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Kraftwerk kauft Dorf in Ohio

Wann immer Menschen ihre Häuser verlassen müssen, weil die Industrie die Wohnfläche als Arbeitsgebiet braucht, dann ist der Widerstand groß. Denn niemand verlässt gerne Haus und Hof, was für viele verbunden ist mit Heimat, Geborgenheit und natürlich mit vielen Erinnerungen. Selbst mit viel Geld lässt sich das nicht aufwiegen. Und deshalb gibt es immer wieder Proteste gegen die Umsiedlungspläne, selbst in China beispielsweise, wo tausende Menschen ihre Heimat verlassen mussten für den Bau des Drei-Schluchten-Staudamms. Und in Deutschland sorgen nach wie vor die Dörfer Horno im Bundesland Brandenburg oder Heuersdorf in Sachsen für Schlagzeilen, weil viele ihrer Bewohner der Kohleförderung nicht weichen wollen. Auch in den USA gibt es jetzt einen Fall, wo ein Dorf aufgekauft werden soll, allerdings nicht, wie bisher, von einem der Bundesstaaten oder der Regierung, sondern - und das ist bislang einmalig in den USA - von einem Kraftwerk. American Electric Power, kurz AEP, der größte US-amerikanische Energieerzeuger, beabsichtigt, ein Dorf im Bundesstaat Ohio aufzukaufen - offiziell, um mehr Platz für die Expansion seines Kohlekraftwerkes zu erwerben. Doch es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der Konzern ganz andere Pläne verfolgt und sich von Umweltsünden der Vergangenheit freikaufen will.

Von Beatrice Uerlings |
    Der Rauch. Was man zuerst sieht, wenn man durch den Südosten Ohios auf Cheshire zufährt, sind fette, weiße Fontänen, die aus wuchtigen Schornsteinen quellen. Gavin ist eines der weltweit größten Kohlekraftwerke, 7,5 Millionen Tonnen werden dort jährlich verfeuert.

    Die Schatten. Was man als nächstes sieht, sind die selbst bei Tag ins Dunkle getauchten, niedlichen Häuser von Cheshire. Das 211-Seelendorf grenzt direkt an die Anlage, deshalb soll es bis Frühjahr 2003 ausradiert werden. Der Energieerzeuger AEP zahlt insgesamt 20 Millionen Dollar, um die Hauseigentümer für die Umsiedlung zu entschädigen. Jeder gewinnt, versichert Produktionsmanager Greg Massey:

    Wir sind glücklich, weil wir Platz für Expansionen brauchen. Die Bewohner sind glücklich, weil es eine goldene Gelegenheit ist, mit ihren Immobilien Geld zu machen. Wir bieten ihnen, je nachdem, zwei oder dreimal so viel wie den Marktwert ihrer Häuser. Das ist wirklich mehr als fair.

    Fair? – Vielleicht, wenn da nicht der Sommer 2001 gewesen wäre. Da Gavin stark schwefelhaltige Kohle verbrennt, die billiger ist als Material mit weniger Schadstoffen, musste es damals von der staatlichen Umweltbehörde ein System zur Filterung von Stickstoff-Oxiden installieren. Der Testlauf wurde zum Desaster. Als die "blaue Fahne" kam, sagt Lehrer Ron Hammond, dachte er zuerst, das Dorf brennt:

    Wir konnten noch nicht einmal mehr das Dach der Kirche da hinten sehen. Wir wissen auch nicht, wie groß der Ausstoß war. Seither leben wir mit der Angst, dass so etwas noch mal passiert.

    AEP ließ deutsche Techniker von E.on kommen, um den Schaden zu reparieren. AEP behauptet: 85 Prozent der Stickstoffoxide wurden seither entfernt und die Emissionen haben nie die gesetzlich zulässigen Grenzen überschritten. Ein Ingenieur von E.on aber, der Gavins Probleme kennt, will auf Anfrage nichts sagen. Und Boots Hern ist nicht die einzige Anwohnerin, die auch heute noch über ständige Kopfschmerzen klagt:

    Ich werde mein Haus nicht verkaufen, weil ich dann zugleich eine Erklärung unterschreiben muss, dass AEP für keinerlei Folgeschäden verantwortlich ist. Wenn mein ganzes Geld dann an den Doktor geht, habe ich alles verloren.

    Gesundheitliche Schäden bei Atemwegserkrankungen können oft erst Jahrzehnte später auftreten. Ron Hammond weiß das, aber sein Recht auf einen finanziellen Ausgleich interessiert ihn nicht. Eine seiner beiden Töchter leidet an Asthma. Er will so schnell als möglich weg:

    Selbst wenn sie die Anlage jetzt im Griff haben: Hier in Ohio gibt es weder Höchstgrenzen für den Ausstoß von Schwefeloxiden noch Standards für Quecksilber.

    Auch Robert Hernan, Umweltexperte und stellvertretender Umweltminister des Bundesstaates New York, traut dem Braten nicht so ganz:

    Du verkaufst heute, aber du weißt nicht, was das Geld in 10, 20 Jahren noch wert ist, wenn du krank wirst.

    Gavin ist kein Einzelfall. Überall in Amerika können Firmen ihre Chemikalien nach eigenem Gutdünken entsorgen, weil die Bundesstaaten entsprechende Informationen schlicht nicht weiterleiten. Zahllose Kommunen verschmutzen das Grundwasser mit ungeklärten Fäkalien, um die Abgaben für die Bürger gering zu halten. Und seit George W. Bush Präsident ist, wird der Wirtschaft ohnehin eine Gefälligkeit nach der anderen erwiesen, seufzt Umweltexperte Robert Hernan:

    George Bush lässt die Industrie einfach davonkommen, er ignoriert das gesetzliche Prinzip, dass der Verursacher der Verschmutzung diese auch beseitigen muss. Natürlich weiß die Industrie, dass Bush nicht ewig bleiben wird. Aber sie weiß auch, dass sie genug Zeit hat, vielleicht noch sechs Jahre, um genügend Geld zu sparen, mit dem sie eventuelle Umweltauflagen später dann finanzieren kann. Dieses Land wird nicht nach umweltspezifischen Prinzipien regiert, sondern nach wirtschaftlichen Kriterien.

    Und so sind vermutlich ebenfalls wirtschaftliche Kriterien ausschlaggebend dafür, dass der Bundesstaat Ohio sich im Fall AEP-Cheshire bis heute nicht zu Wort gemeldet hat. Der Südosten von Ohio gilt als strukturschwaches Gebiet - Gavin hingegen bietet 400 Arbeitsplätze und zahlt 7 Millionen Dollar Grundsteuer. Die Rechnung ist da schnell gemacht.