Donnerstag, 25. April 2024

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Fünf Jahre Krefelder Studie
Wie geht es den Insekten heute?

Die Masse der Insekten ist binnen 30 Jahren um 75 Prozent geschrumpft - diese Botschaft rüttelte im Herbst 2017 Öffentlichkeit und Politik auf. Inzwischen sind erste Gegenmaßnahmen angelaufen - aber lässt sich das Insektensterben wirklich stoppen?

Von Joachim Budde | 16.10.2022
Schwarzblauer Bläuling oder Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling auf einer Blüte
Schmetterlinge hatten - ebenso wie Bienen - bei uns Menschen immer schon eine recht gute Lobby. Aber auch andere Insekten spielen eine immens wichtige Rolle für die Ökosysteme. (imago/McPhoto/Andreas Pulwey)
„Hier ist eine. Es hat nicht lange gedauert. Das ist ganz typisch Eichelbohrer.“ Mit Thomas Hörren, dem Vorsitzenden des Entomologischen Vereins Krefeld auf Insektenjagd. Vielen Menschen ist der Verein seit fünf Jahren ein Begriff. „So eine hohle Eichel, die im Prinzip von innen leer gefressen ist und dann ein Loch kreisrund bis so ganz leicht oval, wo dann die Larve sich rausgefressen hat und die Eichel dann verlassen hat.“
Die Krefelder haben das Insektensterben in alle Nachrichten gebracht. Seitdem hat fast jeder begriffen: Nicht nur den Bienen oder Köcherfliegen geht es schlecht, sondern den Insekten insgesamt.
„Unter fast allen Eichen, die so ein bisschen älter sind, wenn da die Eicheln rumliegen, einfach nach diesen kleinen kreisrunden Löchern, so zwei Millimeter, drei Millimeter Löcher sind das, das ist der Eichelbohrer, ganz auffällig.“ „Und haben Sie den auch in Ihren Fallen?“ „Der ist auch in der Falle drin. Ja, genau.“
Hat sich die dramatische Lage der Fliegen, Käfer und Motten seitdem nennenswert verbessert? Zeit, einmal nachzufragen.

Langzeit-Studie mit Schockeffekt

Vor fast genau fünf Jahren, am 18. Oktober 2017, erschien im Fachmagazin PLOS one die Studie, die inzwischen nur noch die „Krefelder Studie“ heißt. Der Befund: Ein dramatischer Insektenschwund. Norbert Schäffer ist Vorsitzender des Landesbunds für Vogelschutz (LBV), des bayerischen Ablegers vom Nabu, erinnert sich: „Meine erste Reaktion war: Leute, das wissen wir doch alles.“
Zumindest die Menschen, die sich mit Insekten auskannten. Wie auch Bernhard Misof vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels und Museum Koenig in Bonn: „Wir waren damals auch fasziniert, denn eine solche Langzeitstudie mit so einer großen Datenmenge hatten wir schon lange nicht gesehen. Das war also beeindruckend.“
Denn die Krefelder Entomologen hatten über mehr als 27 Jahre in zahlreichen Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Insekten gefangen. Die Biomasse, also umgangssprachlich das Gewicht aller Insekten in den Fallen, war um mehr als drei Viertel geschrumpft.
Martin Wiemers vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut in Müncheberg: „Aber noch viel spannender fand ich wirklich die Reaktion darauf, das war das erste Mal eigentlich, dass es wirklich einen Aufschrei dann auch in der Bevölkerung und in der Politik gegeben hat, ich denke, das war wirklich so ein Umbruch, dass es plötzlich in aller Munde war.“ Und nicht nur in Deutschland. Journalisten aus der ganzen Welt gaben sich in Krefeld die Klinke in die Hand.

