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Krank auf dem Land

Ähnlich wie in Deutschland ist auch in Norwegen die flächendeckende medizinische Versorgung schwierig. Viele Orte sind weit abgelegen. Wer hier die ärztliche Versorgung übernimmt, erhält Zulagen und ist oft unterwegs, im Hubschrauber, bei Wind und Wetter. Ein Reisebericht.

Von Marc-Christoph Wagner |
    Es ist kurz nach sieben, Mads Gilbert sucht nach der Dose mit dem Kaffee. Er ist zwar frisch geduscht und rasiert, aber die Strapazen der Nacht sind Gilbert noch ins Gesicht geschrieben: Mit müden Augen blinzelt er ins kalte Neonlicht der Teeküche:

    "Wir waren die ganze Nacht im Einsatz, ein Verkehrsunfall in der Nähe von Narvik - etwa fünf Autostunden von uns entfernt. Diese Aktion dauerte von halb zwei bis gerade eben."

    Mads Gilbert lehnt sich in seinem Stuhl in der Einsatzzentrale des Tromsoer Krankenhauses zurück. Vor ihm der Pott mit dem dampfenden Kaffee. Um ihn herum fünf Mitarbeiter, die eingehende Notrufe aufnehmen und die Einsätze koordinieren. Das Licht in dem Raum ist gedämpft, überall stehen Telefone, Computer, Funkgeräte - an den Wänden meterhohe Landkarten.

    Seit 33 Jahren arbeitet Gilbert als Arzt in Tromso. Seit 2003 leitet er die akute Abteilung des Universitätskrankenhauses, das für ganz Nordnorwegen zuständig ist. Den Bereitschaftsdienst lässt er sich nicht nehmen, dann steht er sieben Tage rund um die Uhr zur Verfügung. Wann und wo das nächste Unglück passiert - das lässt sich nie vorhersehen:

    "Es darf nicht sein, dass nur diejenigen, die in den Städten wohnen, Hilfe bekommen, wenn sie in Not geraten sind. Das Ziel unserer Gesundheitspolitik lautet: Alle sind gleich, alle haben dieselben Rechte. Wir dürfen nie vergessen, dass es die Leute an der Küste und auf dem Lande sind, die unsere Nahrung sichern. Sie sind es, die den Fisch aus dem Meer holen, die die Kartoffeln anpflanzen, die Kühe melken - sie sind es, die in Gefahr geraten können. Und eben deshalb haben sie denselben Anspruch auf medizinische Versorgung wie die, die in der Nähe eines Krankenhauses wohnen."

    Ein Notruf. Mads Gilbert springt auf - und plötzlich geht alles ganz schnell. Routiniert legt er den Rettungsanzug an, zieht sich den Helm über den Kopf, bespricht sich kurz und knapp mit dem Piloten:

    "Wir fliegen auf eine Insel auβerhalb von Tromso. Eine 60-jährige Frau hat starke Schmerzen in der Brust, das könnte ein Herzinfarkt sein. Ein Notarztwagen ist ebenfalls unterwegs, aber er ist noch so weit weg, dass wir mit dem Hubschrauber schneller dort sein werden und die Frau auf jeden Fall schneller ins Krankenhaus bringen können."

    Der Hubschrauber hebt ab - in einer dichten Wolke von aufgewirbeltem Schnee. Wenige Augenblicke später hetzt er über die norwegische Winterlandschaft: die Stadt Tromsø am Fuβe schneebedeckter Berge, die Schiffe auf dem Fjord, ein rosafarbener Streifen inmitten des kühl-matten Lichts des Winters. Mads Gilbert blickt konzentriert aus dem Fenster.

    Keine zehn Minuten später landet der Hubschrauber auf einer Landstraße, Mads Gilbert eilt ins Haus. Eine ältere Frau stützt sich in ihrer Küche auf einen Stuhl, die rechte Hand drückt sie gegen die Brust. Gilbert und sein Assistenzarzt betten sie auf das Sofa im Wohnzimmer. Im Nu haben sie die Elektroden des mobilen EKG-Gerätes auf dem nackten Oberkörper der Frau verteilt:

    "Wir haben hier alles, was wir brauchen - eine Art Feldlazarett. Wir können sie genauso behandeln wie im Krankenhaus, nur eine halbe bis Dreiviertel Stunde früher. So ist das bei den Entfernungen hier - wir benutzen alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, um Zeit zu sparen. Und gerade bei einem Herzinfarkt ist Zeit ja ein entscheidender Faktor."

    Eine Viertelstunde später hat auch der Notarztwagen das Haus erreicht, drauβen sind die laufenden Rotoren des wartenden Hubschraubers zu hören. Die Patientin ist stabilisiert, ihr Atem geht gleichmäβig - das gespritzte Nitroglyzerin und Morphium beginnen zu wirken. Mads Gilbert hält die Hand der Frau. Seine Augen sind hellwach, seine Gesichtszüge entspannt:

    "Für mich als Arzt ist es faszinierend, auf diese Weise zu arbeiten. Man leitet nicht einfach eine Abteilung in einem Krankenhaus, sondern kommt zu den Menschen nach Hause. Ich bin oft ganz alleine auf mich gestellt und muss eigene Entscheidungen treffen. Das sind auβerordentlich starke menschliche Eindrücke: Es geht um Leben und Tod, um menschliche Fürsorge, Menschen mit psychischen Problemen, kleine Kinder mit Magenschmerzen. Es ist das Drama des Lebens, das sich da immer wieder vor unseren Augen abspielt. Für mich ist dieser Job ein enormes Geschenk. Es geht um Menschen, nicht um Geld."