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Kraushaar: RAF war eher identitätspolitisches Projekt

Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung glaubt, dass die Dokumentation über die Rote Armee Fraktion in der ARD keine wirklichen Überraschungen beinhaltet. Deutlich werde, dass die RAF nur zum überwiegenden Schein politische Ziele verfolgt habe. Die inhaftierten Mitglieder hätten sich auf eine Art Identitätspolitik konzentriert - mit den Aktionen einer Stadtguerilla habe das wenig zu tun, betonte Kraushaar.

Moderation: Karin Fischer |
    Radiodurchsage: 00.38 Uhr. Hier ist der Deutschlandfunk mit einer wichtigen Nachricht. Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden.

    Fischer: Es war am 18.10.1977, als dieser Sender die gelungene Geiselbefreiung in Mogadischu meldete. Das ist auch der Tag oder die Nacht der Selbstmorde von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim. Raspe hatte die Nachricht auf einem Transistorradio in seiner Zelle gehört. Kurze Zeit später wurde der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ermordet. Zusammen war es das blutige Finale des Terrorjahres 1977, das als "Deutscher Herbst" in die Geschichte einging. Gestern Abend war der erste Teil der RAF-Dokumentation von Stefan Aust und Helmar Büchel in der ARD zu sehen, Frage an Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung, der ein großes Werk zum RAF-Terror herausgegeben hat: Haben Sie Neues über den Krieg der Bürgerkinder erfahren?

    Wolfgang Kraushaar: Na ja, man muss mit pauschalen Äußerungen zurückhaltend sein. Ich glaube, es gibt für diejenigen, die sich seit längerem mit der Geschichte der RAF befasst haben, keine wirklichen, großen Überraschungen im Rahmen dieses Films zu erkennen, aber es gibt durchaus die Konkretisierung plausibler Vermutungen, die aber zum Teil dann doch nicht so richtig belegt werden können.

    Moderatorin: Zum Beispiel?

    Kraushaar: Ja, ich muss dazu sagen, dass man ja nicht nur mit dem Film als solchem konfrontiert ist, sondern gleichzeitig mit Nachrichten auf Spiegel Online, die sich auf den Film beziehen und bereits im Vorfeld bekannt gemacht worden sind. Und die beiden wichtigsten Nachrichten betreffen einmal eine Äußerung von Peter Jürgen Boock, der nämlich glaubt, die Mörder Hanns Martin Schleyers zu kennen, und der hat ja sich geäußert dann im zweiten Teil des Filmes, der heute Abend zu sehen sein wird, dass nämlich Stefan Wisnewski und Rolf Heißler die beiden Todesschützen gewesen seien, und das Zweite bezieht sich auf die mutmaßliche Abhöraktion, die in Stammheim auch in der Todesnacht durchgeführt worden sein soll.

    Fischer: Dann frage ich Sie dazu gleich, Herr Kraushaar, für wie plausibel halten Sie diese öffentlichen Vermutungen, die Zellen seien abgehört worden und die Staatsanwaltschaft schon im Vorfeld über die Selbstmorde informiert gewesen?

    Kraushaar: Es hat ja bereits im Frühjahr 1977 den Rücktritt von zwei Ministern in Baden-Württemberg gegeben wegen Abhöraktionen in Stammheim, insofern ist das ja nicht so ganz aus der Luft gegriffen, denn man kann sich in der Tat nur darüber wundern, dass man das nicht genauer beobachtet hätte, was sich in dieser Nacht der Entscheidung sozusagen in Stammheim abgespielt hat. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, dass man davor einfach nicht die Augen und Ohren verschlossen hat und das versucht hat zu verfolgen.

    Moderatorin: Das scheint ja überhaupt der springende Punkt an der Sache zu sein, nicht die Abhöraktion, sondern die Mitwisserschaft - um dann nicht zu sagen Mittäterschaft - des Staates an den Selbstmorden.

    Kraushaar: Ja, ich glaube, dass sich die staatlichen Bediensteten, die als Verdächtige dafür in Frage kommen, natürlich naheliegenderweise damit sehr schwer tun werden, das einzugestehen, weil sie damit nämlich sich eines Deliktes schuldig gemacht hätten, nämlich einer unterlassenen Hilfeleistung.

    Fischer: Zurück zum Film, Herr Kraushaar, und zu dessen Erzählhaltung, die ja eigentlich auch recht eindeutig ist und die Sie vermutlich weitgehend unterstützen würden, dass nämlich die Selbststilisierung der RAF-Protagonisten wichtiger war als ihre revolutionären Ambitionen und dass der gesamte RAF-Terror in den späteren 70er Jahren ein sehr selbstbezogenes Projekt war und eigentlich nur noch der Gefangenenbefreiung diente.

    Kraushaar: Ja, ich glaube, das ist inzwischen doch weitgehend klargeworden, dass die RAF nur zum überwiegenden Schein politische Ziele verfolgt hat, aber in Wirklichkeit es eigentlich mit einem Projekt zu tun hatte, die sie - bestimmte Interpreten, auch Sozialwissenschaftler - inzwischen als Identitätspolitik bezeichnen. Dieses identitätspolitische Projekt bedeutet etwas völlig anderes, als eine Art von bewaffneter Kampf oder Aktion einer Stadtguerilla durchzuführen, es ging eigentlich letztendlich um diejenigen, die dann inhaftiert waren. Und nicht ohne Grund hat auch diese Zeitphase eigentlich die größten Wellen geschlagen, nämlich von 1972 bis 77, und nicht die Zeit, als die Kerngruppe der RAF noch auf freiem Fuß war.

    Fischer: Welche Fragen, Wolfgang Kraushaar, sind jetzt noch offen, die heute Abend beantwortet werden müssen?

    Kraushaar: Na ja, heute Abend wird es ganz sicher um die Ermordung von Hanns Martin Schleyer gehen und es wird gehen um die mutmaßlichen Abhöraktionen in Stuttgart-Stammheim. Dazu wird man möglicherweise konkretere Aussagen hören. Letztendlich bewegt sich das allerdings alles noch eher im Bereich von Vermutungen und Indizien, die in diese Richtung weisen, und insofern gibt es da immer noch eine relativ große Offenheit, wie diese Dinge weiter behandelt werden müssen.

    Fischer: Herzlichen Dank an Wolfgang Kraushaar, der zweite Teil der RAF-Dokumentation läuft heute Abend um 20.15 Uhr in der ARD.