Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


"Kopf hoch, sagte der Henker"

"Kopf hoch, sagte der Henker, als er ihm die Schlinge umwarf. "Richte dich stets nach dem Kompass. Er weiß, wann man zittern muss." "Gib den Menschen die Wahl. Sei zweideutig."

Von Marta Kijowska | 04.03.2009
    Stanislaw Jerzy Lec ist Autor der legendären "Unfrisierten Gedanken". Ein Literat, der seiner Zeit so berühmt war, dass er in der Rubrik "Beruf" seinen Namen schrieb. Heute hingegen weiß kaum noch jemand, dass er nicht nur ein begnadeter Aphoristiker, sondern auch Lyriker, Epigrammatiker und Prosa-Autor war. Oder dass er neben Polnisch ein akzentfreies Deutsch sprach, in dem er - wie gerade gehört - gern seine Aphorismen vortrug. Noch weniger kennt man die Stationen seiner Biografie.

    Auf eine behütete Kindheit in Lemberg und Wien folgte ein bewegtes, ereignisreiches Erwachsenenleben: Linke Aktivitäten in den dreißiger Jahren, die Lec beinahe seine Freiheit gekostet hätten. Zwei Jahre Konzentrationslager, in das er aufgrund seiner jüdischen Herkunft eingeliefert wurde und in dem er zweimal nur knapp dem Tod entkam. Flucht aus dem Lager und Teilnahme an Partisanenkämpfen. Diplomatenkarriere im Nachkriegs-Wien. Unerlaubte Emigration nach Israel und Rückkehr ins stalinistische Polen. Und schließlich ein vorzeitiger Tod im Alter von nur 57 Jahren. Die Aufzählung der dramatischen Momente ließe sich fortsetzen.

    "Fasse dich kurz. Die Welt ist mit Worten übervölkert."
    Unmittelbar nach der israelischen Episode wurde Lec mit striktem Druckverbot belegt, und um ihn entstand ein Vakuum. Bekannte taten so, als würden sie ihn nicht wiedererkennen; Freunde versuchten ihm aus dem Weg zu gehen. In diesen Monaten der Isolation fing er an, Aphorismen zu schreiben. Doch auch sie durften nirgendwo erscheinen. Erst Mitte der fünfziger Jahre, während des sogenannten "Tauwetters", begann die Warschauer Presse, sie einzeln abzudrucken. Sie schlugen schon nach kurzer Zeit alle Rekorde der Popularität. Dass jemand plötzlich über die Zustände reflektierte, ohne die Dinge beim Namen zu nennen, versetzte die Polen in helle Begeisterung.

    Allmählich wurde der Name Lec auch im Ausland bekannt. Für Deutschland entdeckte ihn Karl Dedecius, dessen erste Übersetzung der polnischen Lyrik gerade erschienen war. Als er im Herbst 1959 nach Warschau kam, lernte er Lec persönlich kennen. Der, wie es schien, modernste und aufregendste Literat Warschaus überraschte ihn: Er sprach ein perfektes Wienerisch, über seinem Schreibtisch hing ein Bild Kaiser Franz Josephs, und auch sonst tat er alles, um seine Treue zu der habsburgischen Monarchie zu demonstrieren. Seine Selbstinszenierung hing allerdings - wie sich sein Sohn, der Grafiker Tomasz Lec, erinnert - mit einem bestimmten Charakterzug zusammen.

    "Mein Vater war ein ironischer Mensch, egal ob als Schriftsteller oder als Privatmann. In dieser Hinsicht hatte er keine zwei Gesichter. Sein Kult von Kaiser Franz Joseph äußerte sich, soweit ich mich erinnern kann, hauptsächlich in materieller Form: das Porträt des Kaisers über dem Schreibtisch, Ansichtskarten, die ihm Freunde aus Wien oder Bad Ischl schickten, Manschettenknöpfe, die er später von Karl Dedecius bekam, oder auch Zeichnungen, die ich zu Vaters Geburtstag anfertigte. Diesen Kult gab es also tatsächlich. Er hing aber mit dem besagten Hang zur Ironie zusammen.

    Ein anderes Beispiel: Vater stammte zwar aus einer Gutsbesitzerfamilie, hatte aber vor dem Krieg entschieden linke Ansichten, sodass er sogar irgendwann aus Lemberg fliehen musste, um der Verhaftung zu entgehen. Dann, unmittelbar nach dem Krieg, als er kurz in Lodz lebte, fing er auf einmal an, Gedichte auf deutsch zu schreiben - was ja unter den damaligen Umständen völlig absurd war. Als er wiederum von seiner Emigration nach Israel zurückkehrte - und das war auf dem Höhepunkt des Stalinismus, im Jahre 1952 - besann er sich plötzlich auf den Barontitel und den Zusatznamen "de Tusch", die Kaiser Franz Joseph seinem Vater beziehungsweise seinem Großvater verliehen hatte, und nannte sich von nun an "de Tusch-Letz". Bis dahin hatte er sich Stanislaw Jerzy Lec oder sogar nur Jerzy Lec genannt und seinen Nachnamen mit c geschrieben. Er besann sich aber nicht nur darauf, er ließ sich das auch ohne Rücksicht auf Konsequenzen in den Personalausweis schreiben. Er hatte also einen trotzigen Geist, den er wirklich bei jeder Gelegenheit demonstrierte."

