Samstag, 20. April 2024

Archiv


"Krieg" als Erregungszustand

Der Moskauer Arkadi Babtschenko, Jahrgang 1977, wird als Achtzehnjähriger zum Militärdienst einberufen. Mit falschen Versprechungen schickt man ihn und seinesgleichen, blutjunge, unpolitische und schlecht ausgebildete Soldaten, 1996 in den ersten Tschetschenien-Krieg. In der russischen Armee herrschen Willkür, Sadismus, Folter, Erpressung und Korruption.

Von Sabine Peters | 06.03.2009
    Brutale Vorgesetzte schikanieren die sogenannten "Frischlinge" oder "Welpen". Davon hat Babtschenko in seinem ersten Buch mit dem Titel "Die Farbe des Krieges" berichtet. Der Autor verzichtet fast ganz auf Erklärungen oder Analysen - sein Gestus ist schlicht der des Zeigens.

    Lieber Krieg als Kaserne, heißt es einmal, wobei man beim Lesen den Eindruck hat, es herrsche hier wie da dieselbe Barbarei. Um so befremdlicher, dass sich alle Soldaten freiwillig zum zweiten Tschetschenienkrieg melden. Der Krieg, so Babtschenko, der Krieg sei ihre erste Liebe. Das ist durchaus konkret zu verstehen, denn die jungen Männer haben zu Hause kaum sexuelle Erfahrungen gemacht. "Die Farbe des Krieges" wirkte vor allem wegen seiner Brüche verstörend; es las sich wie ein fassungsloses Selbstgemurmel. Die Kritik lobte es als Antikriegsbuch und verglich es auch gleich mit Remarque.

    Soeben ist die Übersetzung des zweiten Buchs erschienen, unter dem Titel "Ein guter Ort zum Sterben." Im Januar 2000 belagert die Truppe einen kleinen Ort in der Nähe von Grosny; tschetschenische Rebellen sollen geschlagen werden. Babtschenko, der in seinem ersten Buch die Bilder des Krieges unverbunden neben- und gegeneinander gestellt hat, schildert jetzt eine einzige Situation, zeitlich und örtlich genau festgelegt. Kälte, Hunger, Übermüdung, Angst oder Langeweile herrschen, und die Stimmung in der Truppe ist zum Zerreißen gespannt zwischen Apathie und Überreizung.

    Auf die Frage, warum der Erzähler Artjom und seine Kameraden eigentlich in Tschetschenien sind, und auch noch freiwillig, heißt es: Zuhause sei alles unwirklich, leer und uninteressant, nur hier sei man "frei", wobei Freiheit bedeute: Man sei nur für sich selbst, nicht für andere verantwortlich. An anderer Stelle erklärt Babtschenko dieses irritierende Lebensgefühl: Auf dem tschetschenischen Feld sei der Mensch in Artjom gestorben. An seiner Stelle sei ein Soldat geboren worden, kalt, leer und hasserfüllt.

    "Ein guter Ort zum Sterben", dieses zweite Buch Babtschenkos reicht bei weitem nicht an das erste heran, es wirkt wie nachgeschoben. Woran liegt der Qualitätsunterschied? Der Inhalt ist zusammengeschrumpft: Die Missstände in der eigenen Armee werden kaum mehr thematisiert. Dafür spielt die Kameradschaft, wie wortkarg die Soldaten untereinander auch sein mögen, eine größere Rolle. Aber vor allem die sprachliche Umsetzung überzeugt einen nicht: Zwar werden Schuldgefühle und Todesangst, Verletzungen und Traumata benannt - und doch wird "Krieg" hier beinahe ungebrochen als Erregungszustand beschrieben.

