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Krieg mit Vorwarnung

Interessenskonflikte zwischen Staaten oder Bevölkerungsgruppen lassen sich dank Diplomatie heute oftmals beilegen. Vorausgesetzt es gelingt, die verfeindeten Parteien an einen Tisch zu bekommen, bevor die Situation eskaliert. Eine Art Krisenbarometer soll helfen, drohende Konflikte einer Region frühzeitig zu erkennen.

Von Ralf Krauter | 18.06.2013
    Konflikte entschärfen, bevor sie sich soweit zuspitzen, dass ein Krieg droht – das ist die Aufgabe internationaler Diplomatie. Doch weil es weltweit unzählige Krisenherde gibt, tut sich selbst die UNO schwer, alle im Blick zu behalten. Der französische Politikwissenschaftler Dr. Thomas Chadefaux will helfen, die drohende Eskalation von Gewalt zu verhindern. Sein Ziel: Ein Risikobarometer, das Diplomaten verrät, in welcher Region der Erde ein Waffengang besonders wahrscheinlich ist.

    "Die Idee ist so ähnlich wie bei der Wettervorhersage. Da sieht man die Wolken kommen, bevor es regnet. Es gibt Warnsignale, dass ein Sturm aufziehen könnte. Auch bei Kriegen gibt es im Vorfeld Hinweise. Es gibt politische Spannungen, die eskalieren, Nachbarländer, die in Streit geraten, und so weiter. Solche Ereignisse spiegeln sich in Zeitungsartikeln wider. Wir analysieren ihre Spuren, um herauszufinden, ob wir mit ihrer Hilfe die Wahrscheinlichkeit künftiger Kriege voraussagen können."

    Thomas Chadefaux forscht am Lehrstuhl für Soziologie der ETH Zürich und weiß, dass er sich viel vorgenommen hat. Dem Wetterbericht kann man nie länger als ein paar Tage trauen. Wie viel kniffliger muss es da sein, anhand von Medienberichten die Entwicklung internationaler Beziehungen über Wochen und Monate vorherzusagen?

    "Es ist ziemlich schwierig und wir liegen öfter mal daneben. Aber unser Ziel, bessere Prognosen zu liefern als bislang, haben wir erreicht."

    Bisherige Konfliktprognosen stützen sich primär auf statistische Angaben, die Staaten selbst veröffentlichen: Bruttosozialprodukt, Militärausgaben, Größe der Streitkräfte, Stahlproduktion und so weiter. Der Haken dabei: Solche Daten werden nur einmal im Jahr publiziert und sind nicht immer zuverlässig. Um zusätzliche Informationen zu bekommen, startete Thomas Chadefaux eine systematische Suche bei "Google News Archive", dem umfassendsten globalen Zeitungsarchiv.

    "Die Zeitungen, auf deren Archiv wir zugreifen konnten, reichen von so speziellen wie "Jagen und Fischen in Nebraska" bis zur "New York Times" und anderen Leitmedien. Wir haben in 60 Millionen Nachrichtenartikeln nach Schlüsselwörtern gesucht, die auf Konflikte hindeuten."

    Wörter wie Spannung, Krise, Konflikt und Militärausgaben zählten zu den Suchbegriffen. Tauchten sie in Berichten über ein bestimmtes Land auffällig oft auf, werteten die Züricher Forscher das als Zeichen dafür, dass die Kriegsgefahr für dieses Land gewachsen war.

    Um die Methode zu testen, schaute Thomas Chadefaux in die Vergangenheit. Und siehe da: Die meisten der gut 200 Kriege seit Beginn des 20. Jahrhunderts konnte er auf Basis von Zeitungsartikeln, die vor ihrem Ausbruch erschienen waren, vorhersagen. Wenn der Risikoindex für ein bestimmtes Land besagte, es werde im Laufe des nächsten Jahres in einen Krieg verwickelt, passierte das in 85 Prozent der Fälle tatsächlich.

    "Wir sind weit davon entfernt, sagen zu können: In dieser Region bricht nächste Woche ein bewaffneter Konflikt aus. Was wir aber sagen können: Wie groß ist die Kriegsgefahr für ein bestimmtes Land? Wir wissen, dass das Risiko für die Schweiz sehr gering ist, für Somalia dagegen sehr hoch. Unser Ziel ist ein geopolitischer Risikoindex, der verrät, wo es in den nächsten Wochen oder Monaten brenzlig werden könnte. Idealerweise würden dann rechtzeitig politische Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu entschärfen."

    Wie realistisch diese Vision, an der auch andere Gruppen arbeiten, wirklich ist, muss die Zukunft zeigen. Zur Verhinderung von Bürgerkriegen in Entwicklungsländern zumindest scheint die Methode nur bedingt geeignet: Die Konflikte in Somalia und Ruanda zum Beispiel machten erst Schlagzeilen, nachdem sie ausgebrochen waren. Die automatisierte Zeitungsrecherche im Internet hätte Diplomaten in beiden Fällen kaum geholfen.