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Kritik am ritualisierten Schlagabtausch

Führt Angela Merkel die Regierung oder laviert sie nur im Windschatten wichtiger Auseinandersetzungen, um nicht in den Verdacht zu geraten, sie begebe sich in die politischen Niederungen. Eine Frage, die in diesem Monat in den Politischen Zeitschriften diskutiert wird.

Von Norbert Seitz | 18.01.2010
    Seit CSU und die FDP sich im Dauerclinch befinden, wächst wieder die Kritik an der Kanzlerin und ihrem angeblich allzu präsidialen Führungsstil. Wolfgang Herles passt die ganze Konsensseligkeit der hiesigen Politik nicht. In der Zeitschrift "Cicero" kritisiert er:

    Mutlosigkeit, Einfallslosigkeit, Gestaltungsschwäche. Die Kanzlerin wird nur noch dafür bewundert, wie sie ihre Macht behauptet, aber niemand weiß mehr, wozu. Angela Merkel erweist sich als Dienerin des Zeitgeistes. Wer nichts tut, macht auch Fehler, denn er verschärft den Handlungsbedarf von morgen. Und wer heute Kontroversen meidet, schürt die von morgen.
    Dem Befund, die Union sei unter Angela Merkel erstarrt, widerspricht Mariam Lau im SPD-nahen Netzwerkerorgan "Berliner Republik":

    Immer wieder heißt es, dem Merkelismus sei der Kernbestand der Christdemokraten geopfert worden. Bis zur Ununterscheidbarkeit sei die CDU an die SPD herangerückt; verschreckt würden sowohl die konservativen als auch die marktliberalen Wähler. (Doch) Regierungsoberhäupter wie Angela Merkel, Nicolas Sarkozy oder Barack Obama stehen am Ende einer Entwicklung, in der der Konservatismus weltweit zu Boden gegangen ist, während sich die Sozialdemokratie im Großen und Ganzen mit dem Markt ausgesöhnt hat. Es ist nicht ganz einfach, in solcher Lage markante Abgrenzungen vom politischen Gegner zu finden.

    Nicht nur die Rolle der Kanzlerin, sondern auch die des Vizekanzlers und Außenministers wird derzeit kritisch gesehen. Christian Hacke hält in der CDU-nahen Zeitschrift "Die Politische Meinung" die Vision eines "Guido Genscher" für eine "Illusion". Zwar würde Westerwelle nach anfänglichen Fehltritten eine gewisse Lernfähigkeit an den Tag legen, die Gefahr der "Selbsttäuschung" sei indes geblieben:

    Westerwelles Weg als populärer außenpolitischer Gehilfe der Kanzlerin könnte bald ins machtpolitische Abseits führen, zumal die Bundeskanzlerin dafür sorgen wird, (seinen) möglichen Handlungsspielraum auch "über Bande", das heißt über andere CDU/CSU-geführte Ministerien, einzuschränken. Dazu bieten sich beispielsweise das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium und vor allem das Verteidigungsministerium an.

    Und die Sozialdemokraten? Couragiert warnt Chefredakteur Tobias Dürr in der "Berliner Republik" vor der Illusion, es könne nach dem 27. September 2009 "nur noch besser" werden.

    Dies entspringt der Annahme eines notwendigerweise zyklischen Politikverlaufs, deren Prämissen obsolet sind. Auch zur gründlichen Reflexion dieser Einsicht haben Sozialdemokraten nun genug Zeit. Sie sollten die Möglichkeit weiteren Niedergangs schonungslos in Betracht ziehen.

    Doch welche Oppositionschancen tun sich auf? So rät Volker Best in der "Berliner Republik" zu konstruktiver Gegnerschaft. Denn bei 23 Prozent würde eine "geifernde Oppositionspartei" anmaßend wirken. Zumal die harmoniesüchtigen Deutschen den ritualisierten Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition schon lange leid seien.

    Als Profilierungschance empfiehlt der Autor eine ganze Reihe von Forderungen nach einer direkteren Demokratie, wie zum Beispiel Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild. Außerdem sollte die SPD ein Verhältniswahlrecht mit lose gebundenen Listen einklagen. Und weiter:

    Darüber hinaus war die Zeit nie so günstig, um eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre zu propagieren. Daneben ist das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer überfällig, und mit etwas Mut könnte die SPD sogar das Wahlrecht aller länger in Deutschland lebenden Ausländer auf Bundesebene postulieren. Hier würde sich zeigen, wie gesellschaftlich liberal die FDP wirklich ist.

    Kommen wir noch einmal auf Wolfgang Herles zurück, der von solch politisch-korrekter Opposition nicht viel zu halten scheint. Im "Cicero" fordert er mehr Einmischung der Eliten, mehr "Sarrazins und Sloterdijks". Unruhe sei jetzt die erste Bürgerpflicht, "mehr Streit – nicht mehr Show" seien gefragt.

    Sabine Reul schlägt im Debattenmagazin "Novo Argumente" in dieselbe Kerbe und plädiert für einen radikalen Schnitt:

    Es ist schon ernüchternd, dass auch junge Politiker, auf die sich Hoffnungen auf Wandel richten, bislang wenig Anzeichen liefern, diese eingefahrenen Politikmechanismen ändern zu wollen. Da gibt es wohl viel zu wenig Neugier, Ambition und Mut zur Verantwortung (...) Ob die Steuern nun um zwei Prozentpunkte herauf- oder heruntergesetzt oder Familien mit 100 Euro mehr oder weniger bedacht werden, ist so entscheidend wie die Schuhgröße der Kanzlerin (...) Was wir brauchen, ist etwas anderes: eine neue Politik ohne Phrasen und veraltete Rituale (...) Und wenn das noch länger so weitergeht, werden andere der Politik auf die Sprünge helfen müssen.
    An wen die Autorin wohl dabei denkt?

    Norbert Seitz war das mit unserem allmonatlichen Streifzug durch die Politischen Zeitschriften.