    Er schießt blindlings. Ein paar Sekunden, und das Magazin ist leer. Er dreht sich um, streckt die Hand aus: "Eine MP, gebt mir eine MP! Nehmt die vom Fahrer! Ich habe nur zehn Patronen im Magazin!" Endlich gelingt es, den Sicherungshebel zu ziehen. Der erste Feuerstoß ist wie ein Orgasmus - die Schüsse werden begleitet von einem Stöhnen der Erleichterung. "Dorthin, dort, dort sitzt der Dreckskerl! Halt tiefer!" Der Schützenpanzer wippt und ruckt. "Noch eine Salve! Kopf einziehen!" Die Körper liegen übereinander, flach, an die Panzer gepresst. Der Fahrer reißt das Lenkrad nach links und gibt Gas. Mit einem einzigen Sprung ist der Schützenpanzer in den Büschen. Und aus dem Wäldchen fliegen die Kugeln und fliegen, knapp über sie hinweg, klatschen dumpf gegen die Bäume.

    Hier spricht tatsächlich, und das ist ja wohl auch folgerichtig, kein ahnungsloser Frischling, kein Welpe mehr. Klaus Theweleit hat in seinem Buch "Männerphantasien" die Struktur des sogenannten "soldatischen Mannes" untersucht - Elemente eben dieser Struktur finden sich auch in Babtschenkos Text. Die Faszination ist unüberhörbar: Launige Sprüche unter Kameraden, die sich, vollgepumpt mit Adrenalin, nach einer "Feuertaufe" als "ganze Männer" fühlen. Auch wenn der Erzähler Artjom sich davon abgrenzt, die Haltung des Buchs selbst irritiert durch fehlende Distanz. Der Text überschlägt sich häufig, ereifert sich bis in die Rede an ein Du, das den Leser in die Hitze des Gefechts hineinziehen will.

    Die Infanterie schoss sich heiß. Jemand zielte schon aus der Hüfte, jemand ballerte auf die benachbarten Häuser. Sie wurden erfasst von jenem berauschenden Gefühl, das nur bei klarem Vorteil auftritt, wenn der Feind dem eigenen Feuer nichts mehr entgegenzusetzen hat. Die Angst ist verflogen. Du spürst deine Kraft und Überlegenheit. Das macht trunken. Das erregt und erzeugt eine freudig kalte Wut, du willst dich bis zum Letzten für die ausgestandene Furcht rächen, und du speist Feuer nach rechts und links. Sitnikow hatte die Mucha ungeschickt angelegt, der Rückstoß hatte Artjom im Nacken getroffen, er hörte nichts mehr... jemand rüttelte ihn an der Schulter. "Verwundet?" "Nee, bisschen taub. Geht gleich vorbei," brüllte Artjom zur Antwort.
    Vor dem inneren Auge sieht man förmlich, wie sich erfahrene Experten zunicken: So ist es. Die Manier der alten und neuen Sachlichkeit, Grauenhaftes und Skandalöses kommentarlos auszustellen und auf die Aussagekraft der Fakten zu vertrauen, ist immer wieder kritisiert worden. Daraus leitete sich die Forderung ab: Texte über den Krieg müssten immer auch dessen Darstellung und Darstellbarkeit thematisieren.

    Babtschenkos zweites Buch dagegen gibt sich beinahe affirmativ dem Geschehen hin. Natürlich ist der Text keine Kriegspropaganda; dafür fehlt ein klar umrissenes Kriegsziel. Und selbstverständlich muss der Autor einem nicht von Seite zu Seite mitteilen, was jeder Politiker und General bestätigen würde: Krieg ist eine Menschheitsgeißel.

    Während Babtschenko aber im ersten Buch zumindest fragte, wer an diesem Krieg verdiene, taucht er jetzt als eine unhinterfragte reine Schicksalsmacht auf. Die Soldaten sind ihm wie einer Naturgewalt ausgeliefert, sie denken nicht mehr ans Desertieren, sie leiden und sind doch von ihm geformt. Was nicht ausschließt, auch an zwei Tote auf der gegnerischen Seite zu denken oder an einen Kameraden, den der Erzähler verlieren wird.

    Das erste Buch war ein wenig geordneter, lakonischer, ein elender und damit stimmiger Versuch, in Worte zu fassen, was den Körpern widerfuhr. Das neue Buch ist, sarkastisch gesagt, eher geeignet, eine Stammtischweisheit zu bestätigen: Wer in den Krieg zieht, hat was zu erzählen.
    Arkadi Babtschenko: "Ein guter Ort zum Sterben", Roman. Deutsch von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 128 Seiten, 14,90