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Kotzende Erzieherinnen - "Die Wilden Zwerge"

Eltern von Noch-nicht-Schulkindern quälen eine Menge Fragen. Eine davon lautet: Was tun die eigentlich den ganzen Tag im Kindergarten, wenn wir – die Eltern – nicht dabei sind?

Eine Besprechung von Florian Felix Weyh |
    Eine zweite: Wie kriegen wir sie – die Kinder – dazu, uns über jene Stunden annähernd wahrheitsgemäß zu berichten, so dass man auf die Erkundigung: "Wie war's?" ("Toll!") – "Was habt ihr gemacht?" ("Gespielt!") einen Halbsatz an verwertbarer Information erhält. Und drittens würde man gerne die noch illiteraten Kleinen so an die Welt der Bücher heranführen, dass es ihnen Spaß macht, wir als Vorleser dabei aber nicht unverhältnismäßig leiden. Ästhetisch und sprachlich, denn was einem da in der Altersklasse zwischen drei und sechs bisweilen zugemutet wird, kann schon an Körperverletzung grenzen. Zum Glück winkt Abhilfe.

    "Die wilden Zwerge" – nicht: Kerle! – heißt eine neue Reihe des Klett-Kinderbuchverlags, die gleich an mehreren Fronten Abhilfe zu leisten sucht. Sie kennzeichnet zunächst das Bestreben, die üblicherweise süßlich geschilderte Welt des Kindergartens durch ein halbwegs realistisches Abbild der herrschenden Verhältnisse zu ersetzen. Bislang nämlich scheint es so, als seien Publikationen auf diesem Sektor allein der Absicht geschuldet, Kindergartenanfängern die Angst vorm neuen Lebensabschnitt zu nehmen. Also wird der Kindergarten als harmonischer Ort paradiesischen Friedens geschildert, den man noch weniger zu fürchten braucht als das sowieso unbedrohliche eigene Kinderzimmer zuhaus. In Wahrheit aber geht es im Kindergarten doch ganz anders zu, lebhafter, konfliktbeladener, von leichten bis mittelschweren Katastrophen durchzogen ... und sage keiner, das würden die kleinen Zuhörer von drei bis sechs nicht vernehmen und im Bilde schauen wollen! Wenn man Glück hat, stimuliert es sogar das Mitteilungsbedürfnis. Katastrophen mit der Klopapierrolle im Buch? – "Ach, Mama und Papa, das mit dem Poabwischen in der Kita hat heute nicht so geklappt." Durch den Raum schwirrende Frühstücksreste und eine experimentell versaute Quarkspeise im Buch? "Wisst ihr, Mama und Papa, ich ess in der Kita eigentlich immer nur den Nachtisch."

    Wenn Kinderliteratur Kinder zum Reden bringen kann, ist das eine beachtliche Leistung. Wenn sie darüber hinaus sogar die Erwachsenen amüsiert – nahezu perfekt!

    "Die wilden Zwerge" sind eine freche Buchreihe. Da gibt es kotzende Erzieherinnen und eine dauernd genervte Kindergartenleiterin. Vom friedlichen Miteinander der elf Zwerge kann auch nicht grundsätzlich ausgegangen werden. Es ist eher so wie in einem vorzivilisatorischen Menschheitsstadium: Der Regeln des Umgangs miteinander müssen noch ausgehandelt werden. Richard etwa repräsentiert den aggressiven Führertypus mit Drang zur Herrschaft – keine Gruppe, die nicht so einen beherbergte –; während Mara die Welt vornehmlich unter dem Aspekt ihrer Gestaltbarkeit sieht. Will heißen: Rat und Hilfe von Erwachsenen sind gänzlich entbehrlich, Mara kann alles selbst. Aufs Klo gehen wie eine Große, was im Band "Mara muss mal" unweigerlich zur desaströsen Toilettenverstopfung führt, oder den Erdbeerquark mit einer Senffüllung und Ketchupkleckschen veredeln, was ja durchaus seine Berechtigung hat: Meisterköchin wird man nicht durch stumpfes Nachahmen, sondern durch experimentelle Verve. Wenn freilich im Band "Der Kochtag" zum Schluss das gemeinsame Kita-Kochen abgeschafft wird, weil sich Alex auch noch beinahe den Finger abgesäbelt hat, dann siegt in Wahrheit das Bedürfnis der heillos überforderten Erzieherin Frau Koslowski über den Impuls, ihren Kindern etwas beibringen zu wollen. Jede Aktivität verstärkt schließlich das Risiko der Eskalation, da lässt man allzu engagierte pädagogische Vorstöße lieber sein. Aber wollen wir Eltern so was wirklich wissen? Wollen wir wissen, dass unser lieben Kleinen ihren Tag unter der Aufsicht von normalen, reizbaren und manchmal überlasteten Menschen verbringen? Aber ja! Sonst müsste man vermuten, die süßlichen Kindergartenbücher herkömmlicher Machart würden in Wahrheit nur zur Elternberuhigung geschrieben.

