"Im Namen des deutschen Volkes. Feldurteil. In der Strafsache gegen den Obergefreiten Adolf Hermann Pogede vom Ersatzverpflegungsmagazin Frankfurt Oder wegen Kriegsverrats unter anderem hat das Reichskriegsgericht, erster Senat, in der Sitzung vom 14. Juli 1944 für Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen Kriegsverrats und verbotenem Umgangs mit Kriegsgefangenen zum Tode, zum Verlust der Ehrenrechte und zum Verlust der Wehrwürdigkeit verurteilt. Von Rechts wegen."
Am 11. August 1944 wird Adolf Hermann Pogede im Zuchthaus Halle mit dem Fallbeil hingerichtet. Ein eingeschleuster V-Mann hat ihn denunziert. Pogedes Vergehen: Kriegsverrat durch Kontakte mit sowjetischen Kriegsgefangenen: Kontakte, die ihm das Gericht in seinem Urteil folgendermaßen auslegte.
"Durch den Inhalt seiner Unterhaltungen hat er den Kriegsgefangenen kundgetan, dass er mit Ihnen eines Sinnes sei, und dass er mit seinen Sympathien auf sowjetischer Seite stehe. Indem er so mit den Kriegsgefangenen fraternisierte, förderte und stärkte er den zum mindestens latent vorhandenen Widerstandswillen der Kriegsgefangenen und erweckte in ihnen Hoffnungen auf ein baldiges Ende ihrer derzeitigen Lage in Verbindung mit einem Triumph des Bolschewismus."
Pogede ist einer von etlichen Soldaten, die zwischen 1939 und 1945 von der NS- Militärjustiz wegen "Kriegsverrats" zum Tode verurteilt werden. Und er gehört damit zu jenen, die bis heute nicht rehabilitiert sind.
63 Jahre nach Kriegsende befasst sich der deutsche Bundestag mit der Frage, ob die Urteile gegen sogenannte Kriegsverräter aufgehoben werden sollen. Dabei scheint bis heute nicht klar zu sein, wer ein Kriegsverräter ist, so Wolfram Wette, Professor für Neueste Geschichte in Freiburg.
"Selbst Juristen, die vor 1945 tätig waren und die ich befragt habe, konnten zunächst mal nichts mit dem Begriff anfangen. Kriegsverrat bedeutet, dass wenn ein Soldat während Kriegszeiten dem Feind einen Vorteil verschafft und dem eigenen Land einen Nachteil verschafft, dass er dann wegen Kriegsverrat bestraft werden kann. So besagt es jedenfalls eine Gesetzesänderung, die in der NS-Zeit vollzogen wurde, nämlich im Jahre 1934."
Der Historiker Wolfram Wette hat gemeinsam mit seinem Kollegen Detlef Vogel 33 Urteile und fünf Anklageschriften von Wehrmachtsgerichten recherchiert und kommentiert. "Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat" lautet der Titel des Buches. Ein Tabu deshalb, da die Urteile gegen sogenannte Kriegsverräter bisher kaum zugänglich waren und das Thema weitgehend totgeschwiegen wurde.
Die wenigen Überlebenden beziehungsweise die Angehörigen der Verurteilten kämpfen bis heute dafür, dass die Betroffenen rehabilitiert werden und nicht länger als vorbestraft gelten.
Insgesamt verurteilten die NS-Militärgerichte 30.000 sogenannte Wehrkraftzersetzer, Kriegsverräter und Deserteure zum Tode. Mehr als 20.000 wurden hingerichtet.
Wolfram Wette und sein Kollege Detlef Vogel haben in den zugänglichen Archiven geforscht, vor allem im Freiburger Militärarchiv des Bundesarchivs. Dabei haben sie auch zu klären versucht, was Kriegsverräter sind. Erstmals wird 1872 im deutschen Militärrecht, zur Gründung des Deutschen Reiches, ein Kriegsverbrecher-Paragraf aufgeführt. Er regelt, welche Vergehen geahndet werden müssen.
"Also etwa, wenn es jemand unternimmt, mit Personen feindlichen Heers, der feindlichen Marine, oder dem feindlichen Land über Dinge der Kriegsführung zu reden. Wenn er feindliche Anrufe, Bekanntmachungen im Heer verbreitet, wenn er Kriegsgefangene freilässt, oder wenn er dem Feind ein Signalbuch oder einen Auszug aus einem solchen mitteilt. Es wurde ganz genau aufgeführt, was unter Kriegsverrat verstanden werden sollte. Und die Soldaten wurden entsprechend belehrt."
Diese Definition übernehmen die Nationalsozialisten so nicht. Sie weiten den Begriff aus, vermeiden es aber, ihn genau zu bestimmen.
"Die Nazis haben schon vor 1933, bevor sie an der Macht waren, einen Gesetzentwurf im Deutschen Reichstag eingebracht, da kamen die Begriffe vor: Landesverrat, Volksverrat, Wirtschaftsverrat, Rassenverrat, Wehrverrat. Und all diese Formen von Verrat wollten die Nazis schon sehr früh mit dem Tode bestrafen. Im Jahre 1934 fand eine maßgebliche Vereinfachung des Wortlautes statt, sodass es nur noch hieß: Wer Landesverrat nach Paragraf 91b des Strafgesetzbuches im Felde als Soldat begeht, der begeht Kriegsverrat. Und damit hatte man einen ganz schwer definierten Gummiparagrafen, mit dem eine willfährige Justiz, das machen konnte, was sie machen wollte."
