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Korrekturbedarf in Sachen Wiedervereinigung

Bei der Ursachenforschung für die Deutschland-Krise wird gerne immer wieder auf die immensen Kosten der Wiedervereinigung verwiesen. Eher selten wird darüber reflektiert, ob nicht ein beträchtlicher Teil dieser Kosten auf Grund von falschen Prämissen schlichtweg sinnlos verpulvert wurde - und wird. Daum geht es in "Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet" von Jens Bisky.

Von Andreas Baum |
    Die Behauptung, dass die Einheit gescheitert ist, dass sie sogar, wie es im Untertitel heißt, unser Land gefährdet, ist eine kalkulierte Provokation. Jens Bisky will auch die letzten Denkfaulen aufrütteln, die immer noch glauben, die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West sei lediglich eine Frage der Zeit oder der Förderpraxis.

    Nein, sagt er, das mit der Einheit gegebene Gleichheitsversprechen war von Anfang an faul. 1.250 Milliarden Euro an Transferleistungen, so rechnet Bisky vor, hat die Einheit bisher verschlungen, dafür haben wir entvölkerte Städte mit hübsch restaurierten Fassaden bekommen, eine stille, in sich gekehrte Gesellschaft im Osten, die dauerhaft abhängig ist vom Westen, aber keine echte Einheit.

    "Fünfzehn Jahre nach der Vereinigung existieren zwei Teilgesellschaften in einem Staat. Die neuen Unterschiede zwischen Ost und West prägen die deutsche Gegenwart mindestens so stark wie die alten Gegensätze zwischen Arm und Reich oder zwischen Links und Rechts."

    Denn die Freiheit, die die ehemaligen DDR-Bürger ohne Zweifel gewonnen haben, ist gleichzeitig die Ursache für die Ungleichheit der Lebensbedingungen - die sensible Dialektik zwischen liberté und egalité, jenes philosophische Problem, das fast alle Denker der Aufklärung und der Moderne beschäftigt hat, ist vom Wiedervereinigungsdiskurs der Kohlregierung einfach negiert worden. Das rächt sich heute.

    Denn schlimmer noch als die Tatsache, dass diese Unterschiede existieren, dass sie nicht selten zementiert wurden, ist, dass sie tabuisiert sind. Auch unter der Regierung des Kanzlers Schröder ist das schon im Einigungsvertrag von 1990 festgehaltene Ziel "einheitlicher Lebensverhältnisse in den alten und neuen Bundesländern" ein Dogma. Wer es in Frage stellt, wird als Ketzer an den Pranger gestellt. Dabei gehorchen die Folgen der Vereinigung den Gesetzen der Psychologie: Ein Problem, das verdrängt wird, wächst ins Monströse.

    Solange nicht hingenommen wird, dass dieses Land aus zwei Teilen besteht, so der Tenor, wird es keine Einheit geben. Und so lange über die Gräben zwischen Ost und West nicht gesprochen werden darf, werden sie tiefer.

    "Sie haben Missverständnisse und Kränkungen heraufbeschworen, sich in Kulturkämpfen entladen, uns eine Neiddebatte über die Milliardentransfers beschert, zu Trotz und Resignation auf beiden Seiten geführt. Dabei vergiftet die andauernde Teilung nicht nur die Atmosphäre, sie schwächt das Land, verstärkt seine Krisen und erschwert den Umgang mit ihnen."

    Gerade die jüngsten Debatten um Edmund Stoiber und Jörg Schönbohm, die die Ostdeutschen als frustriert und proletarisiert bezeichnet haben, zeigen nach Ansicht von Jens Bisky, dass der deutsch-deutsche Diskurs ein Gelände voller Tretminen ist. Es gibt Denkverbote und die kollektive Weigerung, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Das gilt auch für die Ökonomie. Biskys Buch ist auch ein Plädoyer gegen eine ideologisierte Förderpraxis, die immer noch verzweifelt versucht, Steppenlandschaften zum Blühen zu bringen.

    "Die Frage ist, ob man in Regionen, aus denen alle Leute wegziehen, und in denen es keine Industrie gibt, ob man da weiter Autobahnen bauen soll, ob man da weiter große Infrastrukturprojekte realisieren soll. Wenn Sie durch die neuen Länder fahren, sehen Sie ja immer wieder Gewerbegebiete, die riesengroß sind, mit viel Aufwand erschlossen worden sind, und dann sitzen da anderthalb Dönerklitschen drauf.