Volksbegehren rüttelt Politik auf

Geht es den Insekten schlecht, dann leiden ihre Lebensräume insgesamt. Denn ob man sie mag oder nicht – ohne Insekten läuft nichts auf diesem Planeten, zumindest an Land und im Süßwasser. Sie sind Futter für Fische und Vögel; sie bestäuben unzählige Pflanzen; sie räumen Kadaver und Kot weg; sie beschützen unsere Nutzpflanzen; sie reinigen die Gewässer; sie halten den Boden fit.
Thomas Schmitt vom Entomologischen Institut: „Seit diesem Tag eigentlich ist das Ganze in der Bevölkerung und in der Politik angekommen, und ich hoffe, dass wir wirklich zu einem Punkt kommen, wo wir den Rückgang der Insekten stoppen können und den Prozess sogar wieder in eine andere Richtung führen können, sodass wir wieder mehr Vielfalt bekommen.“
Auch den Naturschützer Norbert Schäffer hat das breite Interesse an der Studie überrascht. Einerseits. Andererseits: „Ich glaube, die Zeit war reif, über Jahrzehnte Umweltbildung, Information der Bevölkerung, Sensibilisierung ist es dann gelungen, ein so sperriges Thema wie Insektensterben tatsächlich zu einem allgemeinen Thema in der Gesellschaft, in den Medien, in der Politik zu machen mit viel, viel Aufmerksamkeit.“
Von dieser Aufmerksamkeit hat eine Initiative profitiert, die die ÖDP angeschoben hatte und zusammen mit dem LBV und den Grünen umsetzte: Im Februar 2018 stellten sich Hunderttausende in Bayern bei Wind und Wetter vor ihren Rathäusern in lange Schlangen, um ihre Unterschrift für das Volksbegehren „Artenvielfalt & Naturschönheit in Bayern ‚Rettet die Bienen‘“ abzugeben. Am Ende hatten 18,3 Prozent der Wahlberechtigten – nicht derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, sondern aller Menschen in Bayern, die hätten stimmen können – für ein neues Naturschutzgesetz votiert.

Biotop-Schutzpaket in Bayern

Norbert Schäffer: „Die Staatsregierung hatte ja die Möglichkeit, das Volksbegehren abzulehnen, dann hätte es einen Volksentscheid gegeben. Und weil klar war, dass wir diesen Volksentscheid gewinnen würden, hat die Staatsregierung das Volksbegehren angenommen, aber nicht nur das, sondern sie ist mit einem Begleitgesetz über die Ziele des Volksbegehrens hinausgegangen, und es gibt einen Maßnahmenkatalog, der darüber noch hinausgeht.“
Die konkreten Ziele des Gesetzes: Bis zum Jahr 2030 sollen 30 Prozent der Fläche in Biolandwirtschaft bewirtschaftet werden. Der sogenannten Streuobstpakt schützt die existierenden Streuobstwiesen und bezahlt eine Million neue Bäume. Ein großer Erfolg für den Schutz dieser artenreichen Lebensräume.
Landwirte sollen zehn Prozent der Wiesen nur noch einmal im Jahr mähen, damit sich Insekten und ihre Futterpflanzen darauf entwickeln können. Und es soll ein Biotopverbund aus lauter kleinen Schutzgebieten entstehen, die zusammen 15 Prozent der Offenlandfläche ausmachen.
„Das ist für mich das wichtigste Ergebnis des Volksbegehrens, wenn ein sauberer Biotopverbund umgesetzt wird und Rückzugsräume systematisch geschaffen werden in der Agrarlandschaft in Bayern, dann ist dieser Biotopverbund vielleicht wichtiger als alle anderen Ziele des Volksbegehrens zusammen.“
Ein erster, ein großer Erfolg. Denn in vielen Bereichen hat der Naturschutz vor dem Volksbegehren in Bayern den Standards in anderen Bundesländern hinterhergehinkt.

