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Krieg gegen sich selbst

Das literarisches Debüt von Erwin Uhrmann stellt einen jungen Mann namens Hector in den Mittelpunkt. Der gerät zunehmend aus dem Tritt - der Tod seiner Großtante, nebulöse Besuche in Belgrad und ein merkwürdiges Verhältnis zur Mutter bleiben lauter lose Fäden in diesem Buch.

Von Lerke von Saalfeld | 06.07.2010
    Erwin Uhrmann ist 32 Jahre alt, er lebt in Wien und hat bisher durch spektakuläre Kunstaktionen auf sich aufmerksam gemacht. Zum Beispiel hat er zusammen mit einem Künstlerkollegen 2004 in Wien eine sogenannte Kunstklappe eingerichtet, in die Kunstdiebe, sollten sie reuig werden, ihre Raubstücke einwerfen können, ohne sich persönlich stellen zu müssen - Anonymität garantiert. Vor drei Jahren haben die Mitglieder des Wiener Vereins Kunstwerft, zu deren Gründern auch Uhrmann gehört, die spätmittelalterliche Moralsatire von Sebastian Brants "Narrenschiff" zum Anlass genommen, ihre eigene künstlerische Position in der Gegenwart zu definieren. Erwin Uhrmanns Beitrag bestand darin, ein Buch mit skurrilen Namen von ihm unbekannten Menschen vollzuschreiben, Namen, die ihm spontan bei ihrem Anblick einfielen - Narrennamen also.

    So lustig geht es allerdings in dem ersten veritablen Roman des jungen Österreichers nicht zu. Sein literarisches Debüt stellt einen jungen Mann namens Hector in den Mittelpunkt. Der befindet sich zu Beginn des Romans in Triest und erinnert sich seiner Großtante Helene:

    Meine Großtante ist von einer Krankenschwester ermordet worden.

    So lautet der erste Satz des Romans, und der Autor fährt fort:

    Irgendwo in den 80er-Jahren. Wo ein Loch war, ein glitzerndes mit Neonlicht, mit Tragik und Glamour. Und dort bin ich in einem Haus mit dunklen Vorhängen, smaragdfarbenen Stofftapeten, Schaffellen auf glatten Parkettböden erzogen worden. Düstere Musik, rauchige Glasflächen und Beige und Braun waren meine Heimeligkeit und schirmten mich von der Angst draußen ab. Denn alles war angst. Und die Angst und die Nicht-Angst waren dunkel in dunkel.

    "Dunkel in dunkel" bleibt auch, was den jungen Mann, der arbeitslos ist, umtreibt. Zunächst erfährt der Leser, dass Hector leicht übel wird, Essen und Trinken verursachen ihm unwohle Gefühle im Magen, er ist immer kurz davor, sich übergeben zu müssen. Warum ihn der Tod seiner Tante, die er kaum kannte und die schon seit 25 Jahren tot ist, plötzlich so in Wallung bringt, auch dies bleibt dunkel. Es gibt die Vermutung, die Tante könne von der Krankenschwester Irmtraud, der später mehrere Morde an pflegebedürftigen Menschen im Heim nachgewiesen wurden, ebenfalls ins Jenseits befördert worden sein. Hector nimmt Verbindung zu dem noch immer im Gefängnis sitzenden Todesengel Irmtraud auf, er besucht sie dreimal, ohne sein Anliegen wirklich vorzubringen, die Frau verweigert sich dem Nachdenken über ihre Vergangenheit.

    Ein anderer Strang des Erzählens führt nach Belgrad, dort besucht Hector seinen Freund Nenad. Ihr erster gemeinsamer Gang führt auf den Friedhof zu den Gräbern der Kriegsverbrecher und ihrer Opfer. Alles ist von Polizisten bewacht, fotografieren ist streng verboten. Die beiden wandern weiter ziellos durch die Stadt; wohin, warum bleibt wiederum unklar, denn Nenad zeigt Hector Orte, die der nicht versteht und die ihm eher eine dumpfe Angst einflößen:

    Musste hier denn ein verdammter Krieg gewesen sein. Natürlich war ich deshalb gekommen. Weil es die Reste eines Ausnahmezustands zu besichtigen gab. Den Krieg vor der Haustür, durch die man jetzt durchspazierte, um sich etwas anzuschauen, das der Bergwanderer nicht sieht. Nationalisten pokern in Bars, smarte Kriegsverbrecher in schwarzen Anzügen und mit großrandigen, dunklen Brillen, blondierte Frauen mit knappen Röcken und hochhackigen Schuhen. Das serbische Kriegszeichen an jeder Hauswand. Der ewige Proletarier in gefälschten Armani- und Gucci-Jeans. Nenad soll mir die Bohemiens zeigen. Diese in eine Bar umgebaute Wohnung, wo die Avantgarde ihren Intellekt gegen was weiß ich mit Drogen und Alkohol scharf macht. Die Mitte von Europa ist schon viel zu lange im Nachkrieg.

