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Kopieren im Namen der Kunst

Viele namhafte Künstler, wie Ingres, arbeiteten im Louvre nebenher als Kopisten. Die Bezahlung stimmte - aber auch der haargenaue Blick des Künstlers auf die Techniken und Tricks der grossen Vorbilder war die Arbeit schon wert. Bis heute hat sich das nicht geändert, weiß Michel Marchand, zeitgenössischer Kopist im Louvre.

Von Hans Woller |
    Michel Marchand ist sehr früh aufgestanden, zwei Stunden Zugfahrt aus der Normandie hat er bereits hinter sich, um jetzt hier vor Georges de la Tours "Anbetung der Hirten" zu stehen. Seine Kopie in Pastellfarben, deutlich heller in den Tönen als das Original, ist fast fertig. Um das erleuchtete Jesuskind herum Maria, Joseph und die drei Hirten, mit bäuerlichen Gesichtern, wie sie de la Tour im 17. Jahrhundert in seinem lothringischen Heimatort gekannt hat:

    "Ich war heute Morgen hier mit de la Tour verabredet und habe mit ihm diskutiert. Nicht immer bin ich mit ihm einverstanden. Aber es ist schon phantastisch. Ich habe sehr früh gemerkt, dass das Kopieren die beste Schule überhaupt ist für die Malerei."

    Seit 6 Jahren stellt Michel Marchand immer wieder Anträge, um im Louvre kopieren zu dürfen. Auf der Rückseite seiner Leinwand ist die Genehmigung aufgedruckt, ausgewiesen als zugelassene Kopie des Louvre. Das Museum stellt sogar die Staffelei und den Hocker zur Verfügung:

    "Vielleicht habe ich die Staffelei und den Hocker von Monet, Boudin oder Ingres. Ingres hat hier im Louvre kopiert, als er schon 80 war. Er suchte immer noch nach den Kleinigkeiten, wollte wissen, wie oder warum der eine oder andere das so gemacht hat und nicht anders. Das ist unglaublich, wenn man weiß, welchen Platz Ingres heute einnimmt."

    Michel Marchand krempelt die Ärmel seines Pullovers hoch und streicht auf seiner Kopie mit dem Daumen über das Kleid Marias, um die Farbtönung in den Falten zu korrigieren:

    "Das Licht, die Stimmung, sind außergewöhnlich in dem Gemälde. Ich bin jetzt, nach fast drei Monaten, mit meiner Kopie fast fertig, aber eine Sache stört mich enorm: Ich habe den Eindruck, dass De la Tour die Frauen nicht mochte. Natürlich ist das mein ganz persönlicher Eindruck. Aber, Hand aufs Herz: ist dieser Blick der Mutter wirklich ein mütterlicher Blick? Für mich nicht. Ich bin jetzt seit sieben Monaten Großvater und es war für mich eine Freude, das Gesicht des kleinen Jesus zu malen. Und auch Joseph scheint einen ganz normalen Kontakt zu haben, während die Mutter weit entfernt scheint. Ja, hochnäsig."

    Michel Marchand, Mitte 50, grau melierter Bart und Brille mit silbernem Rand, hat es als Maler nicht leicht gehabt. Erst seit 15 Jahren kann von seinen Arbeiten auch leben:

    "Ich habe erst alle möglichen Jobs gemacht, weil mein Vater mir immer verboten hatte, auf die Kunstakademie zu gehen. Für ihn war das ein Ort voller Gauner und Faulpelzen. Er wollte, dass ich einen "anständigen" Beruf ergreife. Er hat mir nie auch nur einen Pinsel oder einen Stift bezahlt. Ich habe alles heimlich gelernt. Aber ich hatte das Glück, dass der Arzt, der mich zur Welt brachte selber auch malte und mich immer ermutigte weiterzumachen."

    Er sei Maler, ob er auch Künstler sei, wisse er nicht. Dieses Urteil überlasse er den anderen, sagt Michel Marchand, der zu Hause in der Normandie an seinen eigenen, zeitgenössischen Bildern arbeitet:

    "Ich arbeite viel über Jazz zurzeit. Ich habe eine ziemlich beeindruckende, zeitgenössische Produktion. Es mag paradox erscheinen, aber der Louvre bringt mir für meine zeitgenössischen Arbeiten enorm viel. Eine Art Freiheit für meine Kreationen. Hier bin ich gezwungen zu kopieren, zu machen, was der Künstler vor drei Jahrhunderten gemacht hat. Wenn ich dann am nächsten Tag zu Hause vor meiner weißen Leinwand stehe, sage ich mir: Auf geht’s, warum nicht! Seit ich im Louvre arbeite, bin ich viel kreativer."

    Die Kopie von de la Tours "Anbetung der Hirten" will er an ein Nonnenkloster in der Normandie verkaufen. Ansonsten hat er aber auch unter den Besuchern des Louvre immer wieder Kunden:

    "Es gibt enorm viele, die an mich herantreten. Neulich war ich mit einem Galleristen aus Beirut in Kontakt, der dieses Bild hier gesehen hat und es haben wollte. Aber angesichts der Situation in Beirut, wird daraus wohl nichts. Ich habe auch schon an Amerikaner verkauft, eine Kopie von mir hängt irgendwo in Ohio. Das ist schon lustig. Ich habe meine Visitenkarte in der ganzen Welt. Letzte Woche waren Chinesen interessiert."

    Auch wenn manche Kopien von Ölgemälden beim Verkauf bis zu 10.000 Euro erzielen, Michel Marchand sagt - und man glaubt es ihm - allein wegen des Geldes komme er nicht hier her.