Alkoholtod für die Wissenschaft

Der Egelsberg liegt an diesem warmen Sommertag da wie eine Savanne. Sanft umwogt das verdorrte Gräsermeer einzelne Bäume und kleine Wäldchen. „Das ist auf jeden Fall auch ein Stück Kulturlandschaft hier in Krefeld, der Egelsberg, das heißt, ist komplett menschlich geformt, so wie er jetzt da ist.“ Und in dieser Kulturlandschaft untersucht Thomas Hörren vom Entomologischen Verein Krefeld, wie hier die Insektenvielfalt ist. Mit sogenannten Malaisefallen, denselben Fallen also, die der Verein schon für seine Studie vor fünf Jahren verwendet hat.
„Da hinten sieht man die Spitze der Malaisefalle, wo wir hinwollen.“ „Das ist jetzt so, ich sage mal, bis zur Hüfthöhe ist das dunkle Gaze, die so wie so ein doppeltes T in der Landschaft steht. Und darüber ist dann noch mal eine dreieckige Haube aus weißer Gaze und die Insekten fliegen gegen es, gegen die schwarze Gaze und steigen dann nach oben zum Ausweichen Richtung Licht, und dann stürzen sie in den Alkoholtod.“
Thomas Hörren schraubt die Flasche vom Kopf der Falle ab. „Wenn man jetzt hier einmal reinguckt, dann sieht man auch, was gerade an Insekten unterwegs ist.“ „Wespe, diverse Falter, Fliege. Na ja, haufenweise Fliegen. Natürlich in allen Farben und Größen.“ „Genau.“ „Und ganz da unten sieht man noch mehr Wespen. Wahrscheinlich auch schon wieder drei verschiedene Arten.“ „Genau. Und einen Ohrwurm sehe ich da noch, also eine sehr hochdiverse Probe, dafür, dass wir hier eigentlich auch sehen: So viele Insekten sehen wir jetzt gerade nicht fliegen.“
Alle 14 Tage tauscht jemand diese Flasche aus und wiegt die Insekten nach einem strengen Protokoll, das die Krefelder entwickelt haben, damit die Messungen tatsächlich vergleichbar sind. Die Ergebnisse von vor fünf Jahren waren nur Zwischenergebnisse und Teil des Forschungsprojekts „Diversität von Insekten in Naturschutzgebieten“, aufgelegt vom Bundesamt für Naturschutz, dem BfN.
Malaisefalle im Grünland zum Fangen von Fluginsekten, Niederlande
In einer Malaisefalle sammelt sich nach einer bestimmten Zeit ein Querschnitt der vorhandenen Insektenfauna (imago/blickwinkel/M. Woike)

"Luftplankton" im Bodensatz der Insektenfalle

„Also wir haben jetzt hier so knapp dreieinhalb Gramm pro Tag.“ Viele große, aber noch sehr viel mehr winzige Insekten. Geschätzt gehört jedes zweite Tier und jede vierte Art in so einer Flasche zum „Luftplankton“. Noch Hunderte dieser schwarzen Winzlinge warten darauf, als neue Arten entdeckt zu werden. „Dieser Bodensatz von diesen sehr, sehr kleinen Arten, das ist jetzt eigentlich auch wieder dieses Spannende dabei, weil das natürlich die Arten sind, die eigentlich bei jeder Untersuchung untergehen würden.“
Das ist der Segen der Malaise-Fallen. Und der Fluch: „Das hat noch nie jemand geschafft auf der Welt, so eine komplette Flasche mal komplett zu bestimmen. Weil einfach keine Menschen da waren, die zum Schluss diesen Bodensatz von diesen Insekten, die niemand betrachten konnte, sich anzusehen.“
Aber eine Insektenfamilie aus einem Naturschutzgebiet und mehreren Jahren haben die Krefelder einmal aussortiert und bestimmt: die Schwebfliegen von der Wahnbachtalsperre östlich von Bonn. Und dabei festgestellt, dass die Biomasse der Insekten nicht etwa gleichmäßig über alle Arten schrumpfte, sondern dass einige Arten komplett verschwanden, während andere blieben.