So blieb es den Richtern vorbehalten, milde zu urteilen oder die Todesstrafe auszusprechen. Die meisten zogen ein "konsequentes" Handeln vor gegen die sogenannten Kriegsverräter:
"Man entdeckt kleine Leute, die auf unterschiedliche Weise widerständig waren und man entdeckt erneut eine knallharte Militärjustiz, die schon aus heutiger Sicht, Kleinigkeiten wie Unterhaltung mit Kriegsgefangenen, wie Hilfe für Juden, die aber damals offiziell zum Feind erklärt worden waren, die all diese Fälle hochstilisierten zu dem Staatsakt des Kriegsverrats, um sie dann mit der Todesstrafe belegen zu können."
Wolfram Wette nennt Beispiele, die er bei seiner Recherche ausfindig gemacht hat:
"Ein unbekannter Soldat hat der ungarisch-rumänischen Grenze zwölf verfolgte Juden zwischen Fässern auf seinem LKW versteckt, ist an der Grenze festgehalten worden, die Juden wurden entdeckt, er selbst kam vor das Kriegsgericht, wurde wegen Kriegsverrats mit dem Tode bestraft. Wieder andere Soldaten haben etwa, entgegen den Weisungen mit Kriegsgefangenen keinen Kontakt zu pflegen, haben mit ihnen Gedankenaustausch gehabt, haben ihnen mal etwas zugesteckt zur Erleichterung ihres Daseins. In einigen Fällen kam dies heraus. Häufig durch Denunziation übrigens, indem eingeschleuste Spitzel etwas an die Vorgesetzten weitergegeben haben. Oder wenn sogenannte Kameraden einen human eingestellten Soldaten verpfiffen haben. Auch ein solcher Mann, wie etwa der Obergefreite Pogede, ein Mann, der früher in Berlin als Bezirksvorstand politisch gearbeitet hatte, wurde wegen anständiger Behandlung von Kriegsgefangenen zum Tode verurteilt und wegen Kriegsverrats hingerichtet."
Urteile, die bisher so nicht bekannt gewesen sind. Urteile, mit denen sich der Bundestag bis heute nicht beschäftigen konnte. Für Norbert Geis, CSU-Bundestagsabgeordneter aus Aschaffenburg steht beispielsweise fest: "Wer Kriegsverrat beging, hat oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kameraden geschadet" und die Verräter hätten "auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerflich gehandelt".
Als am 5. Mai dieses Jahres der Rechtsausschuss des Bundestages erneut über das Thema "Kriegsverrat" berät, ist unter anderem Wolfram Wette dabei, berichtet über seine Forschungen und die Motive, die seiner Ansicht nach sogenannte Kriegsverräter verfolgten.
"Es ist nicht zu sehen, dass sie verwerfliche Absichten hatten, etwa dass sie ihren eigenen Kameraden hätten schaden wollen, indem sie desertierten zu Partisanen und Feindmächten, dann bei diesen die Stellungen verraten hätten und der eigenen Truppe, worauf diese dann beschossen worden wäre. Dieses wird ja imaginiert auch durch Bundestagsabgeordnete, denen es widerstrebt, den wahren Sachverhalten ins Auge zu sehen. Im Grunde sind wir zu dem Ergebnis gekommen, es handelt sich um widerständige Menschen, was die Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer waren. Und ihre Handlungen waren in aller Regel moralisch oder ethisch motiviert."
Kriegsverrat, also das Weitergeben von Informationen an den vermeintlichen Feind, so Wette, gab es aber dennoch. Allerdings nicht von den größtenteils zum Tode verurteilten einfachen Soldaten. Wette spricht in seinem Buch von Doppelstandards. Das heißt,
"dass es sehr auffällig ist, dass hohe Offiziere und auch hohe Diplomaten, die nicht in einer militärischen Uniform waren, eigentlich nie wegen Landesverrats oder Kriegsverrats verurteilt worden sind, obwohl etliche von ihnen nahezu jeden deutschen Angriffskrieg vorher an das betroffene Land verraten haben. Also, das ist ein klassischer Fall von Kriegsverrat."
Wolfram Wette nennt ein weiteres Beispiel.
"Es sind Zivilisten zu nennen, wie etwa Karl Gordener, der frühere Oberbürgermeister von Leipzig, der in etlichen Gesprächen mit englischen Politikern berichtet hat über den Widerstand in Deutschland und sogar verhandelt hat, wie würden sich denn die Engländer zu einem erfolgreichen Putsch in Deutschland stellen. All diese Männer sind merkwürdigerweise nie vor einem Gericht gelandet. Weder vor einem Militärgericht noch einem zivilen Gericht."
Auch der durch Oberstleutnant Hans Oster und andere Offiziere begangene Verrat deutscher Angriffspläne und Angriffstermine an die Niederlande, an Frankreich, Belgien, England, Dänemark, Norwegen und Jugoslawien hat niemals eine Verfolgung ausgelöst. Diesen "klassischen" Fall von Kriegsverrat erwähnt Helmut Kramer, ehemals Richter am Oberlandesgericht in Braunschweig, in seiner Stellungnahme als Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 5. Mai 2008. Erst beim gescheiterten Militärputsch vom 20. Juli 1944 geraten auch Offiziere ins Visier der NS-Justiz, so der Historiker Wolfram Wette:
"Bis dahin gibt es eigentlich keine Gerichtsverhandlungen und daher auch keine Todesurteile wegen Kriegsverrats gegen höhere Offiziere beziehungsweise parallel gegenüber Politikern und Diplomaten im zivilen Bereich. Wahrscheinlich galt dort ein altes Elitenbewusstsein, dass man die Leute aus den eigenen Reihen nicht abstraft, vermutlich ist bei der Wehrmachtjustiz insgesamt das Militärstrafrecht als ein Disziplinierungsinstrument der Offiziere für die kleinen Leute gedacht gewesen - und ist schon rein gedanklich sehr viel weniger auch auf Offiziere angewendet worden."
