefühl ... Problematischer, aber dennoch wichtig ist auch die ökonomische Selbstregulierung durch einen ungehinderten Markt ... schließlich handelt es sich um staatsbürgerliche Partizipation in Form ... demokratischer Beteiligung. So gesehen ist Zivilgesellschaft kein festgeschriebener Zustand ... sondern ein offenes Leitbild.

    Das Grundgesetz und die Schaffung demokratischer Institutionen ist für Jarausch die erste Etappe für den Weg Deutschlands zu einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Aber erst die weitgehend friedliche Kulturrevolution von 1968, so Jarausch, brachte nach der formalen Demokratisierung die innere Gründung der Bundesrepublik. Auch und gerade weil die politische Agenda der 68er scheiterte

    1968 ist eine Herausforderung an die Wissenschaft, die noch nicht wirklich angenommen ist, gerade in Bezug auf die Frage: was ist Ursache, was ist Wirkung. Ok es hat zwei Tote gegeben, aber jeder Unfall auf der Autobahn hat mehr Tote ohne dass es eine verändernde Wirkung auf die politische Kultur hat. Das politische Scheitern ermöglichte .. den Abbau autoritärer Strukturen, die Verbreitung emanzipierterer Lebensformen und einen Zuwachs an Partizipation, die die westdeutsche Kultur tief greifend veränderten. ... Das weitgehende Fehlen solcher Veränderungen in der DDR, das sich als gravierendes Hindernis nach der Vereinigung erwies, verdeutlicht die Wichtigkeit dieser sanften Kulturrevolution für die Zivilisierung der Bundesrepublik.

    Jarausch versucht Ost und West gleichermaßen zu berücksichtigen - wirklich zu ihrem Recht kommt die DDR-Geschichte aber erst an ihrem überraschenden Ende. Hier wird der Begriff Zivilgesellschaft auch zum politischen Schlagwort für den demokratischen Aufbruch in der DDR und ganz Osteuropa. Zivilgesellschaftliche Strukturen, die sich gegen den realsozialistischen Staat herausbildeten, bildeten die Basis für den Umsturz. Oppositionsbewegungen wie Neues Forum und Demokratie Jetzt verschwanden allerdings schon nach den ersten und letzten freien Wahlen in der DDR rasch von der Bildfläche

    Überraschenderweise hat die Mehrheit der Ostdeutschen die bereits existierende westdeutsche Gesellschaft, Demokratie und das Wirtschaftssystem gewählt . Und dann kam es zu einer Überlagerung: Ansätze einer ostdeutschen Entwicklung waren da, aber dann ist das westliche System nach Osten importiert worden, und es überlagert eben diese ostdeutschen Ansätze. Und daraus ergibt sich die Schwäche der ostdeutschen Zivilgesellschaft.

    Manchmal zu detailreich behandelt Jarausch die deutsche Nachkriegsgeschichte vom Kriegsende bis in die 90er Jahre - Das geht auf Kosten einer stringenten, konzentrierten Argumentation und verwässert seine eigentlich schlüssige Konzeption: Den Weg Deutschlands von der Diktatur zur Zivilgesellschaft nachzuzeichnen.
    Mit der Ankunft der Ostdeutschen in der westdeutschen Mehrheitsdemokratie endet Jarauschs Geschichte der deutschen Zivilisierung allerdings nicht. Sein letztes Kapitel widmet er der Herausforderung der Zivilgesellschaft durch die ungelösten Probleme Asyl- und Staatsbürgerschaftsrecht und die pogromartigen Zustände der Nachwendejahre. Jarausch nimmt die Ausschreitungen gegen Ausländer ernster als viele seiner Kollegen. Nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen mit dem Fremdsein in Deutschland:

    Und dann jedes Jahr wieder belegen müssen: ist man auch in Deutschland hat man auch genug einkommen, darf die Frau auch da sein, und alle solche Dinge. Als geborener Deutscher, wenn man immer wieder damit zu tun hat, wird man sensibler, als jemand, der schon immer da war und ich denke es ist ein Prüfstein der Zivilität.

    Ole Wackermann über Konrad H. Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 – 1995. Deutsche Verlags-Anstalt München, 500 Seiten für 29 Euro und 90 Cent.