Gerd Breker: Die Wirtschaftskrise erreicht unsere Gesellschaft zu einem Zeitpunkt, in dem die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklafft. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in der Gewichtung scheint irgendwie aus dem Lot geraten zu sein. Noch ist die Krise nicht spürbar auf dem Arbeitsmarkt angekommen, aber gewiss ist: sie wird dort ankommen. Die OECD rechnet mit deutlich über fünf Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Am Telefon bin ich nun verbunden mit dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, Autor des Buches "Armut in einem reichen Land". Guten Tag, Herr Butterwegge.
Christoph Butterwegge: Guten Tag, Herr Breker.
Breker: Herr Butterwegge, wir alle wissen um die Krise, aber unser Verhalten, das hat sich noch nicht geändert. Das Konsumklima bleibt auf hohem Niveau. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Wissen um die Krise und unser Handeln so weit auseinanderklaffen?
Butterwegge: Mir scheint da ein Verdrängungsmechanismus am Werk zu sein. Menschen versuchen natürlich, wenn sie eine schlechte Botschaft erhalten, von der sie aber unmittelbar noch nichts merken, dass sie sie selbst trifft, sich die eigene Situation schön zu reden, und natürlich hat jeder die Hoffnung, er werde verschont. Das scheint mir die Erklärung dafür zu sein, dass bisher auch in der Politik eigentlich so wenig Konsequenzen gezogen werden aus dem, was uns in nächster Zeit droht.
Breker: Im Gegenteil. Wenn Sie die Politik ansprechen, Herr Butterwegge, sie scheint richtiggehend zu ignorieren, was da auf uns zukommt, denn trotz hoher Staatsverschuldung werden uns im Wahlkampf Steuersenkungen versprochen.
Butterwegge: Ja. Das ist in der Tat ein Widerspruch, der schwer aufzulösen ist. Ich habe manchmal den Eindruck, diejenigen, die Steuersenkungen als Mittel der Lösung von Krisenproblemen versprechen, die haben so die Vorstellung, es gäbe so etwas wie einen Münchhausen-Effekt, wir könnten uns am eigenen Schopf aus der Misere herausziehen. Aber natürlich: Wenn man so hohe Schulden aufbaut durch Bankensanierung und Konjunkturprogramme, dann muss irgendjemand die Zeche zahlen, und ich fürchte, das werden die Armen und das werden die Mittelschichten sein, nur dass wir natürlich auch - und das trägt mit zur Verdrängung in der Politik bei - in einem Bundestagswahlkampf uns befinden und die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien versuchen natürlich jetzt, das Malheur zu verschieben bis nach der Bundestagswahl und bis dahin so zu tun, als sei ein wunderschönes Wetter zu beobachten, wo sich die Gewitterwolken allerdings schon sehr deutlich abzeichnen.
Breker: Das heißt, Herr Butterwegge, Sie meinen, diese Täuschung hat Methode?
Butterwegge: Ich sehe den Versuch, sich hinüberzuretten über den Wahlsonntag am 27. September. Das Kurzarbeitergeld zu verlängern auf inzwischen zwei Jahre, ist natürlich so eine Methode. Wir haben inzwischen 1,3 Millionen Menschen, die kurzarbeiten. Viele von denen werden in absehbarer Zeit arbeitslos sein. Aber noch ist es nicht so weit und noch erweckt die Politik den Anschein, als wären die Arbeitslosenzahlen relativ gering, zum Teil auch durch Methoden der Statistik, die man schon als manipulativ bezeichnen kann, wenn zum Beispiel seit neuestem diejenigen Menschen nicht mehr als arbeitslos gezählt werden, die einen privaten Arbeitsvermittler aufsuchen. In dem Moment fallen sie aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit heraus, genauso wie mehrere hunderttausend Ein-Euro-Jobber, wie mehrere hunderttausend Menschen, die sich in beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen befinden. All das ist natürlich eine Schönfärberei, die über das wahre Elend, nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch zunehmende Armut, die uns droht, hinwegblenden soll.
Breker: Herr Butterwegge, haben Sie eine Erklärung dafür, was an dieser Marktwirtschaft, die, die wir hier in diesem Lande haben, eigentlich noch sozial ist? Warum ist das die sogenannte soziale Marktwirtschaft?