Dass der Bundestag sich erst jetzt mit der Frage der Kriegsverräter auseinandersetzt, hat seine Gründe. Die Richter, die die Todesurteile gegen sogenannte Kriegsverräter zu verantworten hatten, kamen bis auf wenige Ausnahmen nach 1945 wieder in Amt und Würden. Lediglich die im Nürnberger Juristenprozess verurteilten Richter wurden zur Rechenschaft gezogen.
Erst in seinem Urteil vom 16. November 1995 bezeichnet der Bundesgerichtshof die NS-Militärjustiz als Blutjustiz. Ihre Opfer gelten dennoch weiterhin als vorbestraft - die sogenannten Kriegsverräter bis heute, die Deserteure bis 2002. Erst dann entscheidet der Bundestag, die wenigen überlebenden und die vielen hingerichteten Deserteure von ihrer Schuld freizusprechen.
Für Franz Fellner gibt es keine Gnade.
"Wenn euch dieser Brief erreicht, bin ich nicht mehr", heißt es im Abschiedsbrief des 19-Jährigen an seine Familie. Seine Geschichte und weitere Lebenswege sind zurzeit in einer bundesweiten Wanderausstellung zu sehen. Sie nennt sich "Was damals Recht war" und erinnert an die Schicksale von Deserteuren, von sogenannten "Kriegsverrätern" und Wehrkraftzersetzern. Der fahnenflüchtige Franz Fellner wird seine Familie nie wiedersehen, er wird hingerichtet.
"Dass er sich damit, wie es die Naziideologie wollte, "außerhalb der Volksgemeinschaft stellte", wie es hieß, dass er sich damit "dem schimpflichsten Verbrechen schuldig gemacht hat", dass es überhaupt für einen deutschen Mann gab, wie es hieß, das waren die Urteilsformeln, das waren die Bezeichnungen der Richter für solche jungen Männer, ist er sich wahrscheinlich gar nicht klar geworden. Dass er in dem Moment, als er sich länger als drei Tage von seiner Truppe wegbewegt hat, ein todeswürdiges Verbrechen begangen hatte, war ihm nicht klar und das wird auch vielen anderen so ergangen sein."
So der Historiker Magnus Koch, einer der beiden Kuratoren der Ausstellung "Was damals Recht war". Er hat gemeinsam mit Ulrich Baumann zwei Jahre lang Gerichtsakten der Wehrmachtsjustiz gesichtet, Kontakt zu überlebenden Familienangehörigen aufgenommen, Briefe, Fotos, Gerichtsfilme, Flugblätter und andere Dokumente zusammengetragen, die die Lebenswege von Verurteilten aber auch von Militärrichtern nachzeichnen.
Ludwig Baumann ist 19 Jahre alt, als er 1940 zur Marine eingezogen wird. Er ist keiner; der begeistert in den Krieg zieht, keiner, der sich in der Truppe stark fühlt und gern Befehlen gehorcht. Schon der Hitlerjugend hatte er sich verweigert. 1942 kommt der gebürtige Hamburger nach Frankreich, wo er einer Hafenkompanie in Bordeaux zugewiesen wird. Ludwig Baumann will nicht töten, will nicht schuldig werden - er will leben. Gemeinsam mit seinem Freund Kurt Oldenburg plant er die Flucht. Zunächst ins unbesetzte Frankreich, dann über Marokko irgendwie in die USA. Doch dazu kommt es nicht:
"Wir sind an der Grenze verhaftet worden und wurden in Bordeaux in Südfrankreich zum Tode verurteilt innerhalb von 40 Minuten. Ich wurde bei der Vernehmung und auch in der Todeszelle gefoltert, weil ich meine französischen Freunde, die uns geholfen hatten, nicht verraten habe, aber auch, weil wir zusammen mit Spaniern, die dort inhaftiert waren, einen Ausbruchversuch geplant hatten. Ich war zehn Monate in der Todeszelle, Tag und Nacht an Händen und Füßen gefesselt. Es war so ein Grauen, es verfolgt mich bis heute traumatisch."
Ludwig Baumann ist einer von 30.000 sogenannten Wehrkraftzersetzern, Kriegsverrätern und Deserteuren, die in Deutschland und den besetzten Gebieten zum Tode verurteilt werden. Jeden Tag, wenn Ludwig Baumann erwacht und die Zellentür geöffnet wird, schließt er mit seinem Leben ab. Er weiß nicht, wann er hingerichtet werden soll. Nur auf Intervention durch einen Geschäftsfreund seines Vaters wird er schließlich begnadigt.