    So schien ihm auch der Aphorismus als Gattung auf den Leib geschrieben zu sein. Nicht zufällig wird dieser gelegentlich "das Sprichwort der Gebildeten" genannt - er soll zur Reflexion anregen, durch unkonventionelle Schlussfolgerungen überraschen und mit einer geschliffenen Pointe amüsieren. All das taten die "Unfrisierten Gedanken", die schon nach kurzer Zeit nicht nur als literarische Rarität, sondern auch als eine Art politisches Barometer galten: Am Grad ihrer Schärfe konnte man erkennen, wie es gerade um die Meinungsfreiheit im Lande stand.

    "Viele Dinge muss man ad absurdum führen. Sie sollen ihren Vater kennen lernen."

    Lec' Aphorismen richteten sich aber nicht nur gegen die Missstände in Polen. Sie hatten eine Allgemeingültigkeit, die sich aus der Beschäftigung mit, wie Karl Dedecius einmal nachzählte, sechs Themenkreisen ergab: Religion, Sitte, Staat, Macht, Wahrheit und Recht. Davon ließen sich unzählige weitere Themen ableiten: Kontinuität der Kultur, Verführbarkeit des Menschen oder Freiheit des Individuums. Dass sich daraus ein Protest gegen jeden Missbrauch der Macht, alle falschen Staatssysteme oder das soziale Unrecht im allgemeinen ergab, versteht sich fast von selbst. Dennoch fiel es dem polnischen Publikum schwer, darin kein Abbild der Zustände im eigenen Land zu sehen.

    "Die Rezeption von Vaters Werk im Westen und in Polen, das sind meines Erachtens zwei verschiedene Dinge. Erst heute strebt man nach einem gemeinsamen Nenner, indem man Lec übereinstimmend als einen Philosophen bezeichnet. Damals aber, als er durch seine Aphorismen bekannt wurde, ging man mit ihm auf zwei verschiedene Arten um. Ich habe den Eindruck, dass man sein Werk im Westen von Anfang an weniger danach beurteilte, dass es hinter dem Eisernen Vorhang entstanden war, als nach seinem allgemeinmenschlichen und philosophischen Gehalt.

    In Polen hingegen, wo doch eine gewisse Unfreiheit herrschte, wurde diese Rezeption viel stärker durch politische Konjunkturen bedingt. Das heißt, man las Vaters Aphorismen im Zusammenhang mit der aktuellen politischen Situation, man suchte darin vor allem nach politischen Anspielungen. Denn das Kabarett und die Satire waren auch in Polen die zwei wichtigsten politischen Ventile, obwohl man sich hier viel mehr erlauben konnte als in anderen Ostblockländern.

    Das Publikum wartete also auf die neuen "Unfrisierten Gedanken" nicht um darin nach Poesie oder Philosophie zu suchen, sondern um sie als eine politische Provokation zu lesen. Dieser Anspruch besteht erstaunlicherweise bis heute. Wenn Vaters Aphorismen öffentlich zitiert werden, dann immer in einer politisch brisanten Situation und meistens von den Politikern selbst. Die intellektuellen Eliten hingegen, die mit diesem Werk auf einer ganz anderen Ebene umgehen, sehen in Lec längst einen Dichter und Denker. Und damit gleichen sich die polnische und die westliche Rezeption immer stärker an."

    Lec war stolz darauf, dass er als Meister der literarischen Kurzformen galt. Er klagte aber auch gelegentlich darüber, dass man in ihm nur den Aphoristiker oder - noch schlimmer - nur den Satiriker sehe und sein lyrisches Werk zu wenig beachte. An diesem Zustand sollte sich weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem überraschenden Tod im Jahre 1966 etwas ändern.

    Der Erfolg der "Unfrisierten Gedanken" hingegen blieb über viele Jahre ungebrochen. Schon die Erstausgabe von 1960 musste gleich in zwei Auflagen nachgedruckt werden, und auch die weiteren Sammlungen - "Neue-", "Späte-", "Letzte-" und "Allerletzte unfrisierte Gedanken" - gingen in fünfstelligen Auflagen über den Ladentisch.

    Und obwohl Lec in den letzten Jahren ein wenig in Vergessenheit geraten ist, findet auch seine Gesamtausgabe von 2007 - ein Band, der alle Aphorismen, Epigramme, Prosatexte und Gedichte enthält - weiterhin ihre Leser. Vermutlich staunen sie oft über die Aktualität und die Treffsicherheit der "Unfrisierten Gedanken". Etwa in Bezug auf die begrenzten Perspektiven jedes Einzelnen ... .

    "Noch einmal von vorn anfangen. Doch wie vorher aufhören?"

    "... aber auch der Welt im allgemeinen."

    "Der Mensch wird siegen. Über den Menschen."