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Krieg den Palästen?

Fast nur große Bühnen und etablierte Regisseure, dafür wenig Nachwuchstalente und keine Regisseurin hatte die Jury des Berliner Theatertreffen in diesem Jahr ausgewählt. Das Charakteristische des zweiwöchigen Festivals war diesmal ein unerwartet hohes Maß an politischer Deutung, gepaart mit höchster Schauspielkunst und perfekter Bühnen-Optik.

Von Karin Fischer |
    Es gibt wohl keine Kulturveranstaltung in Deutschland, die ihre bloße Existenz derart hymnisch im Programmheft besingt wie das Theatertreffen. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass man mit viel Aufwand und Geld von der Bundeskulturstiftung für ein paar Tage Aufführungen nach Berlin holt, die dank ZDF-Theaterkanal und 3sat zwar inzwischen mehr, aber letztlich doch noch viel zu wenige Theaterinteressierte sehen können. Um aus der Not eine Tugend zu machen, gibt es deshalb viele kleine tt-Satelliten: Talentetag, Internationales Forum, Stückemarkt, Festivalzeitung.

    In diesem Jahr gibt sich das Theatertreffen zudem noch internationaler, mit teilweise englischer Übertitelung und jungen ausländischen Gastreportern. Auf die Journalistin aus Lateinamerika wirkt die hierzulande als selbstverständlich erachtete oder sogar müde belächelte Theater-Vielfalt so bunt wie der Karneval von Rio. Alles wird aufgeboten, schreibt sie in der Festivalzeitung, um die Stücke so zu zeigen, als habe man sie noch nie gesehen. Der Kritiker Hartmut Krug nennt als Beispiel ein Stück, das er leider in der Theatertreffen-Jury nicht durchgebracht hat:

    "Die Dresdner Inszenierung von Volker Lösch, der 'Woyzeck': Ein Stück, das sogar Schulstoff ist, wird hier entkernt und mit neuem Text gefüllt, der aus der Befragung von Dresdner Bürgern entstanden ist, womit ein 'rechtes' Bewusstsein herausgearbeitet werden soll. So entsteht aus einem alten Stück eine ganz neue Geschichte."

    Dennoch: Das Charakteristische dieses tt-Jahrgangs war ein unerwartet hohes Maß an politischer Deutung, gepaart mit höchster Schauspielkunst und perfekter Bühnen-Optik. Die furiose "Hamlet"-Inszenierung von Jan Bosse aus Zürich schreddert mit Joachim Meyerhoff als hyperaktivem Protagonisten mal kurz 200 Jahre Rezeptionsgeschichte und glänzt nicht nur, weil sie das Publikum in einem großen Spiegelsaal zum Mitwisser macht. Dieser Hamlet, so energetisch aufgeladen er ist, ist überhaupt nicht oberflächlich, sondern landet sehr konsequent bei den letzten Dingen.

    Demgegenüber liefert Stefan Pucher mit Shakespeares "Sturm" aus München ein eher seichtes Pop-Puzzle. Bei Christoph Marthaler, Michael Thalheimer und Stephan Kimmig aber geht es auch gesellschaftspolitisch zur Sache.

    Knappe Ressourcen im Gesundheitssektor führen zu einer innovativen Art der Sterbehilfe zum Zweck der Gewinnung "organischen Transfermaterials", will heißen: Leute sollen sich umbringen, damit ihre Organe vertickt werden können. In der Zauberbergklinik der Zukunft herrscht "Platz Mangel", wird zwischen traumschönen Liedern knallhart Auslese betrieben, zum Beispiel über neue Vorsorgemodelle:

    "Der Standard-Tarif ermöglicht Ihnen die Behandlung von mindestens 55 % Ihrer Zähne und einen stationären Aufenthalt alle drei Jahre bei individueller Versorgung. Mit dem Flexitarif garantieren wir dann eine professionelle Zahnreinigung alle fünf Jahre…"

    Weniger lustig geht es in den Berliner "Ratten" zu, inszeniert von Michael Thalheimer in einem nur 1 Meter 50 hohen Bühnenspalt, in den sich die Schauspieler hinein ducken müssen. Sie erzählen auch vom Elend ungewollter Mutterschaft und liefern damit hoch aktuell den Kommentar zur Zeit:

    "Ick weeß och nicht, warum se mich so triezen. Mann weg, Wohnung weg, warum kommt denn immer alles Elend auf mich?"