Ludwig Baumann kommt mit dem Leben davon: Zwölf Jahre Zuchthaus lautet nun das Urteil. Zunächst wird er ins Emsland, ins KZ Esterwegen gebracht. Von dort geht es ins sächsische Reichskriegsgefängnis nach Torgau. Viele sterben dort an den Haftbedingungen und der Folter. Mehr als 1000 Todesurteile werden hier vollstreckt.
"Im Wallgraben bei den Erschießungen waren wir manchmal auch dabei zur Abschreckung. Und wenn wir dann Arbeitszeug wechselten, bekamen wir manchmal Jacken an, die hatten vorne einen kleinen Flicken, hinten einen großen Flicken, dann wussten wir, da war jemand drin erschossen worden. Und die, die dies alles überlebten, die kamen zu den Strafbataillonen und die wurden bei Kriegsende nur noch an der zusammenbrechenden Ostfront eingesetzt, wo vorher mit der sogenannten Verbrannten Erde alles niedergemacht worden war, ganze Dörfer, Einwohner. Dort wurden wir reingeschmissen, unterernährt, schlecht bewaffnet, fast keiner hat überlebt, auch mein Freund Kurt nicht. Ich wurde verwundet und kam ins Lazarett und hatte Glück, dass ich als einer der wenigen überleben konnte. Wir haben gehofft nach dem Krieg, dass unsere Handlung anerkannt werden würde, aber wir sind auch dann noch nur als Feiglinge, Kameradenschweine, Vaterlandsverräter beschimpft, bedroht worden, bis wir uns selber wieder schuldig gefühlt haben. Wir hatten überhaupt keine Verbündeten, fast alle sind vorbestraft, entwürdigt verstorben. Wir hatten keine Chance. In meinem Urteil steht zum Beispiel drin: Das schimpflichste Verbrechen, dass der Soldat begehen kann, ist Fahnenflucht. Das muss man sich mal vorstellen, also Mord das alles ist nicht so schlimm."
Die Empörung über dieses Urteil, über die Reaktion vieler Mitmenschen auf sein Verhalten. ist heute so lebendig in ihm wie damals nach Kriegsende. Von Alpträumen verfolgt, körperlich und seelisch am Ende, verfällt Ludwig Baumann zunehmend dem Alkohol. Es fällt ihm schwer, in der jungen Bundesrepublik Fuß zu fassen. Er geht nach Bremen, gründet eine Familie und schlägt sich als Handelsvertreter durch. Im öffentlichen Dienst finden ehemalige Deserteure keinen Job, denn sie gelten weiterhin als vorbestraft. 1990 gründet er mit 36 anderen Leidensgenossen die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz".
"Seitdem kämpfen wir um Rehabilitierung, um Aufhebung der Urteile, um unsere späte Würde. Wir sind in zuständigen Ausschüssen im Bundestag immer gescheitert, auch im Plenum, bis endlich der Bundestag in unserer Sache einen Beschluss fasste, am 15. Mai 1997: Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom NS Deutschland verschuldetes Verbrechen."
Es dauert weitere fünf Jahre bis die Urteile wegen Desertion im Zweiten Weltkrieg aufgehoben werden. Eine späte Rehabilitierung, die kaum noch einer der damaligen Deserteure erlebt. Mit der Ausstellung über die Opfer der NS-Militärjustiz, so erzählt der heute 87-Jährige, sei für ihn ein später Traum in Erfüllung gegangen. Unerfüllt geblieben ist jedoch die Forderung, auch die sogenannten Kriegsverräter zu rehabilitieren. Für Ludwig Baumann, der sich seit den 80er Jahren in der Friedensbewegung engagiert, ein Skandal:
"Soll denn auch heute Kriegsverrat Unrecht bleiben? Was kann man denn heute Besseres tun, auch heute, als den Krieg zu verraten? Ich denke Kriegsverrat ist eine Friedenstat. Vielleicht darf ich doch mal kritisch sagen: Man hat im Jahre 2002 die Kriegsverräter willentlich aus einer Rehabilitation ausgeschlossen. Und als Begründung dafür hat man nur die Vermutung äußern können, dass diese sogenannten Kriegsverräter der eigenen Truppe massiv geschadet haben könnten. Man hat es aber nicht genau gewusst. Und man hat auch keine Anstrengungen unternommen die Kenntnisse zu steigern. Und so mussten externe Forschungen, wie sie jetzt von uns auf privater Basis in Freiburg angestellt worden sind, mussten den Sachverhalt klären. Und nun sind natürlich alle Rechtspolitiker, die mit bisherigen Fragen der Rehabilitierung von Opfern der NS-Militärjustiz befasst waren, aufgefordert, sich mit den nun nachlesbaren Forschungsergebnissen vertraut zu machen. Und sich dann zu prüfen, ob ihre bisherigen Vorurteile noch Bestand haben können."
Auch unter den Experten im Rechtsausschuss des Bundestages gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Urteile gegen Kriegsverräter pauschal, also ohne Einzelfallprüfung aufgehoben werden sollen. Eben das fordert die Linksfraktion in ihrem Gesetzentwurf. Prof. Sönke Neitzel von der Universität Mainz und Prof. Rolf- Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam wenden sich gegen eine pauschale Lösung. Prof. Wolfram Wette und Ludwig Baumann sprechen sich dagegen für eine Rehabilitierung aus, da die meisten der wegen Kriegsverrat Verurteilten aus ethisch-moralischen Motiven gehandelt hätten.
