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Krieg der Sterne

Vor 100 Jahren wurde der Michelin-Führer ins Leben gerufen, sozusagen die Bibel des guten Geschmacks. Bis heute hat das Werk nicht an seinem großen Einfluss verloren.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 14.11.2009
    Wenn unsereiner wieder mal nach einer miserablen Mahlzeit in einem schlechten Restaurant beim unfreundlichen Kellner die Rechnung bezahlt, dann gibt es eine Lieblings-Rachefantasie, und die geht so: Ich bin Test-Esser im Dienste des Michelin-Führers. Ich bin Inspektor, wie die Bezeichnung wirklich lautet. Ich gehöre also zur Gastro-Polizei. Wenn die widerliche Bande in der Küche und am Tresen das erkennt, dann werden sie um Gnade flehen, aber ich werde ihr Etablissement einfach aus der roten Gourmet-Bibel streichen.

    So etwas kann existenzvernichtend sein. In Frankreich haben sich schon Spitzenköche umgebracht, nachdem sie von Restaurantkritikern degradiert wurden. In Frankreich spielt die Essenszubereitung aber auch eine andere Rolle als bei uns, jedenfalls war es in der Vergangenheit so. Die Inbrunst, mit der dort Lebensmittel verkostet und verglichen werden und mit der man über die Ergebnisse solcher Verkostungen und Vergleiche debattiert, hat sich allerdings bis jetzt erhalten.

    So erklärt sich, warum der erste und noch immer bedeutendste Restaurantführer der Welt in Frankreich entstanden ist. Mit der institutionalisierten Küchen-Kritik setzte aber auch eine Entwicklung ein, die unser Verhältnis zum Essen grundlegend verändert hat. Es handelt sich um eine Soziologisierung, eine Metaphorisierung, eine Stilisierung des gastronomischen Genusses, wie sie den frühen Benutzern des Michelin noch unerfindlich war. Die wollten einfach auf Reisen gut speisen. Heute unternimmt man Reisen, um außerordentlich zu speisen: man besucht berühmte Restaurants wie Wallfahrtsorte; das kulinarische Erlebnis hat etwas von Theater und Museum – geboten wird eine Inszenierung mit viel Personal, doch es geht ums materielle Objekt auf dem Teller.

    So wurde die Nahrung aufgeladen mit Statussignalen und peripheren Diskursen, bis die Nahrhaftigkeit und das Vergnügen hinter dem Horizont einer modischen Schicklichkeit verschwanden. Und so wurde der Michelin-Führer vom Helfer zum Diktator. Er ist eben nicht nur ein Hilfsmittel für Hungrige, sondern auch ein Geschmacks-Gericht, eine Institution, die uns im Zweifelsfalle sagt, wie uns etwas zu schmecken hat. Es ist dann schon sehr schwer, die Speisen in einem Drei-Sterne-Haus anders als nachtestend zu genießen; man kaut sozusagen mit jedem Bissen auch auf den drei Sternen herum.

    Dies ist übrigens ein Phänomen, das sich in vielen Lebensbereichen wiederfinden lässt. Unser Weltverhältnis wird immer mehr vom Test geprägt. Urlaub, Partnerschaft und Politik: alles findet nur zur Probe statt; wir erleben die Umwertung des Daseins zu einem gigantischen Pilotprojekt. Gleich den Touristen, die unterwegs nur nachsehen, ob die im Reiseführer annoncierten Attraktionen auch in Wirklichkeit vorhanden sind, begeben viele Menschen sich ins Restaurant nicht um zu essen, sondern um zu wissen.

    Dabei haben sich in 100 Jahren Michelin-Existenz die nationalen Gewichte eklatant verschoben. Wer hätte vor 20 Jahren vorherzusagen gewagt, dass ausgerechnet Berlin, diese klassische Ödnis des Geschmacks und des Genusses, zur meistbesternten Stadt Deutschlands werden würde und dass Deutschland die französische Kochkultur überhaupt mit solcher Ernsthaftigkeit üben und pflegen würde, dass einem hergelaufenen Franzosen beinahe der Bissen im Hals stecken bleibt? Wahrhaftig, es gibt postmoderne Formen der Desorientierung, bei denen hilft kein roter Führer mehr!