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"Kreuzige ihn!"

Eine Woche vor Pfingsten ist es wieder soweit: Die Oberammergauer Festspiele haben begonnen. 1634 erstmals von einigen wenigen aufgeführt aus Dank, dass sie von der Pest veschont wurden, erwartet die Zuschauer 2010 ein monumentales Breitwandspektakel mit rund 2000 Laiendarstellern.

Von Sven Ricklefs | 16.05.2010
    Noch nie, heißt es einmal über ihn, noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser! Und tatsächlich zeigt dieser Jesus der Oberammergauer Passionsspiele 2010 seine Passion in einem doppelten Sinn, natürlich als Leidensweg seiner letzten fünf Tage (von der Festnahme über die Kreuzigung bis zur Wiederauferstehung), aber auch als Leidenschaft, als Passion für sein Anliegen von Gerechtigkeit und Nächstenliebe und als heiligen Zorn vor allem auch gegen überkommene Hierarchien und ihre Anmaßung.

    Als Revoluzzer hat Christian Stückl Jesus schon in seinen früheren Auseinandersetzungen mit der Passion verstanden wissen wollen, doch diesmal betont er über die gottgefällige Anarchie dieser Figur hinaus, die Botschaft, die der Mensch und Gottessohn Jesus in die Welt getragen hat. Dafür hat Stückl den Text der Oberammergauer Passionsspiele erneut bearbeitet, und: Stückl hat auch Text hinzugefügt, so etwa Auszüge aus der Bergpredigt. Dies wohl auch, weil in unserer längst zu Ende säkularisierten Welt profunde Bibelkenntnisse kaum mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Und so beginnt dieser Passion 2010 nicht mehr mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel, sondern mit Szenen, die Jesus auch als Wanderprediger und Wunderheiler zeigen:

    Jesus: Selig die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.

    Auch wer seit Langem schon das Buch der Bücher der christlichen Tradition weggelegt hat, dem ist diese Botschaft geläufig. Der Verkünder also ist es, den Christian Stückl in seiner dritten Passionsinterpretation in den Mittelpunkt stellt. Dass dabei die Leiden Jesu nicht zu kurz kommen, dafür sorgte gestern in Oberammergau vor allem auch Frederik Mayet, einer der beiden Jesusdarsteller dieses Jahres, studierter Betriebswirt und im richtigen Leben der Pressesprecher des Münchner Volkstheaters, der wie alle anderen über 2000 Darsteller notwendigerweise Oberammergauer sein muss, um am Spiel teilnehmen zu dürfen. Wie Mayet immer wieder die Verlorenheit und zutiefst menschliche Not seiner sonst so wortgewaltigen Figur im Angesicht des Todes herausarbeitet, ohne je dem naheliegenden Opferkitsch zu verfallen, gehört zu den großen Momenten dieser Passion und führt vor Augen, wie Christian Stückl es versteht, aus seinen Laien Ungeahntes hervorzuholen. Ähnliches zeigt sich bei Carsten Lück, der den Judas zudem jenseits aller Klischees zu einer zutiefst gebrochenen Figur machen darf, der als ein Zweifler daherkommt, der zum Verrat verführt, sich seiner Schuld bewusst wird und an ihr zugrunde geht.

    Judas: Weh mir, für mich ist keine Hoffnung, keine Rettung mehr, er ist tot und ich, ich bin sein Mörder.

    Natürlich bleibt auch die Oberammergauer Passion 2010 trotz dieser Momente auch das, was sie schon immer war, ein monumentales Breitwandspektakel, in dem Massen oftmals einfach hin und her, arrangiert werden, samt Dromedar, Ziegen oder Esel, ein Spektakel das im Zuge eines Gelübdes nicht mehr will, als einen Mythos im gewohnten Sandalenkostüm nachzuerzählen. Das wirkt manchmal auf naive manchmal aber auch langatmige Weise anachronistisch, was man bei den gestern im überdachten Oberammergauer Freilufttheater herrschenden gemessenen drei Grad plus erst einmal durchsitzen muss.

    Dennoch ist Oberammergau in seinem in diesem Jahr schon im Voraus zwar noch nicht völlig aber immerhin schon anständig ausgebuchten Erfolg ein Weltphänomen.

    Und so stellt Christian Stückl szenisch diese Passion sicherlich nicht auf den Kopf, auch wenn das einige gern behaupten. Dass er aber trotzdem auf seine ihm ganz eigene Weise großen Einfluss nimmt auf das Weltphänomen Oberammergau und seine Wirkung, das zeigt nicht nur seine Ausdifferenzierung von Figuren, sondern das zeigt vor allem seine Beharrlichkeit, mit der er schon vor zehn Jahren die unerträglich antisemitischen Tendenzen aus der Vorlage entfernt hat, und mit der er jetzt Jesus als Juden betont und die Passion als innerjüdischen Konflikt. Und wenn das Volk mit "Sch´ma Israel" erstmals ein eigens hinzukomponiertes hebräisches Gebet anstimmt, dann ist das mehr als nur ein kleines Zeichen an die Welt.