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Kritik an Dlf-Kommentar zu Moria
„Wir schreiben keinem unserer Autoren vor, was er schreiben soll“

Ein Kommentar im Deutschlandfunk zum Umgang mit den Flüchtlingen auf Lesbos hat empörte Reaktionen hervorgerufen. Man wolle die Meinungsvielfalt wiedergeben, betonte der zuständige Abteilungsleiter Friedbert Meurer im Dlf - auch die der Autorinnen und Autoren im Sender.

Von Annika Schneider | 14.09.2020
Am 11. September 2020 protestieren Flüchtlinge mit Schildern vor dem ausgebrannten Lager Moria
Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos bitten Deutschland auf einem Plakat um Hilfe. Wie viele von ihnen tatsächlich in die Bundesrepublik kommen dürfen, wird kontrovers diskutiert. (imago images/ZUMA Wire/Eurokinissi)
"Brandstifter gehören nicht auch noch belohnt": Das ist der Titel eines Kommentars im Deutschlandfunk, der seit Freitag für Diskussionen sorgt. Silke Hasselmann, Korrespondentin des Deutschlandradios in Mecklenburg-Vorpommern, äußert sich in dem Meinungsbeitrag zum Umgang mit den Menschen im ausgebrannten griechischen Flüchtlingslager Moria. Sie spricht sich dafür aus, die Flüchtlinge nicht nach Deutschland zu holen, sondern ihnen vor Ort auf der Insel Lesbos zu helfen.
Tausende kritische Rückmeldungen
Das löste heftige Reaktionen aus: Die Redaktionen von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur erhielten vor allem über die sozialen Medien Tausende Meinungsäußerungen zu dem Beitrag, die Mehrheit davon empört. Der Text sei inhuman und zynisch. Außerdem kritisierten viele die Verwendung des Wortes "Selektion", das historisch belastet ist. Den Ausdruck tauschte der Deutschlandfunk im Einverständnis mit der Autorin später aus.
Eine Passantin betrachtet die aktuelle Ausgabe der Zeitung Kölnische Rundschau vor dem Haus der Lokalredaktion Köln in der Stolkgasse. Köln, 12.10.2018
Der Kommentar – ein unverstandenes Format?
Viele Nutzer fänden sich in klassischen Medienrubriken nicht mehr zurecht, warnt Professorin Beatrice Dernbach. Ein Grund: In sozialen Medien werde nicht zwischen Sachinformationen und Meinung unterschieden.
In der Kritik steht aber nicht nur die Meinung der Journalistin. Viele hinterfragen auch, dass der Deutschlandfunk den Kommentar überhaupt gesendet hat. Er würde damit Hetze verbreiten, lautet ein Vorwurf.
In der Dlf-Diskussionssendung Kontrovers verteidigte Dlf-Chefredakteurin Birgit Wentzien die Entscheidung. "Es gibt im Deutschlandfunk eben nicht die eine Meinung, sondern wir sind dafür da, dass wir die Welt auch in ihren Meinungen und Kommentierungen spiegeln", sagte sie am Montagvormittag.
Innere Meinungsfreiheit in der Redaktion
Ähnlich äußerte sich Friedbert Meurer , Leiter der Abteilung Aktuelles im Deutschlandfunk. "Wir wollen die Meinungsvielfalt in diesem Land wiedergeben – auch die Meinungsvielfalt unserer Autoren und Autorinnen im Haus", sagte er am Montag im Medienmagazin @mediasres. "Das ist unbequem, das bringt auch mal Ärger ein. Aber diese Fahne möchten wir gerne hochhalten."
Ein Grundsatz sei es, nicht nur gegenüber der Hörerschaft ein plurales Meinungsangebot zu machen. Es gebe auch eine innere Meinungsfreiheit: "Wir schreiben keinem unserer Autoren vor, was er oder sie schreiben soll."
Abteilungsleiter räumt Fehler ein
Die Themen und Autoren für die drei Kommentare, die im Deutschlandfunk Montag bis Freitag um 19.05 zu hören sind, würden im Laufe des Tages in mehreren Konferenzen festgelegt. Im konkreten Fall habe man sich dafür entschieden, die Situation in Moria nicht aus Griechenland oder Berlin, sondern aus einem der deutschen Bundesländer kommentieren zu lassen, weil diese dafür zuständig sind, Flüchtlinge aufzunehmen und zu verteilen.
Auf den Begriff "Selektion" hätte man von Beginn an verzichten sollen, räumte Meurer ein: "In dem Fall haben wir einen Fehler gemacht." In dem Kontext der Autorin zu unterstellen, hinter dem Begriff stecke "Nazi-Ungeist" halte er jedoch für "absolut daneben" und "überzogen".
In der Redaktion werde nun diskutiert, was man hätte anders machen können. Er stellte aber auch klar: "Ein ganz wichtiger Punkt für uns ist: Wir wollen jetzt nicht die Schere im Kopf auspacken."
Nur einer von mehreren Kommentaren zum Thema
Die Diskussion erinnert an eine ähnliche Debatte um einen vor gut zwei Jahren in der "Zeit" erschienenen Artikel zur privaten Seenotrettung von Flüchtlingen. Die Überschrift "Oder soll man es lassen?" war von vielen als menschenverachtend empfunden worden. Die "Zeit"-Chefredaktion drückte in einem Blogbeitrag später ihr Bedauern darüber aus und stellte klar, dass die Zeitung einer Seenotrettung keine generelle Absage erteile.
Der Beitrag war Teil eines Pro-/Contra-Formats, bei dem zwei Autoren gegensätzliche Meinungen vertreten. Auch im Deutschlandfunk war der Kommentar von Silke Hasselmann nicht der einzige zur aktuellen Situation in Moria. Eine Autorin sprach sich in ihrem Meinungsbeitrag für eine Umverteilung der Flüchtlinge auf andere EU-Staaten aus, ein weiterer Journalist forderte eine Reform der europäischen Migrationspolitik.