    Daraus ließe sich eine dichte Geschichte über Krieg, Verbrechen und Vergangenheit, die nicht vergeht, erzählen. Aber Erwin Uhrmanns Held irrt konzeptlos weiter. Der Mord oder Nichtmord an der Tante bleibt ebenso offen, wie die Besuche in Belgrad undurchsichtig sind. Alles mischt sich in Hectors Kopf zu einem mit Träumen durchsetzten Wirrwarr aus Triest, Belgrad und der österreichischen Heimatstadt, Tante Helene und Schwester Irmtraud; dazu kommen weitere Personen wie der einstige Ehemann von Helene und ein alter Bekannter der Toten, der am Ende des Romans stirbt. Der einzig reale Bezug zur Gegenwart sind Carla, die Freundin des Romanhelden, die auftaucht und verschwindet, je nachdem, wie es ihr gefällt, und die Mutter, mit der Hector dann und wann belanglose Gespräche führt. Von ihr erfährt er auch, dass die feine Tante Helene, die für Hector so gut duftete und so elegant lila gekleidet war, durchaus biestig und ungerecht sein konnte. Aber auch diese mütterliche Aufklärung hängt in der Luft. Weiterhin geistert eine ehemalige russische Kosmonautin, von der Hector in der Kindheit erfahren hatte, durch seine Fantasien und vermischt sich mit den anderen weiblichen Personen.

    Nur eines ist konstant in diesem Roman, wann immer Hector ins Flattern gerät, beginnt er zu onanieren, spürt Erektionen, duscht sich ab, wird von Juckreiz gequält, Gänsehaut macht sich breit oder es ist ihm mal wieder schlecht. Die Tage werden ihm lang und quälen ihn, also versucht er, sie in passive und aktive Tage einzuteilen. Die einzige Entwicklung in diesem Roman, Hector gerät zunehmend aus dem Tritt:

    Nenad rief mich täglich an, ich nahm nie ab. Carla ließ sich vereinzelt blicken, meldete sich fast jeden Abend zumindest kurz. Meine Wut auf sie stieg täglich an. Meine Mutter änderte ihre Strategie mir gegenüber so oft, dass ich nicht mehr wusste, wie ich ihr begegnen sollte. Da war sie freundlich und erkundigte sich ohne Aufdringlichkeit, wie es mir ging, dort platzte ihr der Kragen und sie mahnte mich, eine Arbeit zu suchen. Meine Einteilung in passive und aktive Tage wieder aufzunehmen, gelang nicht. Ich schlief bis kurz vor Mittag, in der Nacht lag ich herum, aß, rauchte, peitschte mich mit dem Ledergürtel, onanierte, brachte Erektionen oft nicht zustande, begann mehr als zehn Bücher, las keines fertig. Ich zahlte Rechnungen nicht mehr ein, bestellte täglich Pizza. Gegen einen Mottenbefall in der Küche unternahm ich nichts, der Herd war verklebt und verkrustet, die Toilette tropfte.

    Der Krieg, der hier geführt wird, ist der Krieg gegen sich selbst - aber was das Unbehaustsein des Hector in dieser Welt auslöst, das bleibt alles äußerlich aufgesetzt. Der Leser verzweifelt ebenso wie der Romanheld, was soll die ganze Geschichte, in der lauter lose Fäden herumhängen. Hector spricht immer wieder von "gedanklichen Eskapaden", aber das macht die Geschichte auch nicht aufregender oder runder. Und wenn man sich dann noch durch zahlreiche sprachliche Holprigkeiten und schiefe Bilder quälen muss, dann erlahmt das Interesse an diesem Debütroman von Erwin Uhrmann.

    Erwin Uhrmann: "Der lange Nachkrieg"
    Limbus Verlag, 181 S. 18,90 Euro