Butterwegge: Ich habe eigentlich diesen Begriff, den ja Ludwig Erhard populär gemacht hat, immer schon für eher einen Kosenamen für den Kapitalismus gehalten. Aber heute, in einem sehr stark neoliberal geprägten Kapitalismus, in einem Finanzmarkt- oder Turbokapitalismus, der darauf setzt, dass sich der Starke am Markt gegenüber dem Schwachen behauptet und durchsetzt und den niederringt, kann man natürlich mit einer päpstlichen Enzyklika beispielsweise einklagen, dass dies nicht passiert, und auf Ethik und ethische Grundsätze pochen, aber die Realität in einer kapitalistischen Marktwirtschaft ist natürlich eine ganz andere. Das Soziale kann allenfalls noch darin gesehen werden, dass der Sozialstaat natürlich noch besteht, aber immer stärker wird er abgebaut. Solidarität und soziales Verantwortungsbewusstsein wird klein geschrieben in einer Wirtschaft, die darauf setzt, dass derjenige besonders auch gesellschaftlich angesehen ist, der einen hohen Gewinn erzielt, hohe Renditen. Das heißt, ein Finanzmarktkapitalismus, der so stark auf die Börse starrt, der kann eigentlich im Innersten nicht sozial sein. Auch das scheint mir ein Widerspruch in sich zu sein.
Breker: Und wir erleben derzeit das Phänomen, dass auch mehr und mehr die Mittelschicht unserer Gesellschaft in diesen Strudel der Krise hinein gerät. Aber was ist unsere Gesellschaft ohne eine echte Mittelschicht?
Butterwegge: Das ist eine zusätzliche Gefahr, dass einige in der Mittelschicht im Rahmen eines Effekts, den ich als Paternoster-Effekt bezeichnet habe, nach oben fahren, und viele in der Mittelschicht hoffen, dabei zu sein, gleichzeitig sehen müssen, dass viele andere nach unten fahren. Ich glaube, davon werden viele in der Mittelschicht auch betroffen sein. Wenn die Mittelschicht auf diese Art und Weise erodiert und auf der einen Seite der Reichtum zunimmt - die Bundesrepublik hat nach den USA die meisten Milliardäre; inzwischen sind es 122 an der Zahl -, auf der anderen Seite aber nimmt die Armut zu, am anderen Ende der sozialen Skala, dann zerfällt die Gesellschaft, sie fällt auseinander und sie teilt sich auch in zwei Parallelgesellschaften, nämlich die Reichen schotten sich ab in ihren "gated communities", wie sie in den USA heißen, in ihren Gemeinschaften, wo sie in ihren Villen mit privaten Sicherheitsdiensten sich abschotten können, und auf der anderen Seite entsteht eine Parallelgesellschaft der Armen. Die suchen Tafeln auf, die holen sich ihre Kleidung aus Kleiderkammern, die kaufen in Sozialkaufhäusern ein und bilden ebenfalls eine abgeschottete Schicht. Das ist eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft, den ich sehe.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, er ist Autor des Buches "Armut in einem reichen Land". Herr Butterwegge, danke für dieses Gespräch.
Butterwegge: Bitte schön, Herr Breker.
Christoph Butterwegge: Guten Tag, Herr Breker.
Breker: Herr Butterwegge, wir alle wissen um die Krise, aber unser Verhalten, das hat sich noch nicht geändert. Das Konsumklima bleibt auf hohem Niveau. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Wissen um die Krise und unser Handeln so weit auseinanderklaffen?
Butterwegge: Mir scheint da ein Verdrängungsmechanismus am Werk zu sein. Menschen versuchen natürlich, wenn sie eine schlechte Botschaft erhalten, von der sie aber unmittelbar noch nichts merken, dass sie sie selbst trifft, sich die eigene Situation schön zu reden, und natürlich hat jeder die Hoffnung, er werde verschont. Das scheint mir die Erklärung dafür zu sein, dass bisher auch in der Politik eigentlich so wenig Konsequenzen gezogen werden aus dem, was uns in nächster Zeit droht.
Breker: Im Gegenteil. Wenn Sie die Politik ansprechen, Herr Butterwegge, sie scheint richtiggehend zu ignorieren, was da auf uns zukommt, denn trotz hoher Staatsverschuldung werden uns im Wahlkampf Steuersenkungen versprochen.
Butterwegge: Ja. Das ist in der Tat ein Widerspruch, der schwer aufzulösen ist. Ich habe manchmal den Eindruck, diejenigen, die Steuersenkungen als Mittel der Lösung von Krisenproblemen versprechen, die haben so die Vorstellung, es gäbe so etwas wie einen Münchhausen-Effekt, wir könnten uns am eigenen Schopf aus der Misere herausziehen. Aber natürlich: Wenn man so hohe Schulden aufbaut durch Bankensanierung und Konjunkturprogramme, dann muss irgendjemand die Zeche zahlen, und ich fürchte, das werden die Armen und das werden die Mittelschichten sein, nur dass wir natürlich auch - und das trägt mit zur Verdrängung in der Politik bei - in einem Bundestagswahlkampf uns befinden und die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien versuchen natürlich jetzt, das Malheur zu verschieben bis nach der Bundestagswahl und bis dahin so zu tun, als sei ein wunderschönes Wetter zu beobachten, wo sich die Gewitterwolken allerdings schon sehr deutlich abzeichnen.
