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Kotz-Kratz-und-Brüll-Orgie á la Castorf

Fjodor Dostojewski, Frank Castorf. Da haben sich zwei gefunden. Seit Jahrzehnten arbeitet sich der Regie-Wüterich von der Berliner Volksbühne an dem russischen Literatur-Wüterich ab. Dessen frühen Text "Die Wirtin" verwüstet er wie erwartet in eine geile Fieber-Show.

Von Hartmut Krug | 04.11.2012
    Strahlend weiß ist die offene Bühne. Vorn ragt ein Stahlgebilde, das später als Videowand benutzt wird. Hinten steht ein Schöpfbrunnen, in den man hineinklettern kann. Und daneben eine lange, schwarze Bretterbude, aus der viel Geschehen mit der Livekamera nach vorn übertragen wird. Bert Neumanns zeichenhafte Funktionsbühne wird von Wegstreifen aus dunklem Torf überzogen und von einer Bretterwand begrenzt. Auf die schwingt sich von außen, mit einem Bücherbeutel in der Hand, der aufgeregte Wassilij Ordynoff. Trystan Pütter stattet den jungen Sonderling und vereinsamten Akademiker, der sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung und das wahre Leben begeben hat, von Beginn an mit einer überdrehten Hysterie aus:

    "Es ist die Leidenschaft, die unersättlichste Leidenschaft, die das Leben eines Menschen verschlingt. Und die wenigstens mir in der Sphäre des anderen, des praktisch tätigen Lebens auch nicht den geringsten Platz reserviert."

    All die Entbehrungs- und Sehnsuchtsgefühle, mit denen Dostojewski seine Sucherfigur umfänglich und umständlich beschreibt, brüllt Ordynoff in Frank Castorfs Bühnenversion der frühen Erzählung Dostojewskis direkt hinaus. "Die Wirtin" ist eine wilde, hin und her mäandernde erotisch-religiöse Beziehungsgeschichte zwischen diesem jungen Sonderling und einem ebenso sonderbaren Paar, bestehend aus dem alten Ilja Murin und der jungen, hübschen Katharina. Ordynoff entdeckt die beiden bei einer Messe, bei der Katharina in religiöse Weinanfälle ausbricht, und will sein Leben neu ordnen.

    Ordynoff verfolgt das Paar, denn er hat sich heftig in die Frau verliebt, und mietet sich bei den beiden ein. Was nun passiert, ist einerseits eine Dreiecksgeschichte mit wechselnden Abhängigkeiten, andererseits eine wie ein Fiebertraum anmutende, wild assoziative, mystische und geheimnisvoll unklare Geschichte, die an E.T.A. Hoffmann orientiert sein könnte. Während sonst Dostojewskis Figuren aus sozialer und psychologischer Beobachtung entstehen, werden sie hier in ihren Haltungen und Gefühlen merkwürdig ungreifbar. Ob der alte Mann, der Katharina unter religiösen Druck setzt, wirklich ein verarmter Kaufmann ist, der jetzt als Seher und Zauberer arbeitet, ob Katerina Schuld an einer schlimmen Familiengeschichte ist, bleibt offen bis zum offenen Schluss. Was Dostojewskis von seinen Zeitgenossen teils harsch verrissene Erzählung bestimmt, sind ungezügelte Leidenschaften, heftige Besessenheit und eine wild tosende Gefühligkeit. Also all das, was Frank Castorfs Veräußerlichungstheater gern mit allen Mitteln verfolgt.
    Und so wird in der Hütte heftig gestritten, gelitten und geliebt, man bekämpft sich, man beschreit sich, fällt in Hysterie, wird krank oder fragt nach Liebe, und all das sehen wir in grobkörnig undeutlichen Videobildern:

    "- Katharina: "Höre, hast du eine Geliebte gehabt?"
    - Ordynoff: Nein, nein, vor dir habe ich keine gehabt.
    - Katharina: Ich werde zu dir kommen, wenn du willst, ich werde dich liebkosen und es mir doch nicht zur Schande werden lassen, dass ich dich kennengelernt habe. Hab ich doch auch Tag und Nacht bei dir gesessen, als du das böse Fieber hattest.""

    Wie immer bei Castorf wird unter Überdruck auf hohem Lautstärkepegel und mit heftiger Körperlichkeit gespielt, zweieinhalb pausenlose, monotone, von Hektik statt Handlung bestimmte Stunden lang. Marc Hosemann als der alte Murin ist nicht nur viel zu jung, sondern bald von seinem Gegner Ordynoff nur noch durch die Tätowierung einer Zwiebelturmkirche auf der Brust zu unterscheiden. Während die routiniert leidende Kathrin Angerer nicht unbedingt als "junge" Katharina durchgeht. Doch bei Castorf steht deutlich die Form des Spiels im Vordergrund. Wer diese mag, wie das Volksbühnen-Fan-Publikum, der kämpft sich durch Schwächephasen bis zur Schlussbegeisterung. Man kann aber auch durchaus genervt und gelangweilt sein von dieser unfreiwillig nahe an eine Dostojewski-Persiflage geratende Inszenierung, die mit allen bekannten Castorfschen Macken und Marotten leer vor sich hin tobt.

    Da wirkt die letzte halbe Stunde wie eine Zugabe: Es werden Ton, Steine, Scherben eingespielt und Pussy Riot erwähnt. Immerhin steht im Zentrum von Dostojewskis Erzählung eine harsche Religionskritik. Am Schluss gibt es noch eitle, selbstreferentielle Castorf-Anspielungen auf Bayreuth. In einer Inszenierung, die vor allem von Routine bestimmt ist.