"Es gibt jedoch noch eine große Unbekannte im Freiburger Bundesarchiv/Militärarchiv lagern seit einem Jahr noch 926 laufende Meter von Akten der Feldkriegsgerichte, Divisionsgerichte, die noch niemand gesehen hat. Und was noch gefunden werden wird, eines Tages wegen zum Kriegsverrat Verurteilten, können wir heute noch nicht prophezeien."
Am 11. August 1944 wird Adolf Hermann Pogede im Zuchthaus Halle mit dem Fallbeil hingerichtet. Ein eingeschleuster V-Mann hat ihn denunziert. Pogedes Vergehen: Kriegsverrat durch Kontakte mit sowjetischen Kriegsgefangenen: Kontakte, die ihm das Gericht in seinem Urteil folgendermaßen auslegte.
"Durch den Inhalt seiner Unterhaltungen hat er den Kriegsgefangenen kundgetan, dass er mit Ihnen eines Sinnes sei, und dass er mit seinen Sympathien auf sowjetischer Seite stehe. Indem er so mit den Kriegsgefangenen fraternisierte, förderte und stärkte er den zum mindestens latent vorhandenen Widerstandswillen der Kriegsgefangenen und erweckte in ihnen Hoffnungen auf ein baldiges Ende ihrer derzeitigen Lage in Verbindung mit einem Triumph des Bolschewismus."
Pogede ist einer von etlichen Soldaten, die zwischen 1939 und 1945 von der NS- Militärjustiz wegen "Kriegsverrats" zum Tode verurteilt werden. Und er gehört damit zu jenen, die bis heute nicht rehabilitiert sind.
63 Jahre nach Kriegsende befasst sich der deutsche Bundestag mit der Frage, ob die Urteile gegen sogenannte Kriegsverräter aufgehoben werden sollen. Dabei scheint bis heute nicht klar zu sein, wer ein Kriegsverräter ist, so Wolfram Wette, Professor für Neueste Geschichte in Freiburg.
"Selbst Juristen, die vor 1945 tätig waren und die ich befragt habe, konnten zunächst mal nichts mit dem Begriff anfangen. Kriegsverrat bedeutet, dass wenn ein Soldat während Kriegszeiten dem Feind einen Vorteil verschafft und dem eigenen Land einen Nachteil verschafft, dass er dann wegen Kriegsverrat bestraft werden kann. So besagt es jedenfalls eine Gesetzesänderung, die in der NS-Zeit vollzogen wurde, nämlich im Jahre 1934."
Der Historiker Wolfram Wette hat gemeinsam mit seinem Kollegen Detlef Vogel 33 Urteile und fünf Anklageschriften von Wehrmachtsgerichten recherchiert und kommentiert. "Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat" lautet der Titel des Buches. Ein Tabu deshalb, da die Urteile gegen sogenannte Kriegsverräter bisher kaum zugänglich waren und das Thema weitgehend totgeschwiegen wurde.
Die wenigen Überlebenden beziehungsweise die Angehörigen der Verurteilten kämpfen bis heute dafür, dass die Betroffenen rehabilitiert werden und nicht länger als vorbestraft gelten.
Insgesamt verurteilten die NS-Militärgerichte 30.000 sogenannte Wehrkraftzersetzer, Kriegsverräter und Deserteure zum Tode. Mehr als 20.000 wurden hingerichtet.
Wolfram Wette und sein Kollege Detlef Vogel haben in den zugänglichen Archiven geforscht, vor allem im Freiburger Militärarchiv des Bundesarchivs. Dabei haben sie auch zu klären versucht, was Kriegsverräter sind. Erstmals wird 1872 im deutschen Militärrecht, zur Gründung des Deutschen Reiches, ein Kriegsverbrecher-Paragraf aufgeführt. Er regelt, welche Vergehen geahndet werden müssen.
"Also etwa, wenn es jemand unternimmt, mit Personen feindlichen Heers, der feindlichen Marine, oder dem feindlichen Land über Dinge der Kriegsführung zu reden. Wenn er feindliche Anrufe, Bekanntmachungen im Heer verbreitet, wenn er Kriegsgefangene freilässt, oder wenn er dem Feind ein Signalbuch oder einen Auszug aus einem solchen mitteilt. Es wurde ganz genau aufgeführt, was unter Kriegsverrat verstanden werden sollte. Und die Soldaten wurden entsprechend belehrt."
Diese Definition übernehmen die Nationalsozialisten so nicht. Sie weiten den Begriff aus, vermeiden es aber, ihn genau zu bestimmen.
"Die Nazis haben schon vor 1933, bevor sie an der Macht waren, einen Gesetzentwurf im Deutschen Reichstag eingebracht, da kamen die Begriffe vor: Landesverrat, Volksverrat, Wirtschaftsverrat, Rassenverrat, Wehrverrat. Und all diese Formen von Verrat wollten die Nazis schon sehr früh mit dem Tode bestrafen. Im Jahre 1934 fand eine maßgebliche Vereinfachung des Wortlautes statt, sodass es nur noch hieß: Wer Landesverrat nach Paragraf 91b des Strafgesetzbuches im Felde als Soldat begeht, der begeht Kriegsverrat. Und damit hatte man einen ganz schwer definierten Gummiparagrafen, mit dem eine willfährige Justiz, das machen konnte, was sie machen wollte."