Rolle von Pestiziden noch nicht geklärt

Hörren und seine Kolleginnen interessieren sich auch für die Ursachen des Insektensterbens. Das war die große Frage, auf die ihre Studie von 2017 keine Antwort gefunden hat. Insektengifte und andere Pestizide stehen ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Und eigentlich wäre es gar nicht so schwierig herauszufinden, wo Landwirte welche der sogenannten Pflanzenschutzmittel ausbringen.
„In der Landwirtschaft herrscht eine sehr gute Dokumentation von dem, was eingesetzt wird, das ist verpflichtend und muss auch drei Jahre aufgehoben werden. Aber das Ganze endet dort laut Pflanzenschutzmittel-Anwendungsverordnung - das heißt, es gibt keine zentrale Stelle, wo diese Daten erfasst werden und dann mal anonym zum Beispiel zur Verfügung stünden für die Forschung.“
Darum haben die Krefelder Entomologen ein Labor für Umweltgifte damit beauftragt, ihre Probenflaschen aus 21 Schutzgebieten in ganz Deutschland auf Rückstände zu untersuchen. „Es ist auch tatsächlich so, dass wir im Schnitt 16 verschiedene Stoffe pro Schutzgebiet gefunden haben. Das heißt, dass die Stoffe nicht nur von den benachbarten Flächen kommen, sondern die stammen auch von Flächen, die viel weiter weg sind. Und das hatte uns doch überrascht.“ Pestizide sind für viele Schutzgebiete ein Problem, weil sie mitten in landwirtschaftlich genutzten Flächen liegen – häufig Kante an Kante.
Es stimmt, dass die miserable Lage der Insekten Expertinnen und Experten schon lange bekannt war. Bereits in den späten 18-hunderter Jahren beklagten sich Regensburger Entomologen in einem Fachaufsatz darüber, dass Zahl und Artenvielfalt der Tagfalter in der Umgebung schrumpften. Weil der Mensch die Lebensräume der Tiere zerstöre, schrieben sie.
Moorwiesenvögelchen (Coenonympha oedippus)
Wenn es kein Wollgras mehr gibt, haben die Raupen des Moorwiesenvögelchens nichts zu fressen (imago/FLPA/Basil Yates-Smit)

Mit dem Moor verschwindet das Moorwiesenvögelchen

Echte Wildnis gibt es kaum noch in Europa. Über Jahrtausende hat der Mensch die Landschaft geprägt. Jedes noch so kleine Fleckchen Boden nutzte er – oft als Weide. Das Vieh ließ Bäumen auf diesen Flächen keine Chance. Und schaffte Platz für eine bunte Vielfalt an Blütenkräutern. Knapp 80 Prozent der Insektenarten in Deutschland sind auf solche offenen Flächen angewiesen. Thomas Schmitt, der Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg bei Berlin:
„Dieses strukturierte Offenland, das auch noch Waldbereiche hatte, wurde dann angereichert durch Einwanderung von vielen Arten aus vielen Himmelsrichtungen von Südwesten, Süden bis hin nach Osten, sodass wir hier vermutlich den größten Artenreichtum Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht hatten.“
Schmitts Arbeitsgruppe hat gerade den Schmetterlingsschwund in der Region Salzburg über die letzten einhundertfünfzig Jahre nachgezeichnet. Seine Studie sieht zwei deutliche Wendepunkte. Der erste: Die Menschen legten im großen Stil die Moore trocken. Ende des 19. Jahrhunderts war das und hatte Folgen zum Beispiel für das Moorwiesenvögelchen.
„Das ist ein kleiner Augenfalter, die Raupen fressen an Wollgras. Wollgras ist eine typische Moorpflanze, sieht wunderschön aus, wenn das blüht, ist also ein weißer Teppich. Und wenn diese Moore verschwinden, verschwindet das Wollgras, damit ist die Raupenfraßpflanze des Moorwiesenvögelchens verschwunden - und das Moorwiesenvögelchen verschwindet auch.“

Mücken und Fliegen - lästig für uns, wichtig fürs Ökosystem

Der zweite große Schnitt folgte nach dem Zweiten Weltkrieg. „Da ist nämlich in ganz großem Stil die Industrialisierung der Landwirtschaft passiert, mit sehr großen Düngergaben, mit sehr großen Gaben an Pestiziden. Die Charakterarten von blütenreichen Wiesen, die wir heute fast nicht mehr haben - seit 1960, also als die Intensivierung auf diese Wiesenflächen kam, geht der Anteil dieser Arten kontinuierlich zurück bis heute.“
Das Insektensterben ist nicht auf Deutschland beschränkt. Zwar gab es keine weitere vergleichbare Studie, aber zahlreiche Einzelarbeiten von verschiedenen Orten der Welt haben die Krefelder Alarmrufe untermauert – nicht zuletzt die Roten Listen. Und letztlich ist auch der millionenfache Vogelschwund in Nordamerika und Europa Beleg dafür, dass es den Insekten schlecht geht. Denn zahlreiche Vogelarten sind wenigstens für ihre Brut auf Insekten als Nahrung angewiesen.
Martin Wiemers leitet am Deutschen Entomologischen Institut die Sektion Ökologie. „Es geht nicht darum, einzelne schöne, nette Arten zu erhalten, sondern es geht um das ganze Ökosystem, und das ist, glaube ich, auch ein bisschen durch die Krefelder Studie ins Bewusstsein gerückt. Es gab dann auch von IPBES zum Beispiel auch eine Studie dazu, die das auch noch mal unterstrichen hat, dass es wirklich uns dann hinterher auch selber trifft, wenn die Insekten verschwinden. Viele haben früher gedacht, na ja, Insekten, ja gut, gibt ein paar schöne Schmetterlinge, aber die ganzen Mücken und Fliegen, wenn die alle weg sind, ist doch eigentlich besser. Ich fand es schön zu sehen, dass dann auch in der Öffentlichkeit es so ein bisschen Klick gemacht hat. Oh ja, wenn die Insekten verschwinden, dann haben wir ein Problem.“

