Donnerstag, 28. März 2024

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Kritik an Differenzierung im deutschen Schulwesen

Havva Engin von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe hat die frühzeitige Differenzierung im deutschen Schulwesen kritisiert. " Da werden Menschen nach der vierten beziehungsweise sechsten Klasse in bestimmte Schulformen aufgeteilt, je nachdem, ob die Akademikerlaufbahn, Beamtenlaufbahn oder eben Handwerkerlaufbahn beabsichtigt werden soll", sagte die Türkin. Alle, die nicht der Norm entsprächen, fielen durch das Raster - und das seien häufig Migrantenkinder.

Moderation: Rainer-Berthold Schossig | 13.07.2006
    Rainer-Berthold Schossig: Nachdem hierzulande vier Wochen lang die "Welt zu Gast bei Freunden" war, kehrt nun der Integrationsalltag in Deutschland wieder ein. Immerhin gleich mit einem Integrationsgipfel, morgen, in Berlin. Gestern hat das Kabinett ein Papier zur Eingliederung von Bürgern ausländischer Herkunft beschlossen. Es hat den harten, aber herzlichen Titel "Gutes Zusammenleben, klare Regeln". Integration wird da immerhin als eine der großen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen und als "politische Schlüsselaufgabe" bezeichnet.

    Vor der Sendung habe ich mit Havva Engin gesprochen von der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe. Sie ist Türkin, in zweiter Generation in Deutschland, ihr Fachgebiet ist interkulturelle Pädagogik und Sprachförderung, und sie wird morgen am Integrationsgipfel im Kanzleramt teilnehmen. Die PISA-Studie, so habe ich gefragt, und andere Untersuchungen zeigen ja, dass der Bildungsmisserfolg in Deutschland mit dem sozialen Status der Familie zusammenhängt. Migrantenfamilien gehören vorwiegend zu den sozial schwächsten Schichten. Frage: Was wäre denn gegen eine solche schulische Determination zu unternehmen?

    Havva Engin: Ja, wie Sie völlig zu Recht gesagt haben, es ist kein Migrantenphänomen, sondern es ist ein Phänomen der Unterschichtung, der sozialen Unterschichtung. Also ich will noch mal betonen: Auch deutsche Kinder sind ja davon betroffen. Als Konsequenz: Unser System muss sich auch ganz stark auch diesen Klienteln widmen. Das heißt nicht in der Schule, sondern wir müssen bereits im Kindergarten mit der Förderung anfangen und diese Kinder sowohl sozial als auch sprachlich fördern, damit sie entsprechende Bildungsabschlüsse erreichen können.

    Schossig: Seit über 40 Jahren gibt es dieses Phänomen Zuwanderung in beziehungsweise nach Deutschland. Warum ist es der Institution Schule bisher nicht gelungen, Migrantenschüler erfolgreicher ins Bildungssystem zu integrieren?

    Engin: Weil unser System immer noch nach einem anderen Motto tickt, und zwar haben wir ein Bildungssystem, was das System der Industriegesellschaft ist. Da werden Menschen nach der vierten beziehungsweise sechsten Klasse in bestimmte Schulformen aufgeteilt, je nachdem, ob die Akademikerlaufbahn, Beamtenlaufbahn oder eben Handwerkerlaufbahn beabsichtigt werden soll. Das ist ein überaltertes System, das muss erneuert werden. Das ist nicht passiert. Und insofern fallen eben in diesem System alle durch das Raster, die der Norm nicht entsprechen. Und das trifft besonders hart Kinder der Unterschicht.

    Schossig: Wenn man sich mal den Begriff einer "deutschen Leitkultur" positiv zu Eigen macht, dass man also sagt: Hier in diesem Lande geschieht etwas, in das sich Fremde, die hierher kommen, eingliedern, einordnen, orientieren müssen, dann hieße ja Integration das Eingliedern des Fremden ins Deutsche. Kann denn ein Bildungssystem sich von solch einem monokulturellen Habitus überhaupt lösen?

