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Kostenlose Büffelkurse in Problemzonen

Auf Initiative des Bildungsministeriums haben 200 Gymnasien in Frankreich bereits am 18. August, zwei Wochen vor dem offiziellen Schulbeginn, die Tore geöffnet. Lehrer, Lehramtskandidaten und Sprachassistenten kümmern sich seither um über 6000 freiwillige Schüler und unterrichten sie jeden Vormittag vier Stunden lang in kleinen Gruppen. Für viele ist es die erste Nachhilfe, denn die Schulen liegen fast alle in sozial benachteiligten Gegenden. Bettina Kaps berichtet.

    Latifa ist ein schüchternes Mädchen. Eine Schülerin, die sich im Unterricht immer in die letzte Reihe setzt und mit den Freundinnen tuschelt. Die 18-Jährige meldet sich nie zu Wort und laut vorlesen kann sie auch nicht. Jetzt sitzt sie mitten in den Sommerferien allein mit einer Lehrerin im Klassenraum ihres Gymnasiums und übt. Freiwillig. Bettina Kaps berichtet.
    "Es ist das allererste Mal, dass ich Nachhilfe bekomme. Dadurch, dass jetzt noch Ferien sind, bin ich ausgeruht und ganz besonders motiviert. Nächsten Juni werde ich das Abitur machen. Bis dahin muss ich intensiv lernen. Ich bin unheimlich froh, dass ich es geschafft habe, vor einem Lehrer zu lesen."
    Das junge Mädchen strahlt und auch die Lehrerin ist sehr zufrieden.
    "Latifa schöpft Selbstvertrauen. Ihr wird bewusst, wozu sie fähig ist. Das wird ihr in allen Fächern nutzen. Ich habe ihr außerdem ein paar Tricks verraten, wie sie ihr Handicap überwinden kann: Indem sie sich in die erste Reihe setzt, wo sie dem Lehrer anfangs auch mal leise antworten und dem gnadenlosen Blick der Mitschüler ausweichen kann. "
    Auch Anne Thomann hat ihre Sommerferien um zwei Wochen verkürzt, weil sie am Programm "Schulischer Erfolg in der Oberstufe" teilnehmen wollte. Die Lehrerin findet es überaus befriedigend, dass sie sich endlich mal den Bedürfnissen der Schüler anpassen kann. So bringt sie ihnen jetzt bei, den Unterricht mitzuschreiben, was viele bislang überfordert hatte. Im Schuljahr, sagt sie, hat sie dazu keine Zeit.
    "Die Schüler sind motiviert, sie lechzen geradezu nach unseren Worten. Es ist eine wunderbare Unterrichtssituation. Die Störenfriede sind abwesend. Dadurch genieren sich die anderen nicht. Sie arbeiten mit und es gelingt ihnen, ihre Schwierigkeiten zu formulieren."
    Thomann wechselt in einen anderen Klassenraum, wo 20 Schüler an Computern sitzen und einen Wirtschaftsfilm auf Englisch sehen. Sie zeigt ihnen, wie sie im Internet pädagogische Unterstützung finden, um sich zu verbessern.
    Cedrik ist ein schwergewichtiger Junge, ganz in schwarz gekleidet, die rote Schirmmütze hat er vor sich auf den Tisch gelegt. Der 17-Jährige bereitet sich auf das Berufsabitur vor. Anders als bei Latifa haben ihn seine Eltern zur Nachhilfe angemeldet.
    "Es ist schon verdammt hart. Meine Freunde amüsieren sich, während ich hier lerne. Aber ich will mich auf das neue Schuljahr vorbereiten und meine Lücken schließen. Sonst würde ich jetzt noch schlafen. Obwohl ich keine Lust habe, komme ich trotzdem her, ich tue es für mich, nicht für meine Eltern, schließlich bin ich für meine Zukunft verantwortlich. "
    Private Nachhilfe hat noch keiner der Schüler hier genommen - das könnten sie sich gar nicht leisten. Denn die meisten Schulen, die sich an dem Programm "Schulischer Erfolg in der Oberstufe" beteiligen, liegen in Gegenden, wo die Schüler mit sozialen, finanziellen und kulturellen Problemen konfrontiert sind.

    So auch das Technologie- und Berufsgymnasium Jean-Jacques Rousseau in der Pariser Vorstadt Vitry-sur-Seine. Der Rektor Manuel Lopes hat alle Schüler und Eltern der Oberstufe vor Beginn der Sommerferien angeschrieben, um ihnen das neue Programm vorzustellen. Immerhin ein Zehntel aller Schüler der betroffenen Klassen haben sich angemeldet. Es ist selbst überrascht, dass sie nun jeden Morgen pünktlich um halb neun zur Stelle sind. Unter ihnen sind schwache und starke Schüler, sagt der Rektor:
    "Sie haben kein einheitliches Profil. Aber eins zeichnet sie alle aus: der Wille zum Erfolg. Denn sie wissen genau: selbst wenn sie ein gutes Abitur absolvieren, werden sie es schwer haben. Das Lycee Jean Jacques Rousseau liegt in einer Gegend mit vielen Problemen. Die Eltern stammen aus den unterschiedlichsten Ländern, Kultur wird diesen Schülern nur hier vermittelt, in der Schule, und das reicht einfach nicht aus."
    Das Nachhilfeprogramm mit dem Namen "schulischer Erfolg im Gymnasium" soll in den kommenden Monaten noch ausgebaut werden. So wird demnächst in ausgewählten Schulen zusätzlich zum regulären Ganztags-Unterricht noch kostenlose Nachhilfe angeboten.
    "Die Nachfrage wird steigen, davon bin ich überzeugt, denn in den Familien ist das Nachhilfeprogramm ein Thema. Jetzt unterhalten sie sich nicht mehr über Ferien, die sich hier viele gar nicht leisten können, sondern sie sprechen über die Schule. Das wertet ihr Gymnasium auf und zugleich das gesamte Bildungswesen, weil es ihnen etwas anbietet, was es noch nie zuvor gab. "
    In den Herbstferien werden das Lycee Jean-Jacques Rousseau und hunderte weitere Schulen wieder geöffnet bleiben.