Exkursion für Insekten-Liebhaber

Niederzissen südlich der Ahr. Auf einem Parkplatz begrüßt André Haubrich fünf Mädchen und Jungen und ihre Eltern zur Exkursion. „Der Bausenberg ist ein ehemaliger Vulkan, und darunter ist Süden, das heißt, wir haben hier einen sehr, sehr langen Südhang. Dadurch ist es hier immer deutlich wärmer als im Umkreis, deswegen haben wir hier besonders viele wärmeliebende Arten. Und das große Highlight, was wir letztes Jahr hier entdeckt haben, waren jede Menge Gottesanbeterinnen. Damals hatten wir aber auch deutlich besseres Wetter. Aber ich weiß, wir haben viele gute Sucherinnen und Sucher dabei. Na dann, mal schauen, was wir alles finden.“
„Aber sag mal, André, die waren doch ursprünglich nicht hier in Deutschland heimisch oder höchstens in Süddeutschland?“ „Genau, das ist auch eine vom Klimawandel profitierende Art, Also bis zum Niederrhein rauf sind die jetzt hier schon gemeldet.“
Es geht den Berg hinauf. Die Kinder und Jugendlichen fangen Heuschrecken in ihren Becherlupen, beobachten Turmfalken und drehen große Steine um. „Was denkst du denn, wenn du jetzt über das Insektensterben hörst?“ „Insekten sind ja quasi das Grundnahrungsmittel für alle Tiere. Ich bin natürlich traurig, weil ich mag Insekten halt schon gerne.“ „Oh, hier ist sogar ein Ameisennest!“ „Hier war ein Springschwanz, ein großer.“ „Das ist irgendeine Leptothorax-Art.“
Schwarzer Moderkäfer (Ocypus olens) in der typischen skorpionähnlichen Abwehrstellung
Wenn sich der Schwarze Moderkäfer angegriffen fühlt, reckt er sein Hinterteil wie ein Skorpion hoch und sondert ein Sekret ab (imago/Nature Picture Library/Andy Sands)

Taxonomie- und Entomologen-Nachwuchs dringend gesucht

Fünf Wissenschaftler begleiten die Exkursion – der eine ist Experte für Vögel, der andere kennt sich gut mit Heuschrecken aus oder mit Spinnen. Die Gruppe gehört zum Projekt „Förderung von taxonomischem Wissen als Grundlage für den Naturschutz“, kurz FörTax des Museums Koenig in Bonn, sagt Karsten Stehr, einer der Betreuer: „Wir haben ja verschiedene Taxonomiegruppen. Einige sind sehr fit, was die Taxonomie angeht, kennen viele Tierarten auch schon sehr, sehr detailreich, und das sind die Artenkenner der Zukunft, die wir brauchen, und wir versuchen halt, mehr Jugendliche dafür zu begeistern.“
Sie kommen an einen felsigen Hang, gestoppelt mit trockenen Stängeln. „Wir haben doch das Spinnenbuch!“ Emil, Lucia, Vida, Lovro und Ansgar haben auch hier Pech. Es geht einen schmalen Weg unter Laubbäumen entlang.
„Ein riesiger Laufkäfer!“ „Kurzflügler. Wow, der ist ja riesig! So einen großen Kurzflügler habe ich noch nie gesehen.“ „Versucht er, sich zu verteidigen?“ „Ich versuche, ihn hier einzufangen.“ „Wir können es probieren… Weißt Du, was für einer das ist?“ „Schwarzkäfer? Moderkäfer?“ „Ich glaube Ocypus olens, oder? Das ist doch der, der den Hinterteil so skorpionähnlich hält.“ „Wow. So einen großen habe ich wirklich noch nie gesehen.“ „Der tut so, als wäre er ganz gefährlich.“
„Verbirgt sich tagsüber unter Steinen, jagt nachts Nacktschnecken und andere Wirbellose, er hebt bei Störungen das Hinterleib-Ende und öffnet die Kiefer weit zur Drohgebärde. In Wäldern, Gärten, Hecken, Dünen. Nicht selten.“ „Da kommt auch hinten was raus oder irgendein Sekret.“ „Das riecht wie so ein Frische-, wie so ein - es riecht so, wie so ein Schuhspray! Ja riech mal!“ „Du hast recht, so ein bisschen wie Lederspray.“ „Ja genau, ich hasse diesen Geruch.“