    Engin: Ja selbstverständlich. Der Impuls muss von der Gesellschaft ausgehen, auch von der Politik, zu sagen: Wir sind jetzt vielfältig, in sprachlicher, kultureller, religiöser Hinsicht, und das ist auch gut so. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass wir die Sprachen, die die Kinder mitbringen, wertschätzen und als Ressource anerkennen, in die es lohnt, zu investieren. Das ist ein anderes Denken. Das ist eine andere Auffassung von Bildung und von Bildungsgut.

    Schossig: Also meinen Sie, man dürfe nicht festhalten, wie es bisher ja ist, an einem monolingualen System in den Schulen, was sozusagen als Verständigungssprache -muss es doch aber so sein, auf den Schulhöfen, wie man jetzt aus Berlin letztes Jahr hörte, ist es ja sinnvoll, wenn die da dann doch in einer Sprache reden? Wo ist denn da die Ressource dieser babylonischen Vielsprachigkeit?

    Engin: Natürlich ist die Hauptverkehrssprache Deutsch. Sie muss es auch bleiben. Was ich meine, ist, dass wir die Herkunftssprachen wertschätzen dahingehend, dass wir erst mal registrieren: Was bringen die Kinder überhaupt an Sprachen mit, und inwieweit kann ich sie einbinden zum Lernen des Deutschen? Eins darf man nicht vergessen - lernpsychologisch, soziologisch, wie auch immer: Sprache ist die wichtigste Identitätskonstituente eines Menschen. Und wenn ich das nicht anerkenne, dann lehne ich das Individuum ja per se ab. Und das ist lange Zeit bei uns passiert - mir als Kind ist das auch begegnet in der Klasse, dass es hieß: Hier wird Deutsch gesprochen, dabei habe ich mich nur mit meiner Nachbarin kurz darüber unterhalten, was wir am Nachmittag machen. Also das darf nicht passieren. Und man muss es positiv sehen und nicht im Sinne von "Alle reden jetzt, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist".

    Schossig: Die Familien, die hierher kommen, bringen ja, wie Sie sagen, Ressourcen mit. Sie bringen aber auch Belastungen mit: Sie bringen religiöse Vorurteile mit, die sie abgrenzen von der hiesigen Gesellschaft, die zur Selbst-Gettoisierung führen. Muss man nicht das bildungspolitische Versagen zumindest auch zum Teil den Migranten und ihren Kolonien selbst anlasten?

    Engin: Ich verwahre mich dagegen, zu sagen: Migranten machen per se Probleme oder sind sehr islamistisch eingestellt. Es mag für eine kleine Gruppe zutreffen. Allerdings stehen wir als Mehrheitsgesellschaft in der Verpflichtung, zu gucken, warum es diese Entwicklung gegeben hat und warum sich Menschen abschotten. Das hat was damit zu tun, dass sie sich nicht anerkannt fühlen und - auch ganz einfach - dass wir auch nicht hingeguckt haben. Ich muss eben ganz, ganz früh Anknüpfungspunkte finden. Ich muss ganz früh die Frauen, die jungen Frauen auch kontaktieren. Da gibt es eben die Möglichkeiten über die Bildungsinstitution, über die Kindergärten, über Familienzentren, die Frauen darin zu bestärken, eben dass sie willkommen sind und ihnen auch wirklich zeigen, wie diese Mehrheitsgesellschaft funktioniert. Sie eben alleine zu lassen und dann immer zu appellieren: Mach dieses und jenes! Und dann auch nicht zu wissen: Kommen meine Appelle überhaupt an? Das hat uns bisher eben nicht weitergebracht.

    Schossig: Vielleicht kommen wir ja morgen, auf dem Berliner Integrationsgipfel, ein Stück weiter. Das war Havva Engin von der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe über Sprachförderung und Chancengleichheit von Migrationskindern.