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Konzeptkünstler On Kawara
Ganz viel Ich – aber kein Ego

"Ich stand um 12.17 Uhr auf" oder "Ich lebe noch" – mit Nachrichten wie diesen, auf Postkarten geschrieben, wurde On Kawara zu einer Legende. Das New Yorker Guggenheim Museum zeigt mit "On Kawara – Silence" nun die bisher umfangreichste Retrospektive auf den 1933 in Japan geborenen Künstler.

Von Sascha Verna | 09.02.2015
    Am 5. November 1969 schickte On Kawara seiner Bekannten, der Kunstkritikerin Lucy Lippard eine Postkarte aus Uruguay mit den Zeilen: "I got up at 12.17 pm", "Ich stand um 12.17 Uhr auf". Am 12. März 1992 erhielt On Kawaras Galerist in London ein Telegramm, in dem ihm der Künstler aus Köln mitteilte: "I am still alive", "Ich lebe noch". Und vom 4. Januar 1966 an bis zu seinem Tod 2014 malte On Kawara jeden Tag ein Bild mit nichts als dem Datum des betreffenden Tages darauf. Dabei folgte er stets demselben Muster: Es sind weiße Lettern vor schwarzem, grauem oder rotem Hintergrund in einem von acht Formaten. Es gibt Tausende solcher Ich-stand-dann-und-dann-auf-Postkarten und tausende Ich-lebe-noch-Telegramme an Dutzende von Adressaten. Und es gibt der Dauer von Kawaras Karriere entsprechend viele Bilder mit Daten in seiner legendären Today-Serie. Die Zeit, der Ort und das Ich als Konstante machen das Wesen von On Kawaras Werk aus.
    Das New Yorker Guggenheim Museum zeigt mit "On Kawara – Silence" nun die bisher umfangreichste Retrospektive auf den 1933 in Japan geborenen Künstler.
    Sein Werk wird häufig mit der Konzeptkunst assoziiert. Tatsächlich bewegte sich Kawara in New York, wo er wohnte, in denselben Kreisen wie Sol LeWitt, Dan Graham oder Joseph Kosuth. Dazu der Kurator Jeffrey Weiss:
    "Man sieht klare Ähnlichkeiten zwischen Kawaras Werk und dem seiner Kollegen, aber auch ebenso klare Unterschiede. Dazu gehört die ästhetische Qualität seines Werkes. Seine Arbeiten sind deutlich von Hand gemacht. Während andere Konzeptkünstler die Konventionen der künstlerischen Praxis hinter sich ließen, hat On Kawara versucht, sie neu zu erfinden."
    On Kawaras Werk steckt voller Widersprüche
    Die Farben für seine Today-Serie hat On Kawara jedes Mal neu gemischt. Das Rot vom 3. Dezember 2010 ist deshalb nicht dasselbe wie das vom 22. Mai 1967. Die Kartonschachteln, die er für jedes seiner Datenbilder anfertigte, sind erst recht handgemacht, und die Zeitungsausschnitte von dem Tag, die er dazu legte, immer anders.
    Sorgfältig zeichnete On Kawara auf Plänen die Wege nach, die er an bestimmten Tagen in bestimmten Städten gegangen war. Er füllte Ordner mit Listen der Leute, die er an bestimmten Tagen in New York, Paris oder Mexico City traf. Doch so zentral On Kawaras Ich ist, so unfassbar bleibt er.
    "Er verrät nie etwas über das, was er erlebt oder darüber, wie er sich gefühlt hat. Die scheinbare Subjektivität verpufft also, je länger man sich mit seinem Werk beschäftigt."
    Ganz viel Ich, aber kein Ego: On Kawaras Werk steckt voll von solchen Widersprüchen. So war die Gegenwart, die er in Zeiten und Daten festhielt, kaum fest gehalten, schon ewige Vergangenheit. Auch die Gleichförmigkeit seiner Arbeit erweist sich als überaus vielfältig. Allein die Sujets der Frühstückspostkarten reichen von argentinischen Gauchos bis zum Genfersee.
    Diese Ausstellung ist eine der wenigen, die wirklich in die Rotunde des Guggenheim Museum passt. Man spaziert die Spirale von On Kawaras Lebenszeit und Lebenswerk entlang und dreht sich um den Künstler, am Ort und um sich selber. Es ist eine mit beeindruckender Beharrlichkeit und überraschender Verspieltheit entwickelte Idee zum Anschauen, die einen das Ticken der Uhr erleben und zugleich vergessen lassen.