    Noch härter trifft es Stephan Kimmigs Hamburger "Maria Stuart", die - auf eine Art elektrischen Stuhl gefesselt - als moderne Terroristin durchgehen kann in einem System, dessen Beamte die Todesstrafe aus Staatsräson befürworten. Der Regisseur bekräftigt im Publikumsgespräch seinen politischen Ansatz:

    "Die Toilettenanlage ist Guantanamo nachempfunden. Das ist ein überdeutliches Zeichen, wie sie festgezurrt auf diesem Stuhl sitzt, keinerlei Anklagen vorgelesen werden. Da gibt es keine Gerichtsverhandlung, das ist Folter: alleine zu sitzen, nicht zu wissen, wessen man angeklagt ist. Das ist Freiheitsberaubung, das ist psychischer Druck, und da werden Menschen zerstört und werden irre."

    Ausgangspunkt der Inszenierung war laut Kimmig eine Bemerkung Wolfgang Schäubles, der sagte, dass unter bestimmten Umständen Folter möglich sei. Ohne jeden Zeigefinger enthüllt sie staatliche Paranoia und fragt vor allem nach den Folgen der geschürten Angst. Kulturstaatsminister Bernd Neumann:

    "Es ist alles zulässig, alle Fragen mit einem klassischen Stück neu zu interpretieren. Die Frage nach der Folter, und wann sie angewandt werden kann, haben wir auch in der Republik schon öfter in Zusammenhang mit Kindesentführung gehabt. Aber unser Rechtsstaat ist da ja klar abgegrenzt, dass Folter kein Mittel sein kann. Aber aus so einem 200 Jahre alten klassischen Stoff so eine spannende Inszenierung zu machen, das fasziniert mich am meisten."

    Auch an neueren Stoffen wie der "Ehe der Maria Braun" nach Rainer Werner Fassbinder aus München oder "Gertrud" nach Einar Schleef von Armin Petras aus Frankfurt hätte der Staatsminister nichts auszusetzen gehabt, schon der grandiosen Schauspielerinnen wegen. Nur eine Übernachtung in "Ruby Town", der vom Militär überwachten Containerstadt in Schöneberg voller armseliger Gestalten, hätte man ihm vielleicht nicht anempfohlen: Er wäre garantiert in einer 50-Cent-Peepshow gelandet.
    Das wahrhaftigste Theater, um diesen großen Ausdruck einmal in den Mund zu nehmen, sieht man derzeit in Berlin am Deutschen Theater: Jürgen Goschs "Onkel Wanja" mit Ulrich Matthes in der Hauptrolle ist große Menschenerkundung - ohne jeden politischen Anspruch, wie der Schauspieler erzählt:

    "Den Gosch, den interessiert das reine Spiel. Der reagiert wie ein Kind auf uns Schauspieler. Wenn er etwas sieht, das ihm nicht gefällt, sagt er: So vielleicht lieber nicht. Und wenn ihm etwas gefällt, sagt er: Ja, das lassen wir mal so."

    Bleibt, die Optik zu erwähnen. Wir sahen: eine ausweglose Bühnenschachtel aus trockenem Lehm; ein echte Seilbahn-Kabine aus Blech; einen verpixelten Turm zu Babel; einen von Stahlträgern überspannten Abgrund; ein bühnenhohes Bilderbuch; den Spalt zwischen zwei gewaltige Holzblöcken; einen riesigen Spiegelsaal. Starke Bilder, die dennoch die Schauspielerinnen und Schauspieler nie erdrücken. Die ihnen Raum geben, die Inszenierung bündeln, Symbole der modernen Verlorenheit des Menschen darstellen.

    Schade, dass sie oft selbst keinen Raum finden. Ungewöhnlich deutlich warb Joachim Meyerhoff, der Darsteller des Züricher "Hamlet", deshalb nicht für das Theater, sondern für das Überdauern der Kulissen.

    "Morgen Abend ist unsere letzte Vorstellung. Das ist aus Zürich alles hierhergekommen, und am Samstag werden all diese Spiegel vernichtet. Und das ist so schlimm, weil die niemand lagern kann. Das ist so grauenhaft, weil so viele den Abend sehen wollen, was sich nicht rechnet, und das ist so absurd. Noch eine Vorstellung, und dann ist das Schrott."