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Kopf versus Bauch

Erich Kästner sagte, große Opernmusik sei, als wenn es Bonbons regne. Wer hörte nicht gern Giuseppe Verdi, Richard Strauß oder Puccini? Das Musiktheater, die klassische Oper zumal, gehört nicht nur zur gelegentlich gescholtenen Hochkultur, sie ist auch eine der lukullischsten Kunstformen. Appelliert sie doch an alle Sinne, das Publikum badet in Gefühlen, die Ohren in Klängen, Stimmen und Atmosphären, die Augen in Farben, Kostümen und Dekoration. Oper betört Viele, auch wenn die musikalische Umsetzung nicht immer erste Wahl ist. Und dann kommt da so ein Musikkritiker daher, der daran herummäkelt; manch ordentlicher Bürger liest's am übernächsten Tag im Blatt und nimmt übel.

Moderation: Rainer B. Schossig |
    Rainer B. Schossig: Frage an Jürgen Kesting, Musikkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an wen wendet sich Opern-Kritik heute?

    Jürgen Kesting: Die Kritik wendet sich natürlich zum einen an die Künstler, die vielleicht auch mit sich selber bekannt gemacht werden, wenn man in einer vernünftigen Form kritisiert, das Zweite, es ist ein Übersetzungsdienst für das Publikum, das gerade heute, in der Zeit des Regietheaters mit vielen Inszenierungen seine Schwierigkeiten hat, nicht zurecht kommt, nicht begreift, das Stück nicht wieder erkennt. Sie wissen ja, eine alte Erfahrung ist, man hält für werktreu, was man zuerst, als erste Inszenierung mal vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren gesehen hat. Und da muss man versuchen, eine Inszenierung, eine Regie, und dann die musikalischen Leistungen adäquat zu beurteilen.

    Schossig: Sie haben jetzt gesagt, zunächst also wichtig für den Künstler, man sagt ja, wenn keine Kritik erscheint, hat die Sache gar nicht stattgefunden, aber sie sagen auch als zweites, Anwalt des Publikums, oder nur Vermittler. Was meinen Sie mit dieser Vermittlungsrolle?

    Kesting: Nein, nein, nein. Eher Vermittlung für das Publikum. Es hat natürlich schon stattgefunden, aber die Künstler sind enttäuscht, wenn sie nicht erwähnt werden. Sie können manchmal sogar Kritik besser vertragen, als das ignoriert werden. Die warten darauf. Und viele Regisseure und auch Sänger haben gesagt, wie wollen wissen, wie das, was wir gemacht haben, gefunden wird. Jeder von denen hat ein, wie Wagner sagen würde, anerkennsbegehrliches Herz, also er will gelobt werden. Und wenn man klar macht, dass man kritisiert, nicht um zu mäkeln, sondern als enttäuschter Liebhaber der Sache, dann wird das auch durchaus akzeptiert.

    Was mir schon sehr, sehr wichtig ist, dass viele Zeitungen, die für die ich schreibe, die FAZ, Gott sei Dank nicht, doch relativ wenig Raum geben, für differenzierende Kritik. Und auch da weiß ich aus Reaktionen, dass, sobald man auf Details eingeht, eine große Zahl von Lesern sehr positiv reagiert. Sie finden es wichtig, dass man wirklich analysiert und genau beschreibt und nicht einfach nachbetet, was von der gigantischen Werbemaschine der großen Firmen, ob das nun irgendeine neue Sopranistin, oder ein neuer Tenor ist, was da verbreitet wird. Man muss auch den jungen Leuten sagen, dass sie diesen Raum frei kämpfen müssen, weil es immer nur davon abhängt, was einer persönlich wagt und riskiert und sich anstrengt, wirklich sinnvolle Informationen zu geben.

    Schossig: Nun nähern wir uns mal etwas der Debatte um die Kritik, die ja gerade aufgeflammt ist am Beispiel der Literaturkritik, da hat der Kritiker Hubert Winkels ja zwei hübsche Begriffe in diese Debatte geworfen, es gäbe Gnostiker und Emphatiker, also, solche Kritiker, die es nach wie vor genau wissen wollen und solche, die eher Erlebnis- und Bauchgefühle pflegen. Gibt es das in der Musiktheaterrezeption auch?

    Kesting: Das gibt es sicher. Wahrscheinlich ist oft die Zeit viel zu gering und viel zu kurz, um Gnostiker zu sein und manche sind eben Emphatiker oder schildern einfach, was sie auf der Bühne gesehen haben. Ich glaube, eine Mischung ist angebracht. Also dem Kenner Satisfaktion, ein Zitat von Mozart, und dem Publikum Plaisier geben, das ist eigentlich die Aufgabe. Eine Verbindung aus genauer Analyse, aber auch die Emphase für etwas, das gut gelungen ist. Mir sind Leute, die nicht loben können, die nicht enthusiastisch sein können, genau so verdächtig, wie die puren Emphatiker.

    Schossig: Sie haben es jetzt so etwas auf die Schiene des Subjekts des Kritikers geschoben, da gibt es eben solche und solche, je nach Temperament. Würden Sie sagen, dass es, wie es ja Hubert Winkels meint, eine richtige Spaltung gibt, dass es also eine Szene gibt, die sehr, sehr differenziert, vielleicht sogar gegeneinander zu Felde zieht, unter den Musikkritikern?