    Und der Unterhalt der Gewerbegebiete belastet die Kommunalhaushalte, ohne dass sie entsprechende Steuereinnahmen daraus hätten. Ich halte es eher für eine Zementierung von Ungleichheit, wenn man da allen weiter das gleiche Leitbild aufzwingt."

    Denn der gescheiterte Aufbau Ost unterlag dem Autor zufolge von Anfang an einem Denkfehler. Vereinfacht gesagt habe man versucht, die neuen Länder so zu entwickeln, wie dies in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre geschehen ist. Dabei werde bis heute übersehen, dass die Verhältnisse nicht vergleichbar sind.

    "Der Osten wurde als unterentwickelter Westen, nicht als qualitativ verschiedene Gesellschaft behandelt. Dadurch baute man seine Schwächen aus oder verfestigte sie. Die Vereinigungspolitik der ersten Jahre hat der vorhersehbaren Niederlage der ostdeutschen Betriebe auf dem plötzlich offenen Markt kaum entgegengewirkt. Sie hat wenig unternommen, Kapital- und Vermögensbildung im Osten zu fördern, sie hat die sozialen Folgen der Deindustrialisierung den Sicherungssystemen aufgebürdet und deren Niedergang damit beschleunigt."

    Schon der Wechselkurs der Währungsunion von 1990 sei ökonomisch unvernünftig gewesen. Und in den Jahren darauf wäre man besser gefahren, hätte man die Ungleichheit der Lebensbedingungen vorübergehend akzeptiert. Denn die Löhne im Osten entsprachen bei weitem nicht der Produktivität der Betriebe.

    Die Tarifvereinbarungen, so zitiert Bisky einen Unternehmer, mit denen im Öffentlichen Dienst Maßstäbe gesetzt wurden, kamen einem Beschäftigungsverbot gleich. Die Massenarbeitslosigkeit, die dies auslöste, habe dann dazu geführt, dass sich eine ganze Generation in Resignation flüchtete, anstatt die für Aufbaujahre notwendige Begeisterung und Opferbereitschaft aufzubringen. Der Rückzug ins Private, die trotzige Weigerung, unter diesen Bedingungen nicht mehr mitzuspielen, charakterisiert diejenigen, die im Jahr des Mauerfalls zwischen 30 und 50 Jahren alt waren.

    Der Widerstandsgeist, der ausgereicht hatte, um das SED-Regime in sich zusammenstürzen zu lassen, kapitulierte vor den Westdeutschen, die die DDR nach ihrem Bild formen wollten. Die Ostdeutschen benahmen sich angesichts der als ungerecht empfundenen Folgen der Einheit plötzlich wieder so, wie sie es in der Diktatur gelernt hatten.

    "Da ist so ein Reaktionsmuster aus DDR-Tagen, dass 1989/90 weg war, ist da wieder aktiviert worden. Und zwar so ein Meckern zu Hause und in der Öffentlichkeit Stillschweigen bewahren. Da muss man dazusagen, dass natürlich die ostdeutschen Eliten weitgehend komplett ausgetauscht worden sind, oder sich zurückgezogen haben.

    Das heißt, die wählen frustriert oder schimpfen und machen sonst Dienst nach Vorschrift. Wir haben eine ganz schwache bürgerliche Kultur in den neuen Ländern. Und dann muss man natürlich auch sagen, dass ein Ostdeutscher, der sagt, ja, ich bin Opfer, ich bin übern Tisch gezogen worden, sehr viel Gehör in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit findet, und dass ne andere Rolle für Ostdeutsche in der Öffentlichkeit eigentlich selten vorgesehen ist."

    Jens Bisky geht mit den Ostdeutschen hart ins Gericht. Ihr stummes, kraftloses und depressives Verhalten in den neunziger Jahren sei so auffällig gewesen, dass selbst Treuhandmanager nicht glauben konnten, dass sie selten oder nie in arbeitskampfähnliche Auseinandersetzungen gezwungen wurden, selbst wenn Betriebe stillgelegt werden mussten. Bisky übernimmt für dieses passive Verhalten den Begriff der "Duldungsstarre".

