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Kreativnetzwerk

Die Publizistin Hannah Arendt pflegte ausführlichen (Schrift-) Kontakt mit - meist jüngeren - Autorenkollegen. Darunter Größen wie Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Rolf Hochhuth. Der Politikwissenschaftler Thomas Wild beschreibt dieses kreative Netzwerk in seinem neuen Werk.

Von Helmut Mörchen | 02.02.2010
    Die Schriftstellerinnen und Autoren Hilde Domin, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Rolf Hochhuth und Uwe Johnson sind sehr verschieden und haben eigentlich wenig miteinander gemein. In Thomas Wilds Buch "Nach dem Geschichtsbruch – Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt" bilden sie deshalb auch kein zusammenspielendes Quintett, sondern stehen nebeneinander als Gesprächspartner der exilierten Philosophin zu verschiedenen Anlässen und Zeiten.

    Die engste und längste Beziehung bestand zwischen Hannah Arendt und dem 28 Jahre jüngeren Uwe Johnson. In seinem Buch fügt Wild vier weitere Autorinnen und Autoren zu einer "Konstellation" hinzu, die er ausdrücklich wie ein Sternbild am Himmel betrachten möchte. "Sie ist von keinem Gesetz und keiner Theorie vorgeschrieben, sondern vom Betrachter zusammengestellt, freilich nicht willkürlich."

    Konstellation eins hat ihren Anfang in der Frankfurter Paulskirche im Herbst 1958. Die nur drei Jahre als Hannah Arendt jüngere Hilde Domin saß bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Karl Jaspers im Publikum. Die noch unbekannte Lyrikerin traute sich nicht, die Laudatorin Hannah Arendt in der Paulskirche anzusprechen, sondern schrieb ihr und schickte ihr ihren kurz darauf erschienenen Debüt-Lyrikband zu. Mit dem ersten Brief begann zwischen den beiden ein Dialog, den Thomas Wild als "Gespräche, die in Briefen geschrieben werden" beschreibt.

    Da ging es vor allem um Dichtung, aber auch um politische Fragen, denen sich Arendt zögerlicher und skeptischer zuwendete als ihre deutsche Briefpartnerin. Die zum Ende der 50er-Jahre einsetzende Welle antisemitischer Schmierereien hatten Hilde Domin alarmiert. Sie wollte als Schriftstellerin eingreifen, appellierte an das Verantwortungsgefühl, wenn sie in einem Brief Hannah Arendt fragt: "Was können wir tun, um es zu mobilisieren, wir die wir eine Stimme haben?" Hannah Arendt zweifelte mit einer Anspielung auf Nietzsches Essay "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", ob der Künstler über eine öffentlich wirksame Stimme verfüge. Originalton des von ihr zitierten Nietzsche: "Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost." Zur Skepsis im Blick auf die Wirkung öffentlich artikulierter Empörung kam Hannah Arendts grundsätzliche Entscheidung, sich als amerikanische Staatsbürgerin zu Vorgängen in Deutschland nicht öffentlich äußern zu wollen.

    Ganz anders die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt. Ingeborg Bachmann, deren Bücher wie die eigenen im Münchener Piper Verlag erschienen, hatte Hannah Arendt als Leserin schon kennen lernen können. Die New Yorker Lesung Ingeborg Bachmanns am 13. Juni 1962 im New Yorker Goethe-Institut war die erste und einzige persönliche Begegnung, deren Bedeutung für Bachmann ein Brief aus Rom bewegend dokumentiert:

    "Liebe, sehr verehrte Hannah Arendt,

    die große Sommerapathie in Rom ist schuld daran,
    dass ich noch gar nicht dazu gekommen bin,
    Briefe zu schreiben, und doch habe ich in Ge-
    danken, über den Atlantik oft ein Blatt zu
    Ihnen geschickt, auf dem so viel gar nicht steht,
    aber auf dem zumindest stehen sollte: dass ich
    so sehr froh war, Sie zu treffen und zu Ihnen
    kommen zu dürfen. Ich habe nie daran gezweifelt,
    dass es jemand geben müsse, der so ist, wie Sie sind,
    aber nun gibt es Sie wirklich, und meine außer-
    ordentliche Freude darüber wird immer anhalten.

    Ich möchte Sie so gerne wiedersehen. Die römische
    Adresse (Via de Notaris 1F, Tel. 80.31.69.) gilt
    wieder von Ende September an. Bitte lassen Sie es
    mich wissen, mit einem Wort, wenn Sie nach
    Europa kommen, nach Italien kommen, damit ich
    auf den Bahnhof oder auf den Flugplatz gehen kann.

    Gerne wüsste ich, wann Ihre Arbeit über den
    Eichmann-Prozess erscheint – für den Fall, dass
    sie nicht gleich in Deutschland gedruckt wird
    (denn das erfahre ich ja rasch).