    Kesting: Ach mit dem gegeneinander zu Felde, dafür gibt es eigentlich nur selten und nur wenig den Raum, das ist in der Literaturkritik, die ja beispielsweise in den Zeitungen oder etwa in der "Zeit" unendlich viel mehr Raum bekommt, ausgeprägter. Die Argumentation ist in der Regel auch differenzierter, auf einem anderen intellektuellen Niveau. Ich meine Reich-Ranicki ist jahrelang dafür kritisiert worden, das er immer ein Emphatiker war, und leidenschaftlich abgelehnt hat, und heute ist er zu einer, ja, sakrosankten Figur geworden und keiner kann ihm noch etwas anhaben.

    Schossig: Vielleicht hat er das ja verbunden was Sie vorhin meinten, dass man also eine Mischung herstellen müsse. Diese Trennungen sind ja ohnehin sehr problematisch, wir sind ja hier sehr nah auch an dieser unseligen Unterscheidung in U- und E-Musik, also in Event- und Studioqualität, Donaueschingen versus Colour-Line-Arena. Sie sind ausgewiesener Kenner klassischer Musik, wo steht Musikkritik da, also welche Berührungsängste pflegt sie?

    Kesting: Also ich habe große Berührungsängste, wenn es um die Arenen geht, weil das eigentlich mit der Sache wenig zu tun hat und erwiesenermaßen auch nie dazu geführt hat, dass so genannte breite Publikum sich daraufhin in die Oper begibt. Das ist ein, glaube ich, ein Trugschluss.

    Schossig: Die bleiben in der Arena?

    Kesting: Die gehen zum nächsten Event. Ich finde die Polarisierung Donaueschingen auf der eine Seite und Hochkultur auf der andere Seite auch problematisch. Donaueschingen, und viele Festivals der Neuen Musik, waren von Anfang an, nicht nur nach 1950, sondern auch in der 20er, 30er Jahren eine Angelegenheit eines kleinen Zirkel, dem es irgendwann gelungen ist, per Mundpropaganda etwas bekannt zu machen, was ein ganz, ganz wichtiger Faktor ist. Und ich glaube nicht an die Pseudodemokratisierung, dass man alle mit allem erreichen kann. Sie können mit bestimmten neuen Werken ein Publikum, das sagen wir primär Puccini oder Lehár hört, können sie nicht überzeugen.

    Schossig: Aber hat sich nicht die Musikproduktion, und wäre das nicht auch eine Aufgabe des Musikkritikers, hat sie sich nicht in einen, ja in ein Glasperlenspielbereich begeben, wo sie wirklich per Definition nur noch eine ganz geringe Minderheit der Bevölkerung und auch des Musik liebenden Publikums erreicht. Das wäre doch auch eine Aufgabe, die die Kritik leisten müsste.

    Kesting. Das glaube ich nicht, dass das stimmt. Natürlich ist das Repertoire der klassischen Musik absehbar und begrenzt. Aber die Vielzahl der Aufnahmen, auch das was in jedem Haushalt vorhanden ist, ist eher ein Indikator dafür, dass es mindestens so häufig gehört wird, vielleicht auch manchmal genau so gehört wird, wie der Schlager gehört wird. Wir dürfen nicht die Musikproduktion, die von den großen Firmen, oder meinetwegen auch von den Sendern ausgeht, verwechseln mit der Rezeption von Musik. Viele Leute hören am Wochenende, oder am Abend eine Symphonie von Mozart, ein Quartett von Schubert oder irgend so etwas, und zwar konzentriert, konzentrierter vielleicht als früher.

    Schossig: Sie haben ja selbst früher in der Schallplattenindustrie gearbeitet, die Rolle der Musikkonserven nimmt weiter zu, trotz der großen Krise über das Internet. Auf welchen Kanälen das auch immer jetzt passiert, es ist ein wachsender Markt, denke ich, wie nahe, wie weit entfernt muss, beziehungsweise darf der Musikkritiker diesem Kommerzfeld sein?

    Kesting: Er muss über das Kommerzfeld informiert sein. Man ist auf das angewiesen, man muss selektiv arbeiten, es ist nach wie vor so, dass viele Firmen, gerade auch die kleineren, mit wichtigen Produktionen aus Randbereichen nach vorne gekommen sind. Wir hatten, als ich in der Musikbranche gearbeitet habe, das ist nun gut 32 oder 33 Jahre her, vier oder fünf große Firmen, die den gesamten Markt beherrscht haben. Inzwischen haben wir auch noch ein paar große Firmen, aber wir haben 30, 40 kleinere Labels, die ihren eigenen Weg gehen und diesen Weg zum Teil auch sehr erfolgreich gehen. Und bestimmt so viele Menschen erreichen, wie früher erreicht worden sind.

    Schossig: Das war in unserer Reihe Krise der Kritik heute der Musikkritiker Jürgen Kesting zu Fragen der Rezeption des Musiktheaters in Deutschland.