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Kraftwerk unter dem Meer

Technik. - "Darauf wären wir wohl nicht gekommen!" So oder so ähnlich beurteilen Experten immer wieder die Erfindungen von Laien, die ihre Entwürfe zur Begutachtung vorlegen. Viele der Konstruktionen beeindrucken die Maschinenbauingenieure in den Hochschulen vor allem durch die unkonventionelle Umsetzung. Ein überzeugendes Beispiel gibt jetzt ein Mediziner aus Wolfsburg, der sich ein "unsichtbares" Gezeitenkraftwerk ausgedacht hat.

Von Michael Engel | 06.07.2004
    Gerade einmal 40 Zentimeter hoch ist das Modell, zusammengesetzt aus Spielzeugteilen aus einem Stabilbaukasten. Das Ganze sieht aus wie das Schaufelrad am Heck eines Mississippi-Dampfers. Mit dem Unterschied allerdings, dass die fünf Schaufeln drehbar befestigt sind. In der Strömung richtet sich die jeweils oben stehende Schaufel automatisch auf, während die unteren in so genannter "Segelstellung" eine waagerechte Position einnehmen. Strömt Wasser vorbei, dreht sich das Rad. Kai-Ude Janssen aus Wolfsburg hat sich das ausgedacht:

    Das Neuartige an diesem Patent ist, dass es ja nicht nur sehr einfach ist im Aufbau, weiterhin ist es als einziges aller patentierten, bekannten Anlagen in der Lage, vollständig getaucht zu arbeiten.

    Atlantisstrom - so der Name seiner Erfindung - soll auf dem Meeresboden stehen. Das heißt: niemand sieht etwas davon, wenn das Schaufelrad im Gezeitenstrom arbeitet.

    Das neue daran sind die selbst steuernden Klappen, dass man eben beide Gezeitenrichtungen ausnutzen kann, ohne irgendwelche zusätzlichen Maßnahmen ergreifen zu müssen.

    Dr. Detlev Wulff - Akademischer Direktor im Pfleiderer Institut für Strömungsmaschinen der TU Braunschweig - hat das Gezeitenkraftwerk durchgerechnet. Es benötigt Strömungsgeschwindigkeiten von drei Metern pro Sekunde - das entspricht etwa elf Kilometern pro Stunde. Das norddeutsche Wattenmeer scheidet als mögliches Einsatzgebiet aus, weil die Gezeiten zu langsam daherkommen, aber auch die Wassertiefe zu gering ist. Anders in Norwegen:

    Ein Fjord zum Beispiel in Norwegen - da haben wir optimale Strömungsverhältnisse für Gezeitenkraftwerke - von vier bis fünf Metersekunden teilweise. Der berühmte Mahlstrom ist da so ein Beispiel, der ja sogar in der Lage war, ganze Ruderboote zu verschlucken.

    Da die Fjorde bis zu 100 Kilometer tief ins Land reichen, werden durch die Gezeiten riesige Wassermassen bewegt - aus denen sich jede Menge Energie gewinnen ließe. Das Schaufelrad von Atlantisstrom würde sich allerdings nur langsam drehen - sechs bis zehn Umdrehungen pro Minute. Wulff:

    Da teuerste Bauteil ist eigentlich das Getriebe, weil man eben übersetzen muss auf einen schnellen Generator. Aber der Rest ist relativ einfach zu beherrschender Stahlwasserbau.

    Mit einer Breite von 20 Metern und einem Durchmesser von acht Metern soll "Atlantisstrom" aufgrund seiner einfachen Bauweise nur 500.000 Euro kosten. Zum Vergleich: Maschinenbauingenieure der Universität Kassel entwickelten ein oberirdisch arbeitendes Wasserkraftwerk, das zehnmal mehr kostete. Geringe Baukosten - so Janssen optimistisch - machen den Strom billig:

    Wir haben das Modell betriebswirtschaftlich durchgerechnet, und wir wären bei einem Preis von neun Cent pro Kilowattstunde innerhalb von zehn Jahren, selbst bei einem großen Prototyp schon im schwarzen Bereich. Das ist absolut konkurrenzfähig.

    300 Kilowatt Leistung - so die Berechnungen - könnte die Anlage bringen, genug Energie für 700 Haushalte. Ob’s tatsächlich funktioniert - noch dazu über viele Jahre - das wird die Zukunft erweisen. Ein erster Testlauf in der Oberharzer Oker mit einem zwei Meter großen Modell konnte jedenfalls zeigen: die Schaufelklappen arbeiten einwandfrei. Keine Staumauer, keine Sichtbehinderungen, freie Fahrt für die Schiffe - bei so vielen Vorteilen rechnet der Erfinder mit einer breiten Unterstützung.

    Die einzige erneuerbare Energie, die in großen Mengen planbar ist, ist die Gezeitenkraft. Weil die Gezeiten absolut vorhersehbar sind. Diese Energie könnte problemlos den gesamten Energiebedarf an Strom decken.

    Zum endgültigen Beweis fehlt Kai-Ude Janssen nur noch dies: ein originalgetreues Gezeitenkraftwerk. Indes: Investoren, die bereit sind, 500.000 Euro auszugeben, sind noch nicht gefunden. Genau das ist Janssens nächstes Ziel.