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Kriegserfahrung und nationale Identität

Die Deutschen redeten sich nach 1945 ihre Unschuld ein. Die Niederländer wiederum glaubten, sie wären fast alle im Widerstand gegen die deutschen Besatzer gewesen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden aber auch die Einseitigkeiten und blinden Flecken der nationalen Gedächtnisse sichtbar, so dass heute eine europäische Erinnerungskultur entstehen könnte.

Von Peter Leusch |
    "Seit dem Ende des Kalten Krieges 1990 beobachten wir Wissenschaftler, wie die Erinnerung an den Krieg oder auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die nationale Ebene verlässt und zunehmend in einen supranationalen Rahmen eingebunden wird, wo es dann auch wirtschaftliche oder politische Konsequenzen haben kann, wie man sich im Krieg verhalten hat, ob man sich dafür verantwortlich zeigt, entschuldigen möchte, Wiedergutmachung leistet. Ich würde sogar sagen, dass eine sorgsame Erinnerungspolitik heute als Gütesiegel betrachtet wird für politische und ökonomische Glaubwürdigkeit."

    Die Tübinger Zeithistorikerin Kerstin von Lingen spannt einen Bogen zwischen 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und der Gegenwart. Die Verarbeitung der Kriegserfahrungen, so die These, prägte die nationale Identität in Deutschland und auch in anderen Ländern Europas.

    Der Krieg ist Geschichte. Die Generation, die ihn erlebte, als Täter, Opfer oder Mitläufer, vielleicht auch in wechselnden Rollen, stirbt langsam aus. Aber die Kriegserfahrungen wirken fort, in einer politics of memory, in einer Erinnerungspolitik, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Richard Ned Lebow das nennt. Ned Lebow unterscheidet individuelle Erinnerungen, die Erinnerungen von Gruppen, und das nationale Gedächtnis, jene Deutung von Krieg und Geschichte, die ein Staat seiner Existenz zugrunde legt.

    Vor allem um diese dritte Ebene, das nationale Gedächtnis im europäischen Vergleich geht es auf der Tagung in Tübingen.

    Ein Grundstein für das nationale Gedächtnis der Deutschen, aber auch für das neue Europa - in der Trümmerwüste zu Kriegsende gelegt - war der Nürnberger Prozess. Dort reagierten die Alliierten auf den historisch beispiellosen Vernichtungsterror des Nazi-Regimes ihrerseits mit einem geschichtlichen Novum: Sie stellten die Hauptverantwortlichen wegen ihrer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht.

    "In dem großen internationalen Militärtribunal in Nürnberg standen stellvertretend für die Elite des NS-Deutschland 22 Angeklagte vor Gericht, die von einem gemeinsamen Gericht der vier Hauptalliierten zur Rechenschaft gezogen wurden und eben später auch verurteilt wurden. Die meisten sind hingerichtet worden, es gab drei Gefängnisstrafen und zwei Freisprüche. Aber dieser Prozess, der Nürnberger Prozess, ist der Ausgangspunkt für die Abrechnungspolitik seit 1945.

    Denn von Nürnberg bis heute, bis Den Haag, lässt sich eine Linie ziehen, man hat in Nürnberg das erste Mal die Verantwortung der Staatengemeinschaf für einen Neuanfang auf strafrechtlicher Ebene betont, also die Alliierten haben sich die Verantwortung selbst gewählt und sich der auch gestellt, die Abrechung zunächst einmal in Gang zu bringen und es dann an die deutschen Gerichte übergeben."

    Abrechung ist hier in einem doppelten Sinne gemeint, als strafrechtliche Aufarbeitung, aber auch als politisch moralische Debatte über Schuld und Verantwortung. Die Deutschen haben das juristische Vorgehen der Alliierten zunächst begrüßt. Durch Krieg, Zerstörung und persönliches Leid zutiefst traumatisiert, wollten sie, dass die Verantwortlichen für diese Katastrophe zur Rechenschaft gezogen werden.

    Und beide deutschen Staaten, die sich 1949 im Kalten Krieg konstituierten, taten dies in erklärter Absetzung zum Naziregime. Die DDR pries ihr eigenes Herrschaftssystem als antifaschistisches Bollwerk, in dem es offiziell keine Alt-Nazis mehr gäbe. Die Bundesrepublik proklamierte Grundrechte, Freiheit und Demokratie. Aber ein konkreter Wille, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die Verbrechen und Verstrickungen weiter aufzuklären, war nicht vorhanden. Denn zum Gründungsmythos des neuen Staates gehörte die Fiktion der Unschuld.

