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Kopfstücke

Es war ein wunderbar rabenschwarzes Debut, das die Linzerin Elfriede Kern im vergangenen Jahr mit ihrem Roman "Etüde für Adele und einen Hund" hinlegte. Der Titel des Buches spielt dabei nicht nur auf die exklusiven Klavierabende an, mit denen ein arthritischer Ex-Pianist seine Haushälterin bei Laune hält, sondern liefert zugleich eine Charakteristik des Textes selbst. Nach diesem Übungsstück zur Lösung von spieltechnisch schwierigen Aufgaben konnte man auf weitere Kunststücke gespannt sein. "Kopfstücke" ist der neue Roman Elfriede Kerns, und seine zyklische Gliederung in "Waldstück", "Winterstück" und "Nachtstück" weckt denn auch entsprechende Erwartungen an literarische Transpositions- und stilistische Improvisationskünste. Das artistische Kalkül und der abgründige Humor hinter dieser Partitur wären aber nicht vollständig, wenn Elfriede Kern ihre "Kopfstücke" nicht wiederum ganz wörtlich nehmen würde. Entsprechend fällt der Roman mit der Tür ins Haus:

Annette Brockhoff |
    "Das Loch stammt von Hans. Ich lasse es nach Möglichkeit niemanden sehen und trage immer ein Tuch, das ich weit ins Gesicht ziehe. Es muß mir gelingen, unauffällig zu bleiben, denn ich habe nur zwei Täler zwischen mich und Hans gebracht. Er könnte ganz leicht herausfinden, wo ich mich aufhalte. Fürs erste bin ich aber in Sicherheit."

    Hans oder die Axt im Wald: Mit einer Spitzhacke hat er seiner Stiefschwester Yolande ein Loch in den Schädel geschlagen - für die Ich-Erzählerin ein Grund zur Flucht, jedoch kaum zur Panik. Ein Befreiungsschlag eher, zynisch gesprochen. Im Präsens schmerzlos und unerbittlich konstatierender Kern-Sätze richten wir uns mit der Schwerverletzten in einem leerstehenden Bauernhaus ein, pflegen die Wunde und harren der Dinge, die da kommen sollen. Entsprachen schon die Umstände der Tat und das Vorleben des Opfers allen gängigen Bergdorfklischees, kann es eigentlich nur ein einsamer Jäger sein, der des Wegs daher kommt und nach dem rechten sieht. Erwin heißt er, doch der interessiert sich weniger für’s woher und wohin als für den sauber klaffenden Spalt in Yolandes Schädel. Ähnlichkeiten mit anderen offenen Körperstellen sind rein zufällig. Yolandes "Gastgeber", eine Lieblingsfigur Elfriede Kerns, macht aus seinen fetischistischen Neigungen auch gar keinen Hehl und bringt alsbald noch ein paar Kumpane mit. Der Preis für Kost und Logis: eine Berghütten-Peepshow mit offenem Schädel und hochgezogenem Röckchen als Dauerinstallation.

    Während wir uns noch fragen, ob es sich bei Kerns "Kopfstücken" auch um die literarischen Folgen eines anhaltenden Schädeltraumas handeln könnte, eine Art chronisches Delirium des Opfers, gelingt Yolande nach einigem Versteckspiel und diversen Verfolgungsjagden die Flucht aus dem "Waldstück", um, inzwischen sind wir im "Winterstück" angekommen, schließlich bei einem pensionierten Anwalt zu überwintern. Doch auch ihr neuer "Gastgeber", dem sie sich unentbehrlich macht, ist von ihrer nicht schmerzenden Kopfwunde unwiderstehlich angezogen, die sie ihm mit einer Lügengeschichte erklärt. So ist es nicht der fetischistische Blick, mit dem er sie traktiert, sondern mit Fragen nach der von ihr angewandten Bohrtechnik. Der Gedanke, sich mithilfe der Trepanation Linderung zu verschaffen, wird von dem von ominösen Anfällen Heimgesuchten schließlich zur Obsession und das "Winterstück" zur Etüde für Bohrer und ähnliche Werkzeuge. Mobiliar und anderes spaltbares Material gehen zu Bruch, schließlich soll ein Rinderkopf für eine Probebohrung herhalten. Bei ihrem Gang durchs Schlachthaus, wo sie ein solches "Kopfstück" zu ergattern hofft, reift in Yolande wieder einmal der Entschluß, ihrem lästig gewordenen Gastgeber den Rücken zu kehren.