So blieb es den Richtern vorbehalten, milde zu urteilen oder die Todesstrafe auszusprechen. Die meisten zogen ein "konsequentes" Handeln vor gegen die sogenannten Kriegsverräter:
"Man entdeckt kleine Leute, die auf unterschiedliche Weise widerständig waren und man entdeckt erneut eine knallharte Militärjustiz, die schon aus heutiger Sicht, Kleinigkeiten wie Unterhaltung mit Kriegsgefangenen, wie Hilfe für Juden, die aber damals offiziell zum Feind erklärt worden waren, die all diese Fälle hochstilisierten zu dem Staatsakt des Kriegsverrats, um sie dann mit der Todesstrafe belegen zu können."
Wolfram Wette nennt Beispiele, die er bei seiner Recherche ausfindig gemacht hat:
"Ein unbekannter Soldat hat der ungarisch-rumänischen Grenze zwölf verfolgte Juden zwischen Fässern auf seinem LKW versteckt, ist an der Grenze festgehalten worden, die Juden wurden entdeckt, er selbst kam vor das Kriegsgericht, wurde wegen Kriegsverrats mit dem Tode bestraft. Wieder andere Soldaten haben etwa, entgegen den Weisungen mit Kriegsgefangenen keinen Kontakt zu pflegen, haben mit ihnen Gedankenaustausch gehabt, haben ihnen mal etwas zugesteckt zur Erleichterung ihres Daseins. In einigen Fällen kam dies heraus. Häufig durch Denunziation übrigens, indem eingeschleuste Spitzel etwas an die Vorgesetzten weitergegeben haben. Oder wenn sogenannte Kameraden einen human eingestellten Soldaten verpfiffen haben. Auch ein solcher Mann, wie etwa der Obergefreite Pogede, ein Mann, der früher in Berlin als Bezirksvorstand politisch gearbeitet hatte, wurde wegen anständiger Behandlung von Kriegsgefangenen zum Tode verurteilt und wegen Kriegsverrats hingerichtet."
Urteile, die bisher so nicht bekannt gewesen sind. Urteile, mit denen sich der Bundestag bis heute nicht beschäftigen konnte. Für Norbert Geis, CSU-Bundestagsabgeordneter aus Aschaffenburg steht beispielsweise fest: "Wer Kriegsverrat beging, hat oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kameraden geschadet" und die Verräter hätten "auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerflich gehandelt".
Als am 5. Mai dieses Jahres der Rechtsausschuss des Bundestages erneut über das Thema "Kriegsverrat" berät, ist unter anderem Wolfram Wette dabei, berichtet über seine Forschungen und die Motive, die seiner Ansicht nach sogenannte Kriegsverräter verfolgten.
"Es ist nicht zu sehen, dass sie verwerfliche Absichten hatten, etwa dass sie ihren eigenen Kameraden hätten schaden wollen, indem sie desertierten zu Partisanen und Feindmächten, dann bei diesen die Stellungen verraten hätten und der eigenen Truppe, worauf diese dann beschossen worden wäre. Dieses wird ja imaginiert auch durch Bundestagsabgeordnete, denen es widerstrebt, den wahren Sachverhalten ins Auge zu sehen. Im Grunde sind wir zu dem Ergebnis gekommen, es handelt sich um widerständige Menschen, was die Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer waren. Und ihre Handlungen waren in aller Regel moralisch oder ethisch motiviert."
Kriegsverrat, also das Weitergeben von Informationen an den vermeintlichen Feind, so Wette, gab es aber dennoch. Allerdings nicht von den größtenteils zum Tode verurteilten einfachen Soldaten. Wette spricht in seinem Buch von Doppelstandards. Das heißt,
"dass es sehr auffällig ist, dass hohe Offiziere und auch hohe Diplomaten, die nicht in einer militärischen Uniform waren, eigentlich nie wegen Landesverrats oder Kriegsverrats verurteilt worden sind, obwohl etliche von ihnen nahezu jeden deutschen Angriffskrieg vorher an das betroffene Land verraten haben. Also, das ist ein klassischer Fall von Kriegsverrat."
Wolfram Wette nennt ein weiteres Beispiel.
"Es sind Zivilisten zu nennen, wie etwa Karl Gordener, der frühere Oberbürgermeister von Leipzig, der in etlichen Gesprächen mit englischen Politikern berichtet hat über den Widerstand in Deutschland und sogar verhandelt hat, wie würden sich denn die Engländer zu einem erfolgreichen Putsch in Deutschland stellen. All diese Männer sind merkwürdigerweise nie vor einem Gericht gelandet. Weder vor einem Militärgericht noch einem zivilen Gericht."
Auch der durch Oberstleutnant Hans Oster und andere Offiziere begangene Verrat deutscher Angriffspläne und Angriffstermine an die Niederlande, an Frankreich, Belgien, England, Dänemark, Norwegen und Jugoslawien hat niemals eine Verfolgung ausgelöst. Diesen "klassischen" Fall von Kriegsverrat erwähnt Helmut Kramer, ehemals Richter am Oberlandesgericht in Braunschweig, in seiner Stellungnahme als Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 5. Mai 2008. Erst beim gescheiterten Militärputsch vom 20. Juli 1944 geraten auch Offiziere ins Visier der NS-Justiz, so der Historiker Wolfram Wette:
"Bis dahin gibt es eigentlich keine Gerichtsverhandlungen und daher auch keine Todesurteile wegen Kriegsverrats gegen höhere Offiziere beziehungsweise parallel gegenüber Politikern und Diplomaten im zivilen Bereich. Wahrscheinlich galt dort ein altes Elitenbewusstsein, dass man die Leute aus den eigenen Reihen nicht abstraft, vermutlich ist bei der Wehrmachtjustiz insgesamt das Militärstrafrecht als ein Disziplinierungsinstrument der Offiziere für die kleinen Leute gedacht gewesen - und ist schon rein gedanklich sehr viel weniger auch auf Offiziere angewendet worden."