    "Ich möchte sagen, dass die Bundesrepublik 1949 auf dem Konstrukt aufbaute: Wir sind verführt worden, wir haben eigentlich keine Schuld an dem Desaster, eine kleine Gruppe von verbrecherischen Politikern hat Deutschland in den Ruin geführt, also die völlige Ausblendung der eigenen Mitwirkung am Dritten Reich war eigentlich einer der tragenden Pfeiler dieser Staatsneugründung.

    Damit verbunden war auch die Ablehnung des Widerstands - das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen -, aber diese Glorifizierung und auch Würdigung der Attentäter um Stauffenberg hat erst Ende der 60er Jahre richtig eingesetzt und in den 70er und 80er Jahren die Dimension angenommen, die wir heute kennen, aber noch in den 50er Jahren gibt es Diskussionen, ob die Attentäter nicht möglicherweise nur Landesverräter gewesen seien, die im Krieg ihre eigene Regierung zu stürzen versucht hätten."

    Im Kalten Krieg der Systeme rivalisierten auch die beiden deutschen Staaten. An der Oberfläche bestimmten die ideologischen Gegensätze das Bild. Doch darunter gab es viel Gemeinsames, insbesondere die Schlussstrich-Mentalität und Verdrängung der braunen Vergangenheit. Skandalös ist, so die Berlinerin Historikerin Annette Weinke mit Verweis auf neueste Forschungsergebnisse, dass beide deutsche Staaten gezielt ehemalige Gestapoleute und Agenten des NS-Sicherheitsdienstes in ihre jeweiligen neuen Geheimdienste übernahmen - mit Wissen der alliierten Bündnispartner. Annette Weinke:

    "Das hat sich im Zuge der jüngeren Forschung herausgestellt, da leider die Unterlagen des westdeutschen Geheimdienstes der Forschung immer noch nicht zur Verfügung gestellt werden, so dass man über den Umweg der Stasi-Unterlagen erkennen konnte, dass die Rekrutierung von Belasteten für beide deutsche Geheimdienste eine große Rolle gespielt hat,

    Die Stasi hat eine Vergangenheitspolitik betrieben, die stark darauf abhob, NS-Belastungen zu nutzen für operative Tätigkeit, sie hat durchaus erpresst mit dem Wissen um die NS-Vergangenheit."

    Für Ost wie West fragt man sich rückblickend: Konnte ein Gemeinwesen zu innerer Stabilität gelangen, das so viel verdrängtes Unrecht, ungesühnte Verbrechen und verweigerte Wiedergutmachung mit sich herumtrug? Oder kehrt das Verdrängte wieder?

    Im Westen gelangten viele Alt-Nazis problemlos zu Amt und Würden. Eher zufällig wurden die Behörden 1957 auf den Polizeichef von Memel aufmerksam, als der wie viele andere beantragte, wieder in den Staatsdienst aufgenommen zu werden. Im nachfolgenden sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess kam ans Licht, dass er und andere für die Erschießung von 4000 litauischen Juden verantwortlich waren. Eine Welle der Empörung ging durch Deutschland, nd führte dazu, dass 1958 - nun erst - in Ludwigsburg die zentrale Stelle zur juristischen Aufklärung von Nazi-Verbrechen eingerichtet wurde. Diese Wende hin zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit beleuchtet übrigens eine aktuelle Ausstellung in Ulm mit dem Titel "Die Mörder sind unter uns".

    Annette Weinke meint allerdings, dass die Wende vor allem außenpolitische Gründe hat. Denn der Westen misstraute der jungen Bundesrepublik: Wie reif war ihre Demokratie?

    "Es ist bezeichnend, dass die Gründung der zentralen Stelle in Ludwigsburg, eine entscheidende Zäsur für den Wiedereinstieg in die NS-Ermittlung, zu einem Zeitpunkt erfolgte, als es schon eine gewisse Konsolidierung gegeben hatte. Aber der Argwohn im Ausland schwelte nach wie vor, und das war eine klare Maßnahme, um zur Vertrauensbildung im westlichen Ausland beizutragen. Dass sich daraus etwas entwickelt hat, was von den Rechtspolitikern so nicht beabsichtigt war, steht auf einem ganz anderen Blatt."

    Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, der erste Auschwitz-Prozess 1963 fördern zutage, wie viele Mittäter und Mitläufer es gab. Und die Studentenbewegung, die nachfolgende Generation, nahm die Väter ins Kreuzverhör: Was hast Du gewusst, was hast du getan, warum hast du dich nicht geweigert?

    Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie in anderen europäischen Ländern diese Erinnerungs- und Verarbeitungsprozesse verlaufen sind. Zum Beispiel in den Niederlanden, die 1940 von deutschen Truppen überfallen und bis 1945 besetzt waren. Professor Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster erinnert sich:

    "Als ich in den 60er Jahren in die Grundschule ging, ich bin Jahrgang '56, fragte der Lehrer einmal, wer von euren Eltern war dann im Widerstand? Und wir waren 35 in der Klasse, und da gingen 35 Finger in die Luft, das war das Bild, das uns transportiert wurde, wir waren die Guten. Gleichzeitig, und das muss man zur Differenzierung der 60er Jahre sagen, gab es auch kritische Töne - von Jacques Presser, der ein wichtiges Buch mit dem Titel "Der Untergang" geschrieben hatte, und darin beschreibt er den Untergang der niederländischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Und er beschreibt sehr klar, dass die Judenverfolgung und Deportation aus den Niederlanden nur mit Unterstützung, mit Duldung der niederländischen Polizei, der niederländischen Beamten, der Schaffner und so weiter so gut funktioniert hat, weil die Niederlande sich eben nicht so heldenhaft verhalten hat, wie viele gedacht und auch immer noch transportiert hatten."

    Der Gründungsmythos der Niederlande, so Friso Wielenga, entsprang dem Schema: hier die Guten, das sind wir Niederländer, dort die Bösen, das sind die Deutschen und einige Kollaborateure. Aber während man unmittelbar nach Kriegsende vehement gegen deutsche Nazis und einheimische Kollaborateure vorging, setzte man sich bald mit dem Selbstbild "Holland, klein, aber tapfer" zur Ruhe. Und es gab ähnlich wie in der Bundesrepublik eine lange Latenzphase, bis das Schwarz-Weiß-Denken in den 60er Jahren aufbrach und in weiteren Schüben bis heute differenziert wurde.

    "Zunächst ist es sehr wichtig, dass wir seit den späten 80er Jahren, in jedem Fall seit den 90ern in den Niederlanden einen enttabuisierten, entmythologisierten Umgang mit den Jahren '40 - bis '45 haben und dass wir inzwischen von diesem positiven Selbstbild Abschied genommen haben, und mit einem differenzierten und selbstkritischen Blick zurückblicken. Das ist zunächst mal wichtig auch für die transnationale Komponente, denn wenn man mit mehr historischer Objektivität die eigene Rolle betrachtet, kann man auch die Art und Weise, wie die anderen Völker sich selbst und damit umgehen, nüchterner und sachlicher betrachten. Und ich glaube, dass diese Historisierung und Versachlichung auf niederländischer Seite auch mit dazu geführt hat, dass in den deutsch-niederländischen Beziehungen die Besatzungszeit weitgehend an Bedeutung verloren hat, wenn man nicht vielleicht sogar sagen sollte, dass es keine Rolle in der Beziehung mehr spielt."

    Die Aussöhnung zwischen Deutschland und den Niederlanden ist sicherlich weit gediehen. Und es bedarf keiner weiteren Entschuldigungen, auch wenn es immer noch vereinzelte Ressentiments und Reizpunkte gibt. Zum Beispiel als der gebürtige Holländer Johannes Heesters in diesem Februar zum ersten Mal nach 44 Jahren in seinem Heimatland auftrat. Bis dahin galt Heesters, der im Nazi-Deutschland als Operettensänger eine steile Karriere erlebt hatte, in den Niederlanden als persona non grata. Der 104-jährige Heesters wurde bei dem Konzert als "singender Nazi" beschimpft, aber nur noch von einer verschwindenden Minderheit, die in der holländischen Öffentlichkeit dafür keinen Beifall mehr erhielt.