    Befreiungsschläge, Umwege, neue Abhängigkeiten - erzählt ohne Wut und ohne Wehmut. Doch während Yolande schon wieder fröhlich auf der Walz ist, hat der Leser im langen Winter des Romans und der insistierenden Monotonie seiner umwegigen Syntax inzwischen einige Federn gelassen und ist des Streunens müde. Denn trotz der subtilen Bösartigkeit, die sich unter der naiven, holzschnittartigen Diktion ausbreitet, geht den "Kopfstücken" im Laufe ihrer Kapriolen der Atem aus - ein Seiltanz ohne Seil, zumal die geweckten Erwartungen an stilistische oder konzeptuelle Verwandlungskünste trotz der thematischen Variationen kaum erfüllt werden.

    Verwöhnt vom Nachtstück Hoffmannscher Prägung und den wahrlich "höllenbreughelschen Gemälden", die der Maler und Musiker zeichnete, ist man vom esoterischen Schauerapparat des den Zyklus beschließenden "Nachtstücks" dann endgültig frustriert. Yolande gerät hier nicht nur in den Bann einer schrägen Streunerin namens Cora, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von magischen Opfersäckchen bestreitet, sondern muß aus kaum erfindlichen Gründen auch ihren Erzählerinnenpart an die Mitstreiterin, die dubiose Hexenmeisterin abtreten, ohne daß dies übrigens am Sprachgestus auch nur das geringste ändern würde. Doch nicht genug damit: Zum Objekt obskurer Begierden wird nun Yolandes Bein, das bei einem Unfall lädiert wird und das die dubiose Mitstreiterin per telepathischer Amputation ihrem treulosen, ebenfalls beingeschädigten Ex-Geliebten anzudichten beschließt, der - ganz nebenbei - als Ausbund parasitärer Ignoranz den Reigen ewiger Knechtschaft, das doppelbödige Martyrium weiblicher Erniedrigung und Selbsterniedrigung komplettiert.

    "Plötzlich gibt es Hoffnung für Arthurs Bein. Es kann gerettet werden, wenn eine andere Person ihr einigermaßen funktionstüchtiges Bein verliert. Ich habe das immer gewußt, aber bis jetzt nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Wenn die Transaktion glücken soll, ist allerdings eine äußerst aufwendige Zeremonie notwendig, die ich noch nie durchgeführt habe. Ich bin aufgestanden und habe mich noch ein wenig von Yolandes Bank entfernt. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn sie sich andauernd nach mir umsieht. Es muß mir gelingen, Arthur zu imaginieren. Ich habe mich über die Maßen angestrengt und bin schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß es um sein Bein schlechter denn je steht."

    Schlechter denn je, wie man merkt, steht es inzwischen aber vor allem um den Roman, der sich im Dickicht medialer Transplantationswünsche bis zur Orientierungslosigkeit verheddert und müder und müder dahinschleppt. Hatte Elfriede Jelinek in ihrem pornographischen Roman-Versuch "Lust" einen tiefen Blick ins eigene Geschlecht getan, bleibt von den "Kopfstücken", der Wunde, die Elfriede Kern auf die weibliche Stirn geschrieben hat, nichts als ein dumpfer Kopfschmerz zurück. Und so sitzen wir am Ende mit Yolande ratlos im Zug nach Nirgendwo und horchen wehmütig zurück auf die "Etüde für Adele und einen Hund".