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Kraftstrotzend, animalisch, sexualisiert

Kraftstrotzend, animalisch, sexualisiert - so lauten die Attribute, mit denen man den Flamenco belegt, jenen Inbegriff andalusischer, ja hispanischer Musik schlechthin. Der Kölner Romanist und Kulturjournalist Kersten Knipp legt mit dem Taschenbuch "Flamenco" eine ebenso profunde wie spannende Entmythologisierung des scheinbar archaischen Topos vor.

Von Florian Felix Weyh | 05.04.2007
    Die Gitarresaiten sind zum Zerreißen gespannt, und Sänger machen sich keineswegs lächerlich mit der Behauptung: "Wenn ich singe, schmeckt mein Mund nach Blut". Ja schon realiter soll das Publikum für diesen Umstand gesorgt haben, indem ein berühmter Interpret von einem Zuhörer vor Ergriffenheit in die Wange gebissen wurde.

    Kraftstrotzend, animalisch, sexualisiert - so lauten die Attribute, mit denen man den Flamenco belegt, jenen Inbegriff andalusischer, ja hispanischer Musik schlechthin. Gehört wird er in seiner modernisierten Form von jedermann. In den 80ern waren die Flamenco-Tanzfilme von Carlos Saura allgemeine Kulturbürgerpflicht, Platten von Paco de Lucia fanden reißenden Absatz. Und 1996 zogen die US-Demokraten mit dem Flamenco-Klon "La Macarena" in den Präsidentschaftswahlkampf, den sie glanzvoll gewannen. Was hätte auch besser zur Einstimmung auf Clinton gepasst als die Konnotationen von kraftstrotzend, animalisch, sexualisiert?

    Nur publiziert wird hierzulande wenig über diese eigentümliche Musik, die so klar einzuordnen erscheint, dass sie alle Nachforschungen erspart. Irrtum, sagt der Kölner Romanist und Kulturjournalist Kersten Knipp und legt mit dem Taschenbuch "Flamenco" eine ebenso profunde wie spannende Entmythologisierung des scheinbar archaischen Topos vor. Falsch ist die Annahme, der Flamenco sei uralte spanische Basiskultur, falsch auch der Ursprung im Zigeunermilieu, wie ihn Folkloreklischees bis hin zu Bizets "Carmen" eifrig behaupteten.

    Bei dürftiger Quellenlage finden sich wenig Beweise für die These, in den hermetischen Zirkeln des fahrendes Volkes habe der Flamenco bis 1850 unentdeckt als kulturelles Erbe einer Außenseiterkaste im Rohzustand vegetiert. Selbst die Begriffsgeschichte des "Flamenco" schlägt neuesten Forschungen zufolge Kapriolen: Nicht glühendes Entflammtsein steckt darin, sondern das Adjektiv "flämisch", dessen pejorative Zweitkonnotation im Sinne von "ungehobelt, laut, frech" sich auf die Zigeuner übertragen ließ, die wiederum nur herhalten mussten als Ursprung eines künstlichen Mythos. Eine Doppelprojektion aus dem Geist der Romantik, als man sich überall in Europa nach dem Unverbrauchten sehnte und bereit war, über dem Wunsch nach Ursprünglichkeit die Augen vor der tristen Wahrheit zu verschließen.

    Tatsächlich deuten alle Zeichen darauf hin, dass der Flamenco ein Produkt aufblühender Kulturindustrien im 19. Jahrhundert ist und von der Nachfrage gespeist wurde, nicht vom überbordenden Angebot sich seelisch selbstzerfleischender Künstler. Gleich dem Aufkommen vieler populärer Musikformen der Moderne bot der Flamenco Unterprivilegierten materielle Aufstiegsmöglichkeiten und Karrierechancen, die ihnen andernorts in der hierarchischen spanischen Gesellschaft kaum eingeräumt wurden.

    Dass im Flamenco Themen von Armut, Unterdrückung und des Aufstiegskampfes verhandelt werden, nimmt darum kaum Wunder und macht einen Teil seiner Anziehungskraft aus. Neben Anzüglichkeiten sexueller Natur schätzen Angehörige höherer Schichten ja immer den Nadelöhrblick durch die Kultur, wenn sie sich gefahrlos unteren Schichten nähern wollen. "Wer selbst ohne Mühen und Sorgen lebt, verwechselt Armut leicht mit Abenteuer", schreibt Knipp über die spanischen Aristokraten der Zeit. "Gelangweilt vom eigenen Wohlstand, wagen sie den Flirt mit der proletarischen Boheme."

    Das ist der Startschuss einer kommerzielle Musikkneipen- und Theaterkultur, in der Profimusiker überleben können, indem sie die Zerstreuungsbedürfnisse reicherer Kunden und rasch auch ausländischer Touristen bedienen. Aus der Mode geboren macht der Flamenco fürderhin jede Anpassung mit, die ihm die Umstände der Kulturindustrie aufzwingen - sei's auch nur wegen einer veränderten Gesetzgebung. Als 1926 Opern in Spanien ein Steuerprivileg erhalten, entsteht ganz rasch die Ópera flamenca, die Flamenco-Oper, die Musik und Tanz mit dünnen Handlungsfäden verbindet, um den Steuervorschriften Genüge zu tun.

    Das alles klingt stark fokussiert, doch Kersten Knipp schreibt nicht für den akademischen Betrieb, noch fürs eingeschworene Volk von Flamenco-Experten, sondern präsentiert auf 250 Seiten eine flüssig geschriebene Kultursoziologie, die in ihrem Anekdotenreichtum ebenso unterhält, wie sie in manchen Schlussfolgerungen verblüfft und provoziert. Allein die Behauptung eines ökonomischen Primats über kreative Impulse ist mutig, denn sie kratzt an einer Aura, die von der Flamenco-Industrie bis heute eifrig behauptet wird. Und so sind folgende Worte auch nur einem Romancier eingefallen, nicht dem Munde eines Musikers entfleucht: "Ein Sänger ohne Leiden ist wie eine Gitarre ohne Saiten: Er verursacht Geräusche, aber er klingt nicht." So muss man Musik verkaufen - aber so entsteht sie nicht.