Dass der Bundestag sich erst jetzt mit der Frage der Kriegsverräter auseinandersetzt, hat seine Gründe. Die Richter, die die Todesurteile gegen sogenannte Kriegsverräter zu verantworten hatten, kamen bis auf wenige Ausnahmen nach 1945 wieder in Amt und Würden. Lediglich die im Nürnberger Juristenprozess verurteilten Richter wurden zur Rechenschaft gezogen.
Erst in seinem Urteil vom 16. November 1995 bezeichnet der Bundesgerichtshof die NS-Militärjustiz als Blutjustiz. Ihre Opfer gelten dennoch weiterhin als vorbestraft - die sogenannten Kriegsverräter bis heute, die Deserteure bis 2002. Erst dann entscheidet der Bundestag, die wenigen überlebenden und die vielen hingerichteten Deserteure von ihrer Schuld freizusprechen.
Für Franz Fellner gibt es keine Gnade.
"Wenn euch dieser Brief erreicht, bin ich nicht mehr", heißt es im Abschiedsbrief des 19-Jährigen an seine Familie. Seine Geschichte und weitere Lebenswege sind zurzeit in einer bundesweiten Wanderausstellung zu sehen. Sie nennt sich "Was damals Recht war" und erinnert an die Schicksale von Deserteuren, von sogenannten "Kriegsverrätern" und Wehrkraftzersetzern. Der fahnenflüchtige Franz Fellner wird seine Familie nie wiedersehen, er wird hingerichtet.
"Dass er sich damit, wie es die Naziideologie wollte, "außerhalb der Volksgemeinschaft stellte", wie es hieß, dass er sich damit "dem schimpflichsten Verbrechen schuldig gemacht hat", dass es überhaupt für einen deutschen Mann gab, wie es hieß, das waren die Urteilsformeln, das waren die Bezeichnungen der Richter für solche jungen Männer, ist er sich wahrscheinlich gar nicht klar geworden. Dass er in dem Moment, als er sich länger als drei Tage von seiner Truppe wegbewegt hat, ein todeswürdiges Verbrechen begangen hatte, war ihm nicht klar und das wird auch vielen anderen so ergangen sein."
So der Historiker Magnus Koch, einer der beiden Kuratoren der Ausstellung "Was damals Recht war". Er hat gemeinsam mit Ulrich Baumann zwei Jahre lang Gerichtsakten der Wehrmachtsjustiz gesichtet, Kontakt zu überlebenden Familienangehörigen aufgenommen, Briefe, Fotos, Gerichtsfilme, Flugblätter und andere Dokumente zusammengetragen, die die Lebenswege von Verurteilten aber auch von Militärrichtern nachzeichnen.
Ludwig Baumann ist 19 Jahre alt, als er 1940 zur Marine eingezogen wird. Er ist keiner; der begeistert in den Krieg zieht, keiner, der sich in der Truppe stark fühlt und gern Befehlen gehorcht. Schon der Hitlerjugend hatte er sich verweigert. 1942 kommt der gebürtige Hamburger nach Frankreich, wo er einer Hafenkompanie in Bordeaux zugewiesen wird. Ludwig Baumann will nicht töten, will nicht schuldig werden - er will leben. Gemeinsam mit seinem Freund Kurt Oldenburg plant er die Flucht. Zunächst ins unbesetzte Frankreich, dann über Marokko irgendwie in die USA. Doch dazu kommt es nicht:
"Wir sind an der Grenze verhaftet worden und wurden in Bordeaux in Südfrankreich zum Tode verurteilt innerhalb von 40 Minuten. Ich wurde bei der Vernehmung und auch in der Todeszelle gefoltert, weil ich meine französischen Freunde, die uns geholfen hatten, nicht verraten habe, aber auch, weil wir zusammen mit Spaniern, die dort inhaftiert waren, einen Ausbruchversuch geplant hatten. Ich war zehn Monate in der Todeszelle, Tag und Nacht an Händen und Füßen gefesselt. Es war so ein Grauen, es verfolgt mich bis heute traumatisch."
Ludwig Baumann ist einer von 30.000 sogenannten Wehrkraftzersetzern, Kriegsverrätern und Deserteuren, die in Deutschland und den besetzten Gebieten zum Tode verurteilt werden. Jeden Tag, wenn Ludwig Baumann erwacht und die Zellentür geöffnet wird, schließt er mit seinem Leben ab. Er weiß nicht, wann er hingerichtet werden soll. Nur auf Intervention durch einen Geschäftsfreund seines Vaters wird er schließlich begnadigt.
Ludwig Baumann kommt mit dem Leben davon: Zwölf Jahre Zuchthaus lautet nun das Urteil. Zunächst wird er ins Emsland, ins KZ Esterwegen gebracht. Von dort geht es ins sächsische Reichskriegsgefängnis nach Torgau. Viele sterben dort an den Haftbedingungen und der Folter. Mehr als 1000 Todesurteile werden hier vollstreckt.
