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Kraft der Erinnerung

Sie war die erste Außenministerin der USA, sie ebnete den Weg für Ihre Nachfolgerinnen: Madeleine Albright regierte von 1997 bis 2001 unter Präsident Bill Clinton als eiserne Chefin des State Department. Mit "Winter in Prag" hat sie nun die Geschichte ihrer Kriegskindheit in Europa aufgeschrieben.

Von Katja Ridderbusch |
    Es sei gewesen, als hätte sie einen Marathon mit schwerem Gepäck laufen und gleichzeitig den Koffer öffnen müssen. Das war 1996. Madeleine Albright war 59 Jahre alt und gerade für das Amt der Außenministerin unter Präsident Clinton nominiert worden, als sie erfuhr: Ihre Eltern waren Juden. 20 Mitglieder ihrer Familie hatten im Holocaust ihr Leben verloren. 13 Jahre nach dieser Erkenntnis – und viele Reisen nach Prag, Belgrad und London später - hat Madeleine Albright ein Buch über ihre Kindheit geschrieben, eine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs in Europa. Im amerikanischen Rundfunk erklärt die Autorin:

    "Ich wollte herauszufinden, wer ich eigentlich bin."

    Madeleine Albright: Geboren 1937 als Marie Jana Korbelová in Prag, aufgewachsen in Belgrad und London, 1948 ausgewandert nach Amerika. "Winter in Prag" spielt auf zwei Ebenen, der politischen und der persönlichen. Besonders fesselnd ist das Buch dann, wenn Albright die große Geschichte mit der kleinen verwebt, wenn sie die Geschichte ihrer Eltern und ihre eigene im Kontext der Geschichte Europas und der damaligen Tschechoslowakei erzählt.

    Und sie erzählt gerne und gut. Von ihrem Vater Josef Korbel, der Diplomat in Belgrad war. 1939 floh die Familie nach London. Albright beschreibt den Kriegsalltag aus Kindersicht:

    "Unterdessen nähten fleißige Hände weiter Decken und rollten Verbandspäckchen. Den Kindern fielen manche Opfer schwerer als andere. Die fahrenden Eisverkäufer verschwanden von den Straßen, weil ihre Kühlaggregate für den Transport von Blut bereitgehalten wurden."

    In London ließen sich die Eltern katholisch taufen. Sie erzählten den Kindern nie von ihrer jüdischen Herkunft. Über die Gründe für den Übertritt kann Albright nur spekulieren:

    "Meine Eltern meinten, das Leben sei für uns leichter, wenn wir als Christen und nicht als Juden erzogen würden. Im Europa des Jahres 1941 braucht man wohl nicht lange nach Gründen für diese Ansicht zu suchen."

    Albrights Familie kehrte nach dem Krieg nur kurz nach Prag zurück und wanderte schließlich 1948, nach dem kommunistischen Staatsstreich in der Tschechoslowakei, nach Amerika aus. Josef Korbel arbeitete in der zweiten Hälfte seines Lebens als Professor für politische Wissenschaften an der Universität von Denver. Eine seiner Schülerinnen war übrigens - Ironie der Geschichte: Condoleezza Rice:

    So habe ihr Vater, der ausgewanderte Diplomat, gleich zwei Außenministerinnen herangezogen, sagt Albright.

    Trotz derlei interessanter Episoden ist das Leitmotiv des Buches ein hochpolitisches: Krieg und Holocaust, schreibt Albright, seien auch eine Folge von Untätigkeit gewesen. So widmet sie ein ausführliches Kapitel der Münchner Konferenz von 1938: Dort servierten die europäischen Mächte Hitler das Sudetenland gewissermaßen auf dem Silbertablett. Eine Appeasement-Politik mit fatalen Konsequenzen – und de facto das Ende der multinationalen Tschechoslowakischen Republik. Doch Madeleine Albright - auch heute noch eine einflussreiche Beraterin in Washington - urteilt nicht vom Hochsitz der Moral, im Gegenteil.

    "Mit den Jahren – und mit meiner eigenen Erfahrung als Politikerin - hat sich meine Sicht ein wenig geändert. Mir war lange nicht klar, wie erschöpft die Briten und Franzosen vom Ersten Weltkrieg waren. Der Krieg hatte in beiden Ländern viele Opfer gefordert. Diese Mächte wollten um jeden Preis den Frieden bewahren."

    Eine der bewegendsten Passagen des Buches ist die Beschreibung des Konzentrationslagers Theresienstadt. Dorthin waren die meisten Mitglieder von Albrights Familie verschleppt worden. Die Autorin schildert die Geschichte ihrer Angehörigen und wechselt dann wieder auf die politische Ebene. Auch hier macht sie Untätigkeit aus: Als das Internationale Rote Kreuz 1944 Beobachter nach Theresienstadt schickte, hatten die Nationalsozialisten das Lager zu einer Art arischem Bilderbuchdorf herausgeputzt:

    "In der Wäscherei wuschen lächelnde Frauen Kleider von bester Qualität. Im Speisesaal stopften die Insassen großzügige Portionen von gebratenem Fleisch, Gemüse und Kuchen in sich hinein. Im Freien machten sich junge Frauen - fröhlich lachend mit dem Rechen auf der Schulter - auf den Weg zur Arbeit im Feld."

    Die Beobachter schauten weg, machten das zynische Spiel mit, lobten gar die guten Zustände im Lager - und zwar ganz ohne Not. Albright macht keinen Hehl daraus: Was in Theresienstadt passierte, ist brandaktuell.

    "Die Lehre, die ich aus der Erfahrung von Theresienstadt ziehe und, die für alle Beobachtermissionen bis heute gilt: Sie dürfen nichts, was sie sehen, wörtlich nehmen oder ungeprüft glauben; sie müssen vorbereitet sein und die Macht der internationalen Gemeinschaft einsetzen, um sichtbar zu machen, was gesehen werden muss."

    Als Außenministerin hatte Albright 1999 im Kosovo-Konflikt die Militäraktion der NATO gegen die Serben forciert, um den Massakern an der albanischen Minderheit ein Ende zu setzen. Eine Entscheidung, für die es durchaus auch Kritik gab. Aktuell steht sie hinter den Erwägungen der Regierung Obama, die Rebellen in Syrien möglicherweise auch militärisch zu unterstützen.

    "Es ist wichtig, genau zu beobachten, was passiert. Wachsam zu sein. Politische Entscheidungen sind immer Entscheidungen im Fluss. Im Übrigen unterstützen die USA die Rebellen in Syrien ja bereits, wenngleich nicht mit Waffen. Doch die Situation kann sich ändern."

    "Winter in Prag" ist eine packend erzählte Geschichte über Gewalt, Verlust, Pragmatismus und den Willen zu überleben. Ein politisches Sittengemälde Europas im Zweiten Weltkrieg. Ein Buch über die Kraft der Erinnerung. Und vor allem ein Lehrstück über den Preis der Untätigkeit.


    Madeleine K. Albright: "Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg", Siedler Verlag, 544 Seiten, 24,99 Euro