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Krieg beschreiben

Über den Vietnamkrieg scheint alles gesagt zu sein: Die militärischen und politischen Aspekte sind erforscht, die Traumata der Veteranen vielfach aufgearbeitet worden. Kaum vorstellbar, dass es noch an einer Gesamtdarstellung gefehlt hat. Jetzt ist sie auf dem Markt, und die Kritik war nahezu einhellig voll des Lobes. Die Rede ist von Bernd Greiners 600-Seiten-Werk "Krieg ohne Fronten. Hermann Theißen hat mit dem Autor gesprochen.

Redakteurin am Mikrophon: Sandra Pfister |
    Hermann Theißen: Herr Greiner, nachdem ich ihr Buch gelesen habe, habe ich mir auch noch mal den inzwischen in die Jahre gekommenen Film "Apokalypse Now" von 1979 angeguckt. Vieles, was Sie hier beschreiben und analysieren, sieht man auch in diesem Film von Coppola, also eine völlig entfesselte und entgrenzte Gewalt. Ein Krieg, der sich an kein Kriegsrecht hält, Soldaten, die keine Rücksicht nehmen auf Menschenwürde, die keine Rücksicht nehmen auf Zivilisten, die Spaß daran haben, zu töten, denen es egal ist, ob sie Kinder, Greise oder wen auch immer liquidieren, die getrieben werden von Rassismus, von Hass auf alle Vietnamesen und auch von der Angst vor einem Gegner, der aus dem Hinterhalt agiert, der nicht zu sehen ist und von daher unheimlich ist. Warum hat es so lange gedauert, bis in einem umfangreichen quellengesättigten Werk das dargestellt werden konnte, was der Film aber auch die belletristische Literatur eigentlich schon lange wusste.

    Bernd Greiner: Man hat sich in punkto Kriegen mit allem Möglichen befasst. Mit Repräsentation von Kriegen, mit ihrer Codierung mit Erinnerung, mit Traumata und so weiter und so fort. Ich will jetzt beileibe nicht behaupten, dass wären unwichtige Beiträge gewesen, ganz im Gegenteil, aber diese Beschäftigung, oder diese dominante Beschäftigung hat am Ende dazu geführt, dass man über Kriege geschrieben hat, ohne sie zu beschreiben. Dann kommt aus der amerikanischen Perspektive noch ein Punkt hinzu, meines Erachtens, man schreibt nicht gern aus der Perspektive des eigenen Landes über derartige Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen, die man in Vietnam begangen hat, zumal vor dem Hintergrund des 1945 in Nürnberg eingeschlagenen Kurses. Also der zu Recht nicht nur an die Deutschen sondern an alle Kriegsteilnehmer ergangenen und auch in juristische Kodizes umgesetzten Mahnung, sich doch bitte schön an die Prinzipien zu halten, die man damals gegenüber den Deutschen zu Recht geltend gemacht hat.

    Theißen: Aber ich meine jetzt nicht in amerikanischer Perspektive etwa auch in europäischer Perspektive wusste man da 1968 beispielsweise um die amerikanischen Kriegsrollen. Das war eines der Motive, warum überall in Europa, überall in der Welt Jugendliche und junge Leute auf die Straße gegangen sind. Anscheinend hat man das vergessen, denn Ihr Buch wird jetzt gefeiert, als ob Sie sozusagen etwas ganz Neues enthüllen würden.

    Greiner: Also in den groben Umrissen war man sich zu der damaligen Zeit wohl schon darüber im Klaren, was sich in Vietnam abgespielt hat. Es gab auch einige Titelstorys, zum Beispiel im Spiegel, über das Massaker von My Lay. Das war bekannt. Allerdings, und da würde ich dann doch in Anspruch nehmen, dass mein Buch über den damaligen Fund hinausgeht, hatte man keine Vorstellung davon, dass eben My Lay nicht die viel beschworene Ausnahme gewesen ist.

    Theißen: Vielleicht sollte man erst einmal sagen, My Lay, März 1968, in ganz kurzer Zeit, metzelt eine kleine Gruppe von Soldaten 400 Männer, Frauen und Kinder eines Dorfes nieder.

    Greiner: Genau, Mitte März 1968, die Nachricht ging ab November 1969 um die Welt, wurde allerdings sehr schnell als Beleg einer Ausnahme, einer über die Stränge schlagenden kleinen Einheit gewertet. Man hatte damals, konnte es nicht haben, keine Vorstellung davon, wie alltäglich Kriegsgräuel, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen gewesen sind.

    Theißen: Das macht ja ihre Studie in einem erschreckenden Ausmaße deutlich, dass diese Massaker schon quasi zum Alltag der Kriegsführung gehörten. Massaker haben ja bestimmte Voraussetzungen. Ich brauche Menschen, die bereit sind, grenzenlose Gewalt anzuwenden, das ist wiederum der Fall, wenn das Feindbild so codiert ist, dass dem anderen sein Menschsein abgesprochen wird. Ich brauche Gruppen, in denen diese Grausamkeit, diese Entgrenzung akzeptiert wird, und ich brauche die Annahme, dass ich straffrei rausgehen kann. Hat sich dieses Klima oder diese Bedingungen, haben die sich aus diesem besonderen asymmetrischen Krieg ergeben, oder war das ein Klima, das intentional geschaffen worden ist?

