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Kristalle aus dem PC

Chemie. - Bislang waren aufwändige Tests nötig, um genauen Aufschluss über die innere Struktur vieler Materialien zu erhalten, denn exakte Computermodelle zur Kristallisierung fehlten. Schweizer Forscher durchbrachen jetzt diese Hürde mit einem neuen Verfahren.

Von Gabor Paal |
    Um seine Methode zu veranschaulichen, greift Artem Oganov vom Laboratorium für Kristallographie der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich zu einem Gedankenspiel.

    "Stellen Sie sich vor, Sie haben eine bestimmte Zahl verschiedener Atome und wollen die in einem kleinen Kasten anordnen. Wie viele Möglichkeiten gibt es? Die Zahl ist astronomisch groß. Und alle Möglichkeiten durchzuspielen, um herauszufinden, welche davon stabil sind, ist praktisch unmöglich. Genau aus diesem Grund konnte man Kristallstrukturen bisher praktisch nicht vorhersagen. Wir haben nun eine Lösung für das Problem gefunden, und sie ist sehr erfolgreich. "

    Die Struktur eines Kristalls zu kennen, ist wichtig. Die chemische Zusammensetzung allein – die Formel also - sagt noch wenig. Es ist die räumliche Struktur – also die wiederkehrende Anordnung der Atome oder Moleküle - die maßgeblich die physikalischen und chemischen Eigenschaften eines Kristalls bestimmt.

    "Denken Sie an Kohlenstoff. Kohlenstoff kommt in zwei völlig unterschiedlichen Formen vor: Als Graphit und als Diamant. Es ist jeweils die gleiche chemische Zusammensetzung, aber in zwei unterschiedlichen Strukturen mit völlig gegensätzlichen Eigenschaften. Graphit ist schwarz und weich, Diamanten dagegen sind transparent und extrem hart. "

    Der Unterschied liegt in der Entstehung: Diamanten bilden sich nur unter extrem hohen Druck- und Temperaturbedingungen wie sie im Erdinneren vorherrschen. Nun sind Graphit und Diamant zwei Materialien, deren Struktur man kennt. Oganovs Methode wiederum erlaubt es, allein am Computer auch unbekannte Strukturen vorauszusagen. Oganovs Student Colin Glass, der das Verfahren maßgeblich mitentwickelt hat, erklärt das Prinzip.

    "In unserem Fall haben wir vorausgesetzt, dass wir die chemische Zusammensetzung kennen und sonst nichts. Also wir wissen, es hat soundsoviel Atome Kohlenstoff, soundsoviel Atome Sauerstoff, und daraus entwickelt der Algorithmus die stabile Struktur und viele andere metastabile Strukturen."

    Es handelt sich um einen so genannten "evolutionären Algorithmus". Das heißt: Kristalle werden betrachtet wie Tierarten. Nur dass hier nicht die biologische Fitness über das Überleben entscheidet, sondern die Stabilität des Kristalls. Der Algorithmus simuliert nun aufgrund der vorgegebenen Atome verschiedene Strukturen. Die meisten sind energetisch instabil, würden sich in der Realität nur Bruchteile von Sekunden halten. Diese instabileren Strukturen mustert der Computer aus, mit den etwas stabileren rechnet er weiter, indem er sie leicht verändert – oder mutiert, wie Glass sagen würde. So ermittelt der Computer nach und nach - wie in der Evolution durch Mutation und Selektion - die wirklich stabilen Strukturen. Und das funktioniert, sagt Glass, mit allen Materialien, anorganischen wie auch organischen. Im Prinzip sogar bei solch langen Molekülen wie Eiweißen.

    "Eiweiße sind halt extrem groß und beinhalten sehr viele Atome. Die eigentliche Grenze ist, wie viele Atome da mitspielen. Wir haben Pläne, die Grenze bis auf ein paar hundert Atome erhöhen, aber die Grenze ist halt schon, wie viele Atome da mitspielen in so einer Einheitszelle."

    Die neue Methode lässt sich zum Beispiel anwenden, um das Innere von Planeten zu erforschen. Artem Oganov kommt aus diesem Bereich. Sein Algorithmus, sagt er, sei wie ein Fenster ins Erdinnere. Denn so gut man die chemische Zusammensetzung der Erde kennt, so wenig ist manchmal bekannt über die Struktur der Mineralien im Erdinneren. Denn die dort vorherrschenden hohen Druck- und Temperaturbedingungen lassen sich im Labor, wenn überhaupt, nur mit extrem hohem Aufwand simulieren. Es gebe aber auch industrielle Anwendungen für das neue Verfahren. Artem Oganov hat bereits ein Patent angemeldet. Denn den Hauptnutzen sieht er bei der Herstellung neuer Materialien.

    "Wenn man Kristallstrukturen vorhersagen kann, kann das helfen, superharte Materialien zu entwickeln, so hart wie Diamanten - aber viel billiger. Interesse zeigen aber vor allem die Pharmaunternehmen. Denn die Struktur eines Wirkstoffs entscheidet darüber, ob er wirklich ein Medikament ist – oder aber ein Gift. Es ist die Struktur, die entscheidet, wie schnell sich ein Stoff im Blut löst. Löst er sich zu langsam, wirkt das Medikament nicht. Löst er sich zu schnell, kann es tödlich sein. Deshalb gibt die Pharmaindustrie viel Geld dafür aus, Kristallstrukturen vorherzusagen. "

    Und so steht Oganov bereits in Verhandlungen mit Pharmaunternehmen in der Schweiz und Japan.