    Die schönsten Grüße
    von Ihrer
    Ingeborg Bachmann"


    Hier hätte es zu einem gemeinsamen Text beider Autorinnen kommen können, denn Hannah Arendt schlug ihrem deutschen Verleger Klaus Piper als "eine – wie sie meinte - ganz und gar wilde Idee" vor, Ingeborg Bachmann um die Übersetzung ihres Buches "Eichmann in Jerusalem" zu bitten. Nun, zu einer solchen Übersetzung ist es aus vielen Gründen nicht gekommen, aber das Eichmann-Thema und andere historisch-politische Fragen standen im Vordergrund des brieflichen Gedankenaustauschs. Ingeborg Bachmann, die eine philosophische Doktorarbeit über die Heidegger-Rezeption geschrieben hat, und lieber Sachbücher als Romane las, stand Hannah Arendt intellektuell näher als Hilde Domin.

    Bei Rolf Hochhuth sind es die Bücher, die beide zusammenführten, das Eichmann-Buch und der "Stellvertreter". Neugier auf den jungen Dramatiker hatte ein brieflicher Bericht Karl Jaspers' an Hannah Arendt über seine erste Begegnung mit Hochhuth ausgelöst. In der öffentlichen Diskussion über den "Stellvertreter" trat Hannah Arendt auf Hochhuths Seite. Sie lernten sich bei einem gemeinsamen Auftritt in einer amerikanischen Fernsehinterviewsendung im März 1964 persönlich kennen und trafen sich seitdem des Öfteren. Beim zweiten Theaterstück Hochhuths "Die Soldaten" wurde – von Wild plausibel belegt – Hannah Arendt zu einer heimlichen Koautorin.

    Weniger einvernehmlich war das Verhältnis zwischen Hannah Arendt und Hans Magnus Enzensberger. Der "Merkur" hatte Hannah Arendt gebeten, Enzensbergers Buch "Politik und Verbrechen" zu besprechen. Arendt mochte das Buch nicht, verweigerte die Rezension, stimmte aber dem Abdruck ihres Ablehnungsbrief im "Merkur" zu. Ihre Kritik an Enzensbergers Buch ging in zwei Richtungen. Aus ihrer Sicht betrachteten Linksintellektuelle, zu den ja damals auch Enzensberger gehörte, den Nationalsozialismus verkürzt als Produkt eines von Grund auf kriminellen Kapitalismus. Zum andern bemängelte sie den gleichzeitig unternommenen Versuch, Auschwitz zu mythisieren, zur Katastrophe der Menschheit schlechthin zu machen. "Wenn ein Deutscher das schreibt – merkt Hannah Arendt an – ist das bedenklich. Es heißt: nicht unsere Väter, sondern alle Menschen haben das Unglück angerichtet. Was einfach nicht wahr ist."

    Die freundschaftlichste und gleichzeitig rätselhafteste Beziehung bestand zwischen Hannah Arendt und Uwe Johnson. Kennen gelernt hatten sie sich in der Zeit, als Johnson noch in New York lebte. Nach seinem Umzug nach England blieben sie brieflich bis zu Hannah Arendts Tod eng verbunden. Die Briefe dokumentieren eine warme persönliche und weniger intellektuelle Freundschaft. Uwe Johnson hat Hannah Arendt immer als eine ihm überlegene Gesprächspartnerin, ja Lehrerin anerkannt und verehrt. Rührend der fehlgeschlagene Versuch, ihr in den "Jahrestagen" ein Denkmal zu setzen. Sie hat sich dem widersetzt, so dass sie im Roman bei der Schilderung ihres New Yorker Salons nicht wie ursprünglich von Johnson gewollt unter ihrem Namen, sondern als "Gräfin Seydlitz" vorkommt. Eine merkwürdige Namenswahl für eine exilierte Jüdin, die Hannah Arendt dann auch zu Recht gegenüber Johnson moniert hat.

    Mein persönliches Fazit aus Thomas Wilds empfehlenswerter essayistischer Studie: Dichter brauchen neben den Berufslesern – den Verlegern, Lektoren, Kritikern, Literaturwissenschaftlern – Leser, die sich ihnen exklusiv und dauerhaft – und vor allem sozusagen interesselos – zuwenden. Denn die Einsamkeit am Schreibtisch kann erdrückend sein. Von Günter Gaus nach ihren "Wirkungsabsichten" gefragt, hat Hannah Arendt ihre besondere Kommunikationsfähigkeit spontan sehr schön zugespitzt:

    "Männer wollen immer furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinn, wie ich verstanden habe – dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl."

    Nach der Lektüre von Thomas Wilds Buch verstehen wir, wie es Hannah Arendt gelingen konnte, fünf so verschiedene Autorinnen und Autoren zu faszinieren und teilweise an sich zu binden.

    Thomas Wild: "Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt". Matthes & Seitz, Berlin 2009, 284 Seiten, 29,90 Euro.