    "Schweinezüchter bezeichnen damit den Zustand, in den Eberduft die Sau vor der Begattung versetzt. Sie lässt gewähren, wirkt unbeteiligt. Da es im SED-Staat Öffentlichkeit für Kritik, Protest und Diskussion nicht gab, bot diese Rückzugsstrategie eine Möglichkeit, sich den Zumutungen des Systems zu entziehen, innere Freiheit zu bewahren. Heute existiert der öffentliche Raum, doch er wird nur selten betreten. Die Freiheit ist weiterhin ins Private gebannt, als gäbe es keine Alternative."

    Jens Bisky entstammt selbst einer Familie der DDR-Elite, allerdings einer, die sich nicht zurückgezogen hat. Sein Vater, Lothar Bisky, ist heute Bundesvorsitzender der Linkspartei.PDS. Sein Bruder Norbert ist ein international rennommierter Maler. Jens Bisky, der sich in den 80er Jahren aus Überzeugung für vier Jahre der Nationalen Volksarmee dienstverpflichtete, hat schon sein letztes Buch, "Geboren am 13. August", genutzt, um mit seiner Vergangenheit abzurechnen. Das vorliegende Buch kann als weiterer Versuch gewertet werden, Distanz zu suchen zu einer erst nach der Wende entwickelten Ostidentität, die er als hinderlich empfindet.

    "So wie die Adenauer-Zeit als dumpf und miefig galt, so trägt die ostdeutsche Identität vielfach bornierte Züge, scheint in ihrer doppelten Abgrenzung, nach oben und gen Westen, zu den tatsächlichen Entwicklungen in den neuen Ländern, zu Mobilisierung und Öffnung der Gesellschaft, quer zu stehen."

    Bisky ist als Ostdeutscher, der sich unter Westdeutschen behauptet hat - er ist heute Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung - in der Lage, einen exakten Einblick in die Befindlichkeit der Ostdeutschen liefern. Er ist ihnen nah, ohne die von ihm attestierte "Wagenburgmentalität" zu teilen. Dabei stützt er sich auf zahlreiche Quellen und statistisches Material und Umfragen aus zwei Jahrzehnten. Gleichzeitig sucht er einen Blickwinkel, der sich mit keiner der deutschen Partikulargesellschaften gemein machen will. Er wirbt dafür, Unterschiede selbstbewusst anzuerkennen.

    "Wenn man mal akzeptiert, dass die Ostdeutschen - was ja völlig normal ist, nach 55 Jahren anderer Entwicklung inzwischen - mental, kulturell in einigen Punkten anders sind, und wenn man ihnen trotzdem mit Respekt begegnet und sie als Bürger behandelt, dann kann man auch offen darüber reden was man richtig findet und was nicht.

    Das setzt aber auf ostdeutscher Seite finde ich auch voraus, dass man nicht auf jedes harte Wort hysterisch und neurotisch reagiert. Also da muss man auch mal aushalten, dass ein bayrischer Ministerpräsident Blödsinn redet. Also ich plädiere da wirklich für mehr Gelassenheit und ich finde dann letztlich immer mehr Streit besser als zuviel Konsens. Aber das sollten eigentlich ehemalige DDR-Bürger sofort einsehen."

    Biskys Buch endet mit einer Reihe von programmatischen Forderungen, die leider wenig originell sind. Vernünftige Vereinigungspolitik heißt für ihn, die Bildungschancen zu verbessern, im Zweifel zu ungunsten der Wirtschaftsföderung. Von den Landesregierungen im Osten verlangt er, die Mittel aus dem Aufbau Ost zweckentsprechend einzusetzen, anstatt nur mit ihnen nur Schulden zu tilgen.

    Auch diese Forderung ist alles andere als neu. Die Schrumpfungstendenzen in der ostdeutschen Provinz gilt es zu organisieren, anstatt sie aufzuhalten, fordert er pauschal, nicht ohne das Eingeständnis, dass es eine Patentlösung hierfür nicht gibt. Was bleibt, ist ein engagiertes Buch gegen deutsch-deutsche Lebenslügen. Vorläufig, das sollten wir uns demnach eingestehen, sind wir eben noch nicht ein Volk.

    Jens Bisky: Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet.
    Rowohlt Berlin Verlag 2005, 222 Seiten, 12,90 Euro.