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"Koran oder Grundgesetz?"

Die Diskussion um Integration und Bildungserfolge bei Migranten hat auch die politischen Zeitschriften erreicht - Norbert Seitz hat die wichtigsten Debattenbeiträge für uns zusammengetragen.

Von Norbert Seitz |
    "Es lernt der Mensch solang er lebt". Unter diesem klassischen Titel entwickelt Ada Pellert, die Gründungspräsidentin der Universität für Weiterbildung in Berlin, ihr Bildungsideal im Gespräch mit der Zeitschrift "Universitas". Frage aus aktuellem Anlass: Welche Chancen werden dabei Migranten eingeräumt?

    Was bedeutet Zuwanderungsgesellschaft? Richte ich mich auf eine zunehmend heterogene Gesellschaft ein, oder nehme ich das als Ausnahmezustand nach dem Motto: Irgendwann verlassen "die" uns wieder? Partizipation also nicht als ein Almosen, sondern weil ich sage: Mensch, das sind tolle Talente, die brauchen wir. Das muss bei uns noch viel kräftiger und entschlossener angegangen werden ( ... ). Wenn unsere Schulen von Kindern mit Migrationshintergrund besucht werden, dann sollte sich diese kulturelle (Verschiedenheit) auch in der Lehrerschaft widerspiegeln.

    Das ist ein hoher Anspruch. Für gehörig Zündstoff sorgt dagegen die Wirklichkeit in unseren Parallelgesellschaften, wie von der freiwillig aus dem Leben geschiedenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrer posthum erschienenen Streitschrift "Das Ende der Geduld" geschildert. Im Magazin "Cicero" setzt sich Christian Pfeiffer mit der Hauptthese des Buches auseinander, wonach es sich bei 70 bis 80 Prozent der gewalttätigen Mehrfachtäter um Jugendliche mit Migrationshintergrund handele. Der Hannoveraner Kriminologe relativiert solche Zahlen:

    Wenn der deutsche Max vom deutschen Moritz angegriffen wird, beträgt die Anzeigequote 19,5 Prozent. Sie steigt hingegen auf 29,3 Prozent, wenn es sich beim Täter um den türkischen Mehmet handelt. Bei der umgekehrten Konstellation, dass ein junger Migrant von einem deutschen Täter angegriffen wird, sinkt sie dagegen auf 18,9 Prozent. Junge Deutsche haben also ein erheblich niedrigeres Risiko als junge Migranten, wegen ihrer Taten eine Strafverfolgung zu erleben.
    Die Vertreter einer grundsätzlicheren Islamkritik dürften hinter solchen Argumenten nur zahlenakrobatische Abwiegeleien vermuten. "Koran oder Grundgesetz" laute die kreuzzüglerische Alternative von Hendryk M. Broder über Necla Kelek bis Ralph Giordano. Schreibt Patrick Bahners in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" und versucht dabei die strenge Sichtweise jener Islamkritiker als "Intellektuellenreligion" zu entlarven. Begründung: Die Werte der aufgeklärten Gesellschaft würden ausdrücklich zu letzten Prinzipien erhoben:

    (Jene) Intellektuellenreligion kann sich einen sozial unschädlichen Glauben nur nach dem Modell der komplett vergeistigten Endformen des deutschen und amerikanischen Protestantismus denken, als Spiritualismus der reinen Innerlichkeit. Jede (Anpassung durch neue Wahrnehmungen) wird im Namen der (Unvereinbarkeit) abgelehnt, weil das Grundgesetz selbst an die Stelle des Korans treten soll.
    Doch was heißt schon "der" Koran? Nach Fertigstellung seiner Neuübersetzung weist etwa Koranforscher Hartmut Bobzien im Gespräch mit der Zeitschrift "Universitas" auf eine irritierende Interpretationsvielfalt hin:

    Es gibt mehr als zwanzig vollständige deutsche Koranübersetzungen, daneben mindestens fünf bedeutende Teilübersetzungen. Allein seit den 1980er-Jahren kamen sieben neue muslimische Übersetzungen auf den Markt. Allerdings sind einige der älteren Koranübersetzungen nur noch von historischem Interesse ( ... ) Man spricht (aber) muslimischerseits in der Regel nicht von "Übersetzungen des Korans", sondern umschreibt sie als "Übersetzung der Bedeutungen" oder noch vorsichtiger "der ungefähren Bedeutungen" des Korans.
    In den hitzigen Debatten um die Bücher von Kirsten Heisig und Thilo Sarrazin pflegen die wohlwollenden Befürworter einer Migration gerne die negativen Folgen einer massenhaften Abwanderung für die Herkunftsländer zu unterschlagen. Charlotte Wiedemann widmet sich in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" diesem weithin vernachlässigten Thema mit Blick auf den schwarzen Kontinent. Die 50-jährigen Unabhängigkeitsjubiläen vieler afrikanischer Staaten würden von zwei bedauernswerten Phänomenen begleitet:

    Dem Wunsch vieler Jugendlicher, nur irgendwie abhauen zu können, und einem offensichtlichen Mangel an Identifikation mit dem eigenen Staat, seiner Verfasstheit, seinen Organen und Repräsentanten.
    Danach ist die resignative Parole "Europa oder Tod!" eine "Bankrotterklärung Afrikas". 20.000 Afrikaner hätten in den letzten zehn Jahren auf der Flucht ihr Leben gelassen, schätzt Charlotte Wiedemann und rät:

    Die Schlacht müsste anderswo geschlagen werden: indem die jungen Leute mit der Kraft, dem Wagemut und der Hartnäckigkeit, die sie durch die Sahara und über die Meere treibt, ihren Regierungen entgegentreten, indem sie in ihrer Heimat ein Leben einfordern, das es wert ist, nicht auf See weggeworfen zu werden.

    Zitierte Zeitschriften:
    - Universitas, September 2010.
    - Blätter für deutsche und internationale Politik, September 2010.
    - Cicero, September 2010.