Bundesmittel für Biodiversitätsmonitoring

Ein Jahr nach der Krefelder Studie fanden die Erkenntnisse zum Insektensterben Eingang in den Koalitionsvertrag des Kabinetts Merkel IV. Andreas Krüß vom Bundesamt für Naturschutz in Leipzig: „Da ist in der Tat viel passiert in Folge dieser Diskussionen, die sich aus der Krefelder Studie und der ganzen politischen Diskussion ja auch dann ergeben hat.“
Drei Jahre später, im Januar 2021 nahm das „Nationale Monitoringzentrum zur Biodiversität“ in Leipzig seine Arbeit auf. Andreas Krüß ist für den Aufbau zuständig. „Das Besondere ist, dass tatsächlich dafür auch wirklich umfängliche Sachmittel, Personalmittel bereitgestellt worden sind, und zwar auch langfristig, sodass wir viele unterstützende Aktivitäten im Bereich Biodiversitätsmonitoring, Förderung von Akteuren, Vernetzung und so weiter machen können.“
Andreas Krüß und seine Kolleginnen sitzen mit dem Monitoringzentrum wie eine Spinne im Netz. Sie selbst suchen gar nicht nach Insekten. „Wir haben ausreichend Finanzmittel im Monitoringzentrum und wir können die Länder dadurch unterstützen, dass wir eben eine Kofinanzierung anbieten können. Dass der Bund tatsächlich bei Aufgaben, die eigentlich Länderaufgaben sind, bis zu 50% der Kosten übernehmen kann.“
Gerade laufen die Verhandlungen über die Umsetzung. Fest steht, dass das Monitoring mit den Tagfaltern und den Heuschrecken beginnen wird. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg erheben bereits Daten. Die anderen Bundesländer könnten im nächsten Jahr folgen. Heuschrecken und Tagfalter decken natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der Insekten ab. Die Gruppen haben aber zwei entscheidende Vorteile:
„Heuschrecken lassen sich sehr gut klassisch im Feld und relativ einfach kartieren, und Tagfalter, da gibt es natürlich die Expertise über die Tagfalter-Experten, die ja auch das Tagfaltermonitoring Deutschlands ja schon betreiben bundesweit und an deren Methoden wir uns da auch sehr stark anlehnen; natürlich mit dem neuen Ansatz auf den Stichprobenflächen dann.“
Das Foto zeigt eine Gefleckte Schnarrschrecke Bryodemella tuberculata.
Um die verschiedenen Heuschrecken-Arten auseinanderhalten zu können, braucht es entomologisches Fachwissen (imago / imagebroker)