    Greiner: Sie haben einige dieser Bedingungen in Ihrer Frage sehr prägnant, präzise beschrieben. Es kommt noch das hinzu, was Sie mit der Frage nach dem asymmetrischen Krieg ansprechen, nämlich die besondere Konstellation, die besondere Dynamik, die einen solchen Krieg auszeichnet. Es ist ja nicht so, als hätte man Weltanschauungs-Krieger in den Dschungel geschickt, die von Anfang an nichts anderes wollten, als eine bestimmte Ethnie, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe voraussetzungslos auszurotten. So war es ja beileibe nicht. Sondern man wird dieser Gewaltdynamik meines Erachtens nur auf die Spur kommen, wenn man nach den besonderen Bedingungen, Konstellationen eines asymmetrischen Krieges fragt. Und die sind in erster Linie darin zu sehen, dass hier ein Krieg ohne Fronten geführt wird. Dass amerikanische Soldaten in den seltensten Fällen ein Feind zu Gesicht bekommen, dass sie vor allen Dingen keine erkennbaren Gewinne für sich selbst aus dieser Kriegsführung ziehen können. Sie erobern kein Terrain, sie machen keine Gefangenen, sie zerstören keine kriegswichtigen Industrien.

    Theißen: Kriterien für den Erfolg, das schreiben Sie ja auch, sind die Toten.

    Greiner: Sind die Toten, zu denen man dann auch Zivilisten rechnet. Aber sie haben nicht diese Erfolgskriterien, die andere Armeen in konventionellen Kriegen sich zuschreiben und aus denen sie die Gewissheit ziehen, etwas bewirkt zu haben, ganz wichtig für das eigene Selbstbild des Soldaten. Andererseits haben sie extrem hohe Verluste, durch Sprengfallen, durch Minen, durch Snipers, also Heckenschützen. Tod aus dem Nichts, nicht aus Kampfhandlung resultierend, sondern aus dieser Situation eines Gegners, der sich nicht an die Regeln der eigenen Kriegsführung hält.

    Theißen: Das ja in der Tat dazu führt, dass man auch unter Umständen in Kindern und Frauen Gegner sehen muss, eine Gefahr sehen muss.

    Greiner: Man hat es mit Einheiten zu tun, die den Selbstrespekt des professionellen Soldaten verloren haben, die sich selbst als Disposable Soldier bezeichnen, als Wegwerfsoldat, wenn Sie es so wollen, und deren Selbstbild auf einen Satz zusammenschnurrt: "Do something physically", hinterlass irgendeine Spur, und dann ist es egal, das mag aus Frustration, aus Rachebedürfnissen oder aus was auch immer resultieren, sie verüben dann Gewalt gegen alle, die sich ihnen zeigen, die sich ihnen in den Weg stellen. Sie haben Zivilisten durchgängig in Feind-Verdacht, assoziieren eine Kooperation dieser Zivilisten oder direkte Unterstützung mit dem Vietkong und strafen sie in dieser Weise ab.

    Theißen: Und daraus ergibt sich ja auch der Grundwiderspruch, der diesen Krieg prägt. Auf der einen Seite im Hintergrund des amerikanischen Engagements die so genannte Dominotheorie, die besagte, wir müssen Vietnam stabilisieren in unserem Sinne, sonst wird ganz Südostasien kommunistisch, und auf der anderen Seite entwickelt sich dann ein Vernichtungskrieg, der das völlige Gegenteil von der politischen Intention ist. War das Dilettantismus?

    Greiner: Meines Erachtens sollte man zur Erklärung dieser Gewaltprozesse nicht nur die untere Ebene in den Blick nehmen. Die Täter, selbstverständlich sind die dafür verantwortlich, wenn ein Dorf niedergebrannt und seine Bevölkerung hingemetzelt wird. Aber auch dieses Verhalten der unteren Ebene sollte man im Kontext bis hin zur politischen Führung, bis hin zu der zivilen Führung des Pentagon sehen. Sie haben die Dominotheorie angesprochen, diese zivile Führung trägt insofern jenseits ihrer weltpolitischen Koordinaten für diese Radikalisierung auf unterer Ebene Verantwortung, unmittelbare Verantwortung als wir immer wieder nachzeichnen können, im Vorfeld von Gewaltexzessen, dass aus Washington die Weisung kommt, führt eine entscheidende Wende des Krieges herbei. Und man gibt der Truppenführung in Vietnam selbst im Grunde genommen eine Art Carte blanche, um dieses politischen Ziels Willen eine Kriegswende in einem Krieg, der eigentlich nicht zu gewinnen war, doch noch unter Aufbietung aller Mittel herbei zu führen, stellt man es dieser Truppenführung anheim, je nach Gusto zu verfahren. Und die mittlere Truppenführung in Vietnam selber hat das oft, und das ist nachweisbar, im Vorfeld einzelner Massaker dahingehend übersetzt, dass man für ein bestimmtes Zeitfenster die Rules of Engagement, also die Einsatzrichtlinien, gelockert hat. Und es ins Dafürhalten einzelner Truppenführer gestellt hat, in welcher Weise sie diese allgemein gehaltene Direktive einsetzen und umsetzen. Und dann lag natürlich auf der mittleren Ebene die Versuchung nahe, wir reden hier über Karrieren und über karrierefördernde Erfolge einzelner Truppenführer auf Brigade-, Bataillons- oder Kompanieebene diese Vorgabe auch so aus zu gestalten, dass sie radikalisierend wirkte.

    Hermann Theißen sprach mit Bernd Greiner über dessen Buch: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburger Edition, 595 Seiten, 35,00 Euro. Bernd Greiner ist übrigens auch der Autor eines Aufsatzes, der in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift "Mittelweg 36" erschienen ist, die vom Hamburger Institut für Sozialforschung herausgegeben wird. Darin weist der Autor erschreckende Parallelen zwischen der amerikanischen Kriegsführung in Vietnam und im Irak nach.