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Kraft des Unaussprechlichen

Wien ist eine Musikstadt, so ist es und so will es auch die kommunalpolitische Leitlinie. Das Theater an der Wien soll sich daher künftig wieder dem anspruchsvollen Musiktheater widmen und der Stadt das veritable dritte Opernhaus bescheren. Allerdings ohne eigenes Orchester und Chor. In Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" ist ein solcher nur selten nötig, und mit dem ORF Radio-Symphonieorchester stand zur Premiere ein leistungsfähiger und erfahrener Klangkörper zu Verfügung.

Von Frieder Reininghaus |
    Einige Zeit nach der Uraufführung im Jahr 1902 legte Claude Debussy öffentlich dar, warum er "Pelléas et Mélisande" komponierte und annähernd ein Dutzend Jahre seines Lebens auf diese Arbeit verwendete. Er meinte, dass ihn die "zauberisch beschwörende Sprache" Maurice Maeterlincks in "wunderbarer Weise" affiziert habe und er die Chance sah, "deren sensible Nuancen" im "orchestralen Klangkolorit" weiterführen zu können. Gewiss transportiert sich etwas von dieser originären Intention in allen Aufführungen des modernen Märchens vom Niedergang einer Königsfamilie auf Schloss Allemonde. Doch in durchaus unterschiedlichem Maß und auf verschiedene Weise. Bertrand de Billy geht Debussys Partitur eher direkt an und das Orchester setzt vergleichsweise kompakt ein. Der oft lange auf der Stelle tretende Tonsatz mit seinen vielen zur Seite ausschreitenden oder auch ein wenig wippenden Sekundschritten gerät so wohl weniger beschaulich oder gar "wundersam" - sondern zur recht nüchternen Prosa aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Die abgestuften Warte-Schleifen und die Pausenseligkeit des Instrumentalsatzes werden ebenso klar und deutlich prononciert wie die gelegentlichen Erregungszustände.
    Chantal Thomas hat einen verfremdeten Wald auf die Bühne beordert, in dem Golaud die schöne Mélisande aufgabelt: die wie Telgraphenmasten geschälten Stämme sind unten wie Säulen mit verziertem Holz verkleidet, die Äste erinnern an schwungvoll gebogenes Rattan. Die junge Frau weiß nicht, was mit ihr ist und wie ihr wird - und sie will mit sich selbst beschäftigt sein. Das macht die radikal blondierte Natalie Dessay ebenso entschieden deutlich wie die Zwangsläufigkeit der Hingezogenheit zu Golauds Halbbruder Pelléas, diese große wunderschöne Verträumung und schließlich Hingabe, die nicht anders kann als zum Tode zu führen.
    Stéphane Degout tritt wie ein Jungstudent ins unentschlossene Leben Mélisandes. Der immer wieder kräftig und kernig auftrumpfende Bariton meistert seine Partie makellos und trägt ebenso wie Laurent Naouri als sein Halbbruder und Rivale zum großen Schlussapplaus für die Sänger bei. Hinsichtlich er Inszenierung war das Publikum etwas unschlüssig: es sah in den aus dem Waldbild erwachsenden Schlosspark-Ambiente und den in ihm angedeuteten Wohnecken eine neonazarenische Zubereitung der Fabel, die die Seelenzustände nicht veräußerliche. Laurent Pailly strebte sichtlich keine "Deutung" an, sondern ließ das alte Märchen mit präziser Personenführung einfach irgendwie "geschehen".

    "Wiens älteste Oper ist auch die modernste" - so lautet ein Werbeslogan des traditionsreichen Hauses an der linken Wienzeile. Ob nun aber der stille Verweis auf zeitlose Gültigkeit des mehr als hundert Jahre alten Werks von Maeterlinck und Debussy eine "moderne" Lösung ist, kann und muss in Abrede gestellt werden. Auch wenn Billy entgegenruderte: Pailly hat ein Rührstück - und eben als Rührstück.