    In Polen dagegen tut man sich schwerer, die dunklen Punkte der eigenen Geschichte wahrzunehmen. Dem polnischen Historiker Jan Thomasz Gross, der heute an der Universität Princeton in den USA lehrt, drohte ein Verfahren wegen Verunglimpfung der Nation, weil er am polnischen Gründungsmythos gekratzt hat. Die Anklage ist unter der neuen Regierung vom Tisch, und seine provozierenden Forschungsergebnisse sind veröffentlicht.

    Kerstin von Lingen: "Er hat gerade ein neues Buch geschrieben in Polen, das heißt 'Fear', also 'Angst', da geht es darum, dass polnische Bürger nach '45 die heimkehrenden Auschwitz-Überlebenden in Polen keineswegs mit offenen Armen empfangen haben, sondern teilweise offen feindselig bis hin zu Mord denen begegnet sind, wo mit deutlich wird, dass es Kontinuitätslinien im Antisemitismus gibt, in den Ländern Europas, die man nicht mit der deutschen Besetzung vermischen kann. Nur, muss aber auch sagen, nur unter der deutschen Besetzung konnte es zu dieser tödlichen Konsequenz kommen, Vernichtung, Auslöschung einer ungeheueren Zahl von Menschen."

    Italien wiederum ist ein besonderer Fall: Ursprungsland des Faschismus, dann Kriegsverbündeter von Nazi-Deutschland, wechselte Italien 1943 die Fronten. Italienische Partisanen kämpften an der Seite der Alliierten gegen die anschließende deutsche Besatzung. An dieser Widerstandsbewegung, der Resistenza, hat sich das Nachkriegsitalien aufgerichtet und orientiert. Aber im jüngsten italienischen Wahlkampf gab es heftigen Streit über den Gründungsmythos.

    "Wir haben auf der einen Seite Berlusconi und Fini mit der Forderung nach einer gemeinsamen Erinnerung, die alle teilhaben lässt, die für Italien gestorben sind, wobei das erklärte Ziel ist, auch den faschistischen Funktionsträgern der letzten Phase wieder einen Platz im nationalen Gedächtnis zurückzugeben: also den italienischen Soldaten genauso wie einem faschistischen Präfekten in Mailand und einem Kämpfer für die Eliteformation Decima mas. Denn alle hätten den Glauben gehabt, für die Ehre der Nation gefallen zu sein. Während die linke Geschichtsschreibung, zuletzt stark vertreten vom Regierungschef Romano Prodi, ganz klar sagt: Die Resistenza hat für die Freiheit gekämpft, es gab eine Entscheidung damals, die war mit Lebensgefahr verbunden, und wer sich für die Resistenza entschieden hat, hat sich für das freie Italien entschieden, hat die Grundlage gelegt für Demokratie im Nachkriegsstaat, und diese Erinnerung ist für uns höher zu bewerten, wenn wir jemals im vereinten Europa ankommen wollen."

    Nationale Ehre oder Demokratie, was ist wichtiger, wo findet ein Staat seine Identität? Die Diskussion in Italien macht deutlich, dass ein Gründungsmythos nicht ein für allemal feststeht, sondern neu gedeutet und umgeschrieben werden kann.

    Bisher hat dabei jede Nation ihre Version der Geschichte monologisiert. Und wenn Vertreter verschiedener Länder zusammenkamen, glich ihr Gespräch einem Dialog unter Schwerhörigen, wie der französische Historiker Marc Bloch formulierte.

    Die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann plädiert deshalb für ein dialogisches Erinnern, wo sich das nationale Gedächtnis den Perspektiven der anderen öffnet. Darin liegt die Zukunft einer dann nämlich europäischen Erinnerungskultur.

    "Wir sehen, wie die nationalen Konzepte mehr und mehr dadurch herausgefordert werden, dass man sie im Zuge der Globalisierung in einen Kontext rückt, wo sie in die Zukunft weisen sollen. Da geht es darum, dass man Entschuldigungen ausspricht, dass man wirtschaftlich Entschädigungen bereitstellt, ich erinnere an den Zwangsarbeiterfonds in Deutschland, womit man ganz klar ein Zeichen setzt, mit uns ist zu rechnen, wir sind europäisch, ja weltweit gesehen Partner, ihr könnt euch auf uns verlassen, wir stehen zu unserer Vergangenheit, wir versuchen Unrecht wieder gut zu machen strafrechtlich wie ökonomisch, und wir sind verlässliche Partner für morgen."