    In einem solcherart kalkuliert anarchischen Umfeld fallen Fremdkörper der Ordnungsliebe rasch auf. Latent in allen Büchern vorhanden, sticht der vorauseilende Gehorsam politisch überkorrekter Multikulti-Anpassung im Band "Tschüss, kleiner Piepsi" scharf ins Auge. Der tote Vogel, den Selin und Anton auf dem Weg zum Kindergarten entdecken, wird nach ausgewogenem Fifty-fifty-Ritus halb christlich, halb islamisch bestattet, mit Kreuz und Mekka-Ausrichtung des Grabes zugleich, mit Pfarrer und Hodscha im Doppelgespann. Ein Wink mit dem pädagogischen Zaunpfahl – seit gefälligst tolerant im Religiösen! –, so dass man daneben kaum noch die schöne Kindergeschichte wahrnimmt. Den Autoren sanft ins Gewissen geredet: Die sympathische Eigenart der "Wilden Zwerge" liegt in einer realistisch geschilderten, allen Kindern gemeinsamen Welt – nicht in der Betonung trennender Details. Denn auf 32 Seiten eines Text/Bilder-Buchs wird man der komplexen sozialen Situation von elf Kindern unterschiedlichster Herkunft ohnehin nicht gerecht. Wer's dennoch versucht, überfrachtet das schmale Format. Ahnten das die Autoren nicht? Oder stehen sie gar in Diensten einer kulturkämpferischen Vereinigung?

    Diese Autoren sind ein Rätsel. Das Cover nennt sie Meyer, Lehmann, Schulze – als hätte jemand die deutsche Nachnamens-Hitliste beim Statistischen Bundesamt abgefragt. Vermutlich war dem auch so, die "Wilden Zwerge" nämlich haben eine Illustratorin – Susanne Göhlich mit fröhlichem Strich – aber keinen eindeutigen Texturheber. Hinter Meyer, Lehmann, Schulze verstecken sich angeblich ein Medienwissenschaftler, eine Erzieherin und eine Mutter zweier Kindergartenkids. Geballte Fachkompetenz – aber vielleicht stimmt das auch gar nicht, vielleicht schämt sich nur ein berühmter Erwachsenenautor des Ausflugs in die Kleinkindliteratur. Das müsste er nicht, bis auf den geäußerten Einwand ist das Ergebnis ja vollkommen überzeugend: Kindergartenliteratur mit dem Prädikat "lebensnah". Als besonders anspruchsvoll erweist sich der für ein Buch dieser Altersklasse ungewöhnliche literarische Schluss: Auf der letzten Seite eines jeden Bandes sitzt Anton abends auf der Toilette und lässt im reinen Dialog mit seiner Mutter den Kindergartentag Revue passieren. Einen erwachsenen Vorleser stellt das vor die Herausforderung, zwei Sprechrollen zugleich deklamieren zu müssen. Aber es leitet auch sanft in den Dialog mit dem eigenen Kinde über: Und wir war's heute bei euch?

    Hoffentlich weniger aufregend als bei den "Wilden Zwergen".

    Bd. 1: "Der Neue" / Bd. 2: "Tschüss, kleiner Piepsi" /
    Bd. 3 Der Kochtag / Bd. 4 "Mara muss mal"
    Autoren: Meyer, Lehmann, Schulze
    Illustriert von Susanne Göhlich
    Klett-Kinderbuchverlag