Berufsbild Heuschrecken zählen und bestimmen

Während beim Tagfaltermonitoring allerdings wie im Krefelder Verein in erster Linie Ehrenamtliche die Daten sammeln, werden sich die bundesweiten Monitorings auf hauptberufliche Entomologen stützen. „Wir können vom Ehrenamt auch nicht immer verlangen, dass sie für alles in die Bresche springen, sondern dafür gibt es auch Profis und die muss man dann auch dafür bezahlen.“ „Gibt es denn überhaupt genügend Profis dafür?“ „In den Bereichen, also Heuschrecken und Tagfalter, da sehen wir da jetzt keine Probleme, aber bei anderen Gruppen wird es natürlich auch da schwierig, ganz klar die Experten brauchen wir.“
Doch viele Insektenexpertinnen und -experten sind schon sehr alt. Und Nachwuchs ist kaum in Sicht. Um dieses Problem zu lösen, müssten die Universitäten wieder mehr auf Artenkenntnis setzen. Ein langwieriger Prozess.
Die Monitorings sollen sich nicht auf die Artenvielfalt beschränken, sagt Andreas Krüß. „Pestizide, Landnutzung, Klimawandel - alle diese Faktoren, die eine Rolle spielen können, in welcher Weise auch immer, die müssen ja mit den Biodiversitätsdaten zusammen analysiert werden können. Sonst kommt man den Detailursachen ja nicht wirklich auf die Spur oder kann Ursache-Wirkungs-Analysen nicht richtig durchführen.“
Pestizide zum Beispiel – wie es ja auch die Krefelder Entomologen seit langem fordern. „Da sind wir mit den entsprechenden Verantwortlichen auch im Dialog, dass man an diese Informationen zukünftig rankommt, und da sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg, weil der Druck da jetzt auch sehr hoch ist, dass man da einfach vorankommen muss.“

"Die Daten reichen aus, die Evidenz ist überwältigend"

Christoph Scherber leitet am Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels in Bonn das neue Zentrum für Biodiversitätsmonitoring. „Ich denke auch, dass die Studie wirklich wie so ein Kondensationskern gewirkt hat für viele Förderprogramme, aus denen wir konkret auch profitieren. Viele Dinge haben 30 Jahre lang geruht.“
Neue Methoden ermöglichen neue Erkenntnisse – wie das Metabarcoding, mit dem die Forscherinnen Tier- und Pflanzenarten nicht mehr einzeln bestimmen müssen, sondern an bestimmten Genen erkennen. Auch in Boden- oder Luftproben, in denen Spuren von DNA, nicht aber die Art selbst drinsteckt.
„Es ist letzten Endes die Natur, die uns mit ihrer Komplexität immer wieder aufs Neue überrascht. Die ist einfach wahnsinnig komplex und wir kriegen Biodiversität nicht runtergebrochen auf irgendwas ganz Einfaches wie CO2. Wenn wir das als komplexes Netzwerk betrachten, dann müssen wir die Komponenten dieses Netzwerks herausfinden, die wichtig sind. Die Knoten in dem Netzwerk, die auf keinen Fall wegfallen dürfen. Und das können wir nur, wenn wir das gesamte Netzwerk im Blick haben.“
Neue Methoden, neue Monitorings, neue Erkenntnisse – sie sind wichtig, aber sie brauchen ihre Zeit. Doch darauf können wir nicht warten, um etwas gegen das Insektensterben zu unternehmen. „Wir wissen eigentlich schon, was stattgefunden hat, wir haben es vielleicht nicht gut genug dokumentiert, das ist auch eine Strategie, die natürlich dann gerne verfolgt wird seitens bestimmter Stakeholder-Gruppen, dass natürlich auch Unsicherheit geschürt wird. Ich würde sagen, die Daten reichen aus. Die Evidenz, die da ist, ist so überwältigend, dass man jetzt noch viel mehr aktiv werden müsste.“

Vorsichtiger Optimismus bei den einen...

