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Krieg und Exil auf der Bühne

In seinen Stücken versucht der kanadische Autor Wajdi Mouawad die Folgen, die Bürgerkrieg, Folter, Vertreibung und Exil für die Menschen haben, auf der Bühne erfahrbar zu machen. Sein bisher einziges auf Deutsch übersetztes Bühnenstück "Verbrennungen" kam nun in Nürnberg und Göttingen zeitgleich als deutschsprachige Erstaufführung heraus.

Von Bernd Noack |
    "Es gibt Wahrheiten, die man selber entdecken muss", heißt es einmal in Wajdi Mouawads neuem Stück "Verbrennungen". Und es gibt auch Theaterstücke, die man als Zuschauer selber erfahren muss und soll: Man kann sie nicht erzählen, darf ihr Ende, das kommt wie ein "einstürzender Himmel", wie das verwirrende Erwachen aus einem langen, quälenden Traum, nicht verraten.

    "Verbrennungen", das seine deutsche Erstaufführung jetzt in Nürnberg - und zeitgleich am Deutschen Theater in Göttingen - erlebte, ist solch ein Stück: eine sich stetig aufbauende Katastrophe, eine unbegreifliche Chronik unaufhaltsamer Ereignisse, die auf den Wahnsinn zustreben. Nawal, die zentrale Figur des Dramas, wird schließlich nur noch hilflos und doch auch schmerzhaft befreit sagen können: "Und mein Gedächtnis ist explodiert."

    Wajdi Mouawad, der im Libanon geborene kanadische Dramatiker, erzählt vom Krieg, der sich in das geordnete Leben von Menschen hineindrängt, die ihn gar nicht mehr für möglich gehalten haben, die ihn und seine Folgen verbissen ignorieren. Die Bürgerkriegs-Ereignisse, die in den 70er Jahren im Libanon ihren Anfang nahmen und in der grausamen, tödlichen Folge alle Unterscheidungen zwischen Täter und Opfer, Schuld und Rache, Grund und Vorwand verwischten, sind aber nur vordergründig ein Anhaltspunkt in "Verbrennungen". Mouawad geht es um alle kriegerischen Auseinandersetzungen, die Erinnerungen an die Nachbarschafts-Schlachten in Jugoslawien stellen sich ebenso ein wie Bilder metzelnder Stämme aus Afrika: die Verstrickung der vermeintlich Unbeteiligten in ihre verdrängte Geschichte ist das Thema. Die Nachgeborenen stoßen noch immer auf die Blutspur, die nicht versickert ist, sondern sich ihren Weg bahnt aus dem Vergessen in die Gegenwart, in die Köpfe und das Denken der Kinder und Enkel, die mit ihrer Schreckens-Hypothek alleine gelassen und unerlöst zurückbleiben.

    Und doch geht es Mouawad gerade um diese klitzekleine Chance der Erlösung, wenn er die Zwillinge Jeanne und Simon am Ende ihrer Suche nach der verlorenen, zerstörten Zeit ihrer Mutter zu den unfassbaren Ursachen und Umständen der eigenen Existenz führt. "Verbrennungen" ist ein kompliziert konstruiertes Durchwandern der verschiedensten Zeit- und Orts-Ebenen. Das Stück arbeitet mit harten filmischen Schnitten, mit Rück- und Überblendungen, vor allem: mit der irritierenden Gleichzeitigkeit scheinbar unzusammenhängender Geschehen.

    Die Erfüllung ihres rätselhaften Testaments, zu der Mutter Nawal, die die letzten Jahre ihre Lebens nurmehr geschwiegen hat, das Geschwisterpaar zwingt, konfrontiert es mit einer Vergangenheit, die ihm ebenfalls die Sprache verschlagen wird. Die Spurensuche im vom Bürgerkrieg paralysierten Ursprungsland gerät zum kriminalistischen Puzzlespiel und zum Horrortrip durch die Niederungen menschlicher Fähigkeiten.

    In Nürnberg hat sich Regisseur Georg Schmiedtleitner für dieses Tableau aus Personen und Handlungssträngen eine nüchtern-strenge Bühne bauen lassen, die von Gräben durchzogen wird, die wie Zeit-Furchen funktionieren. Im kaum merklichen Wechsel treffen die Figuren aus den aufeinanderfolgenden Lebensabschnitten der alten und jungen Nawal zusammen: Sie begegnen sich und erkennen sich nicht, sie gehen sich aus dem Weg und suchen sich - finden werden sie sich erst in der Hölle ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Es ist, als begleite und leite sie ein Fluch. Nur Nawal, deren Vermächtnis hier verhandelt und entdeckt wird, die ihren Kampf gegen die Normalität und den Irrsinn des mörderischen Alltags verloren zu haben scheint, ist als stumme Zeugin der Szene, als Mahnmal der ausgelöschten Wahrheit, in allen Zeiten präsent.

    In einem beklemmend lakonischen Monolog wird diese Wahrheit endlich aus ihr hervorbrechen: "Wo beginnt eure Geschichte?", fragt sie herausfordernd ihre Kinder, die längst wie erstarrt vor den Trümmern ihrer unsagbaren Biografie stehen. Und da ist sie dann wieder, diese Gleichzeitigkeit: Aus dem Schock der Erkenntnis heraus plädiert die geschundene und geschändete, um Leben, Glück, Würde und Ideale betrogene alte Frau für das undenkbare Vereinen von Hass und Liebe.

    Man kann durchaus eine sehr simple Moral in diesem Stück ausmachen, aber Mouawad begegnet bequemen Betroffenheits-Ambition eben mit diesen abenteuerlichen, schockierenden Wendungen: für oberflächliche Versöhnungssucht oder auch voyeuristischen Schauder bleibt da kein Raum. Es bleibt nur die Option, die Vorurteile zu überwinden, aus dem Schweigen den Schrei herauszuhören, den Zorn in Mut zu verwandeln. Und Schmiedtleitner folgt ihm auf diesem unbequemen Irrweg durch verbannte Gefühle und verbrannte Wirklichkeiten, findet kompromisslose, direkte, dokumentarisch klare Bilder, gegen die er beunruhigend leise Momente setzt. Er verzichtet diesmal ganz bewusst auf visuelle Effekte und Überzeichnungen; die Eindeutigkeit der Sprache, die Spannung des Textes sind ihm provozierend genug; und er findet und betont behutsam auch die Elemente der griechischen Tragödie, in deren Nähe Mouawad sein Stück immer wieder rückt.

    All dies aber ist durchdrungen von der brennenden, lähmenden Angst vor der Entdeckung der Wahrheit, die bösesten Ahnungen vibrieren in jedem der Sätze - bis die entsetzliche Offenbarung wie ein Stromschlag trifft. Schmiedtleitner kann sich dabei auf ein außergewöhnliches Schauspieler-Ensemble verlassen, das man in Nürnberg selten so konzentriert und zusammengeschweißt sah.

    Das Theater aber verlässt man an diesem Abend als verstörter Geheimnisträger: denn die Geschichte der gebrannten Kinder Jeanne und Simon bleibt unaussprechlich - auch wenn man sie gesehen hat.