Breker: Das heißt, Herr Butterwegge, Sie meinen, diese Täuschung hat Methode?
Butterwegge: Ich sehe den Versuch, sich hinüberzuretten über den Wahlsonntag am 27. September. Das Kurzarbeitergeld zu verlängern auf inzwischen zwei Jahre, ist natürlich so eine Methode. Wir haben inzwischen 1,3 Millionen Menschen, die kurzarbeiten. Viele von denen werden in absehbarer Zeit arbeitslos sein. Aber noch ist es nicht so weit und noch erweckt die Politik den Anschein, als wären die Arbeitslosenzahlen relativ gering, zum Teil auch durch Methoden der Statistik, die man schon als manipulativ bezeichnen kann, wenn zum Beispiel seit neuestem diejenigen Menschen nicht mehr als arbeitslos gezählt werden, die einen privaten Arbeitsvermittler aufsuchen. In dem Moment fallen sie aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit heraus, genauso wie mehrere hunderttausend Ein-Euro-Jobber, wie mehrere hunderttausend Menschen, die sich in beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen befinden. All das ist natürlich eine Schönfärberei, die über das wahre Elend, nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch zunehmende Armut, die uns droht, hinwegblenden soll.
Breker: Herr Butterwegge, haben Sie eine Erklärung dafür, was an dieser Marktwirtschaft, die, die wir hier in diesem Lande haben, eigentlich noch sozial ist? Warum ist das die sogenannte soziale Marktwirtschaft?
Butterwegge: Ich habe eigentlich diesen Begriff, den ja Ludwig Erhard populär gemacht hat, immer schon für eher einen Kosenamen für den Kapitalismus gehalten. Aber heute, in einem sehr stark neoliberal geprägten Kapitalismus, in einem Finanzmarkt- oder Turbokapitalismus, der darauf setzt, dass sich der Starke am Markt gegenüber dem Schwachen behauptet und durchsetzt und den niederringt, kann man natürlich mit einer päpstlichen Enzyklika beispielsweise einklagen, dass dies nicht passiert, und auf Ethik und ethische Grundsätze pochen, aber die Realität in einer kapitalistischen Marktwirtschaft ist natürlich eine ganz andere. Das Soziale kann allenfalls noch darin gesehen werden, dass der Sozialstaat natürlich noch besteht, aber immer stärker wird er abgebaut. Solidarität und soziales Verantwortungsbewusstsein wird klein geschrieben in einer Wirtschaft, die darauf setzt, dass derjenige besonders auch gesellschaftlich angesehen ist, der einen hohen Gewinn erzielt, hohe Renditen. Das heißt, ein Finanzmarktkapitalismus, der so stark auf die Börse starrt, der kann eigentlich im Innersten nicht sozial sein. Auch das scheint mir ein Widerspruch in sich zu sein.
Breker: Und wir erleben derzeit das Phänomen, dass auch mehr und mehr die Mittelschicht unserer Gesellschaft in diesen Strudel der Krise hinein gerät. Aber was ist unsere Gesellschaft ohne eine echte Mittelschicht?
Butterwegge: Das ist eine zusätzliche Gefahr, dass einige in der Mittelschicht im Rahmen eines Effekts, den ich als Paternoster-Effekt bezeichnet habe, nach oben fahren, und viele in der Mittelschicht hoffen, dabei zu sein, gleichzeitig sehen müssen, dass viele andere nach unten fahren. Ich glaube, davon werden viele in der Mittelschicht auch betroffen sein. Wenn die Mittelschicht auf diese Art und Weise erodiert und auf der einen Seite der Reichtum zunimmt - die Bundesrepublik hat nach den USA die meisten Milliardäre; inzwischen sind es 122 an der Zahl -, auf der anderen Seite aber nimmt die Armut zu, am anderen Ende der sozialen Skala, dann zerfällt die Gesellschaft, sie fällt auseinander und sie teilt sich auch in zwei Parallelgesellschaften, nämlich die Reichen schotten sich ab in ihren "gated communities", wie sie in den USA heißen, in ihren Gemeinschaften, wo sie in ihren Villen mit privaten Sicherheitsdiensten sich abschotten können, und auf der anderen Seite entsteht eine Parallelgesellschaft der Armen. Die suchen Tafeln auf, die holen sich ihre Kleidung aus Kleiderkammern, die kaufen in Sozialkaufhäusern ein und bilden ebenfalls eine abgeschottete Schicht. Das ist eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft, den ich sehe.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, er ist Autor des Buches "Armut in einem reichen Land". Herr Butterwegge, danke für dieses Gespräch.
Butterwegge: Bitte schön, Herr Breker.