Es ist einiges geschehen. Das Volksbegehren und das neue Naturschutzgesetz in Bayern ist ein Beispiel; mit seinen Nachahmern in anderen Bundesländern. Das Insektenschutzgesetz, das die damaligen Umwelt- und Landwirtschaftsministerinnen Svenja Schulze und Julia Klöckner 2021 auf den Weg gebracht haben, führte zu Maßnahmen gegen die Lichtverschmutzung. Gleichzeitig änderte die Bundesregierung die Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung und leitete das Verbot von Glyphosat bis 2023 und Einschränkungen des Pestizid-Einsatzes in Naturschutzgebieten ein.
Die Landwirtschaft ist deshalb so wichtig, weil sie die Hälfte der Fläche Deutschlands nutzt. Norbert Schäffer: „Wir wollen ja den Landwirten nichts wegnehmen. Ganz im Gegenteil, die landwirtschaftlichen Subventionen sind gut investiertes Geld, aber dass die Gesellschaft sagt, wir wollen neben Lebensmitteln natürlich auch eine attraktive Landschaft und funktionsfähige Ökosysteme, Tiere und Pflanzen da draußen, ich denke, das ist nachvollziehbar.“
Wegen dieser Erfolge ist Vogelschützer Schäffer vorsichtig optimistisch: „Die Frage, ob es mehr Insekten gibt, die würde ich tatsächlich ganz, ganz vorsichtig mit ‚Ja‘ beantworten. Wir wissen, dass Insekten relativ schnell reagieren. Wir wissen, dass mehr Geld ausgegeben wird und dass größere Flächen jetzt unter Vertragsnaturschutz liegen. Wir wissen, dass viele Kommunen Straßenränder, kommunale Flächen anders bewirtschaften. Wir wissen in Gärten, dass da tatsächlich vieles gemacht wird.“
Eine Holzbiene mit blauschwarz-schimmernden Flügeln sitzt auf einer Blüte
Die blauschwarze Holzbiene ist wärmeliebend - und profitiert offenbar bereits vom Klimawandel (picture alliance/dpa)

...und Skepsis bei den anderen

Vor allem den wärmeliebenden Arten geht es besser. Die Blauschwarze Holzbiene Xylocopa violacea, zum Beispiel, der Segelfalter oder Gottesanbeterinnen, die in Deutschland lange gar nicht oder nur in besonders günstigen Lagen vorkamen, breiten sich aus. Doch ihnen stehen zig Arten gegenüber, die wegen des Klimawandels ihre Lebensräume verlieren. Kürzlich warnten Forscher, in den nächsten Jahrzehnten könnten 40 Prozent der Insektenarten aussterben.
Thomas Hörren vom Entomologischen Verein Krefeld jedenfalls erkennt in seinen Fallen noch keinen Unterschied zu den Insektenmengen von vor fünf Jahren. „Dieses niedrige Niveau an Biomasse, was wir damals dann eigentlich ja auch aufgedeckt hatten, das ist heute auch mit der Ausbreitung der ganzen Standorte eigentlich immer noch der Fall.“
Auch Bernhard Misof ist skeptisch. „Wirklich rezente Studien, die zeigen, dass die Artenzahl bei den Insekten zugenommen hat, kenne ich nicht.“ Der Direktor des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels fordert zusammen mit Kolleginnen und Kollegen, bis zum Jahr 2030 30 Prozent der weltweiten Landfläche unter Schutz zu stellen. Und weitere 20 Prozent zu renaturieren.

Schwung für Insektenschutz droht zu erlahmen

Denn die ersten Erfolge sind zwar wichtig. Aber sie reichen noch nicht. Das hat sich zum Beispiel bei den Verhandlungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik der EU gezeigt, die viele Naturschützer als vertane Chance betrachten. Sie fordern schon seit Langem, Landwirte verstärkt dafür zu entlohnen, dass sie die Landschaft pflegen und etwas für Artenschutz leisten. Auch Christoph Scherber sieht es so: „Es hat sich hier nichts gebessert, und ich denke wir haben es mit kranken Systemen zu tun, es tut mir leid, das so sagen zu müssen, ich sehe momentan nicht, dass es bergauf geht. Wir müssen viel mehr Anstrengungen unternehmen.“
Der Schwung, den die Krefelder Studie ausgelöst hat, droht auch angesichts neuer Krisen – Corona, Ukraine – wieder zu erlahmen. Noch immer fressen sich Straßen und Baugebiete in die Natur. Noch immer rieselt viel zu viel Dünger aus Landwirtschaft, Industrie und Autoverkehr auf die Landschaft. Noch immer kommen zu viele Insektengifte auf die Äcker. Noch immer wissen viel zu viele Menschen viel zu wenig über die Natur und ihren Wert.
„Die Zerstörung von unseren natürlichen Lebensräumen, das ist natürlich ein ganz langer Prozess.“ Die Schäden, die wir heute sehen, haben wir schon vor Jahrzehnten verursacht. Zumal – so sagt es Thomas Schmitt vom Deutschen Entomologischen Institut: „Es ist ja so, dass auch die Politik ein langsam reagierendes System ist.“