"Im Wallgraben bei den Erschießungen waren wir manchmal auch dabei zur Abschreckung. Und wenn wir dann Arbeitszeug wechselten, bekamen wir manchmal Jacken an, die hatten vorne einen kleinen Flicken, hinten einen großen Flicken, dann wussten wir, da war jemand drin erschossen worden. Und die, die dies alles überlebten, die kamen zu den Strafbataillonen und die wurden bei Kriegsende nur noch an der zusammenbrechenden Ostfront eingesetzt, wo vorher mit der sogenannten Verbrannten Erde alles niedergemacht worden war, ganze Dörfer, Einwohner. Dort wurden wir reingeschmissen, unterernährt, schlecht bewaffnet, fast keiner hat überlebt, auch mein Freund Kurt nicht. Ich wurde verwundet und kam ins Lazarett und hatte Glück, dass ich als einer der wenigen überleben konnte. Wir haben gehofft nach dem Krieg, dass unsere Handlung anerkannt werden würde, aber wir sind auch dann noch nur als Feiglinge, Kameradenschweine, Vaterlandsverräter beschimpft, bedroht worden, bis wir uns selber wieder schuldig gefühlt haben. Wir hatten überhaupt keine Verbündeten, fast alle sind vorbestraft, entwürdigt verstorben. Wir hatten keine Chance. In meinem Urteil steht zum Beispiel drin: Das schimpflichste Verbrechen, dass der Soldat begehen kann, ist Fahnenflucht. Das muss man sich mal vorstellen, also Mord das alles ist nicht so schlimm."
Die Empörung über dieses Urteil, über die Reaktion vieler Mitmenschen auf sein Verhalten. ist heute so lebendig in ihm wie damals nach Kriegsende. Von Alpträumen verfolgt, körperlich und seelisch am Ende, verfällt Ludwig Baumann zunehmend dem Alkohol. Es fällt ihm schwer, in der jungen Bundesrepublik Fuß zu fassen. Er geht nach Bremen, gründet eine Familie und schlägt sich als Handelsvertreter durch. Im öffentlichen Dienst finden ehemalige Deserteure keinen Job, denn sie gelten weiterhin als vorbestraft. 1990 gründet er mit 36 anderen Leidensgenossen die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz".
"Seitdem kämpfen wir um Rehabilitierung, um Aufhebung der Urteile, um unsere späte Würde. Wir sind in zuständigen Ausschüssen im Bundestag immer gescheitert, auch im Plenum, bis endlich der Bundestag in unserer Sache einen Beschluss fasste, am 15. Mai 1997: Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom NS Deutschland verschuldetes Verbrechen."
Es dauert weitere fünf Jahre bis die Urteile wegen Desertion im Zweiten Weltkrieg aufgehoben werden. Eine späte Rehabilitierung, die kaum noch einer der damaligen Deserteure erlebt. Mit der Ausstellung über die Opfer der NS-Militärjustiz, so erzählt der heute 87-Jährige, sei für ihn ein später Traum in Erfüllung gegangen. Unerfüllt geblieben ist jedoch die Forderung, auch die sogenannten Kriegsverräter zu rehabilitieren. Für Ludwig Baumann, der sich seit den 80er Jahren in der Friedensbewegung engagiert, ein Skandal:
"Soll denn auch heute Kriegsverrat Unrecht bleiben? Was kann man denn heute Besseres tun, auch heute, als den Krieg zu verraten? Ich denke Kriegsverrat ist eine Friedenstat. Vielleicht darf ich doch mal kritisch sagen: Man hat im Jahre 2002 die Kriegsverräter willentlich aus einer Rehabilitation ausgeschlossen. Und als Begründung dafür hat man nur die Vermutung äußern können, dass diese sogenannten Kriegsverräter der eigenen Truppe massiv geschadet haben könnten. Man hat es aber nicht genau gewusst. Und man hat auch keine Anstrengungen unternommen die Kenntnisse zu steigern. Und so mussten externe Forschungen, wie sie jetzt von uns auf privater Basis in Freiburg angestellt worden sind, mussten den Sachverhalt klären. Und nun sind natürlich alle Rechtspolitiker, die mit bisherigen Fragen der Rehabilitierung von Opfern der NS-Militärjustiz befasst waren, aufgefordert, sich mit den nun nachlesbaren Forschungsergebnissen vertraut zu machen. Und sich dann zu prüfen, ob ihre bisherigen Vorurteile noch Bestand haben können."
Auch unter den Experten im Rechtsausschuss des Bundestages gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Urteile gegen Kriegsverräter pauschal, also ohne Einzelfallprüfung aufgehoben werden sollen. Eben das fordert die Linksfraktion in ihrem Gesetzentwurf. Prof. Sönke Neitzel von der Universität Mainz und Prof. Rolf- Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam wenden sich gegen eine pauschale Lösung. Prof. Wolfram Wette und Ludwig Baumann sprechen sich dagegen für eine Rehabilitierung aus, da die meisten der wegen Kriegsverrat Verurteilten aus ethisch-moralischen Motiven gehandelt hätten.
"Es gibt jedoch noch eine große Unbekannte im Freiburger Bundesarchiv/Militärarchiv lagern seit einem Jahr noch 926 laufende Meter von Akten der Feldkriegsgerichte, Divisionsgerichte, die noch niemand gesehen hat. Und was noch gefunden werden wird, eines Tages wegen zum Kriegsverrat Verurteilten, können wir heute noch nicht prophezeien."