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Kritik und Klinik

"Die Lehrveranstaltungen sind ein Teil meines Lebens gewesen, ich habe sie mit Leidenschaft gemacht. Das hat nichts mit Diskussionsveranstaltungen zu tun. Das ist wie ein Forschungslaboratorium. Die Lehrveranstaltungen sind eine Art 'Sprechgesang', der Musik näher als dem Theater. Es spricht grundsätzlich auch nichts dagegen, daß eine Lehrveranstaltung ein wenig wie ein Rockkonzert ist. In der Philosophie lehnten wir das Prinzip des 'schrittweisen Erkenntnisfortschritts' ab: Eine Lehrveranstaltung richtete sich gleichzeitig an Studenten des ersten wie irgendeines anderen Studienjahres, an Studenten und Nicht-Studenten, an Philosophen und Nicht-Philosophen, an Junge und Alte und an viele Nationalitäten. Es gab immer junge Maler oder Musiker, Filmleute, Architekten, die hohe Denkanforderungen an sich stellten. Es waren lange Sitzungen, niemand hörte bei allem zu, aber jeder nahm das, was er brauchen konnte oder wozu er Lust hatte, womit er etwas zu tun hatte, selbst wenn es weit von seiner Disziplin entfernt lag."

Klaus Englert |
    Mit diesen Worten schilderte der französische Philosoph Gilles Deleuze seine legendären Seminare in Paris-Vincennes. Ungewollt hat er damit auch über den neuen Ton gesprochen, den er in die Philosophie einführte. Kaum ein Thema ließ er in den Künsten, den Geistes- und Naturwissenschaften aus. Und immer ging es ihm darum, starre Strukturen zu verflüssigen: In den gesellschaftlichen Machtgefügen hielt er Ausschau nach den Bruchstellen und Fluchtlinien; in der Psychoanalyse verfolgte er die Befreiung des Wunsches aus den familiären Fesseln; in der Linguistik wandte er sich ab vom allzu starren und in sich geschlossenen Sprachsystem, entdeckte er Verbindungslinien zwischen Sprechen und Handeln; in der Musik interessierte er sich für das Aufbrechen traditioneller Klangstrukturen, für die Erkundung neuer musikalischer Techniken; in der Malerei erkundete er das Spannungsfeld zwischen Figuration und Defiguration und im Kino entdeckte er das Auftauchen neuer Bildtypen, die er mit neuen Begriffen beschrieb. Gemeinsamer Ausgangspunkt all dieser Untersuchungen bildet die Erkenntnis: Es gibt immer nur offene Systeme, es gibt Fluchtlinien und es gibt die Schaffung und Besetzung neuer Systeme, die ebenfalls offen sind.

    Für das Buch "Kritik und Klinik", das Deleuze 1993 kurz vor seinem Selbstmord veröffentlichte, lässt sich ähnliches sagen. Es befasst sich mit Philosophie, Theologie und Psychoanalyse, aber auch mit Malerei, Musik und Film. Und nicht zu vergessen - mit Literatur. In einem Gespräch äußerte sich Deleuze zum Verhältnis von Literatur und Philosophie:

    "Beide Aktivitäten, die große Literatur und die große Philosophie haben etwas Gemeinsames: sie zeugen für das Leben. Das ist es, was ich die Kraft des Autors nenne."

    Gilles Deleuze sieht Literatur und Philosophie keineswegs als voneinander getrennte Bereiche. Ganz im Gegenteil, die Philosophie hat die Aufgabe, Begriffe zu schaffen, die neue Probleme aufwerfen und neue Empfindungweisen ermöglichen. Wenn Deleuze von Verbindungen spricht, dann heißt dies: Es gilt das Philosophische im Denk-raum der Literatur und das Literarische im Denkraum der Philosophie zu vermessen. Vom Literarischen ist Deleuze ins Philosophische vorgestoßen, indem er Romanfiguren wie Kapitän Ahab oder Josef K. als Pioniere neuer Denkweisen vorgestellt hat. Umgekehrt hat er jeden Begriff, mit dem sein Denken in Berührung gekommen ist, in Bewegung versetzt. Man kann auch sagen: Zum Leben erweckt.

    Im ersten Kapitel "Die Literatur und das Leben" stellt Deleuze den Schriftsteller in die Nachfolge Rimbauds. Sehender werden; alle Formen der Liebe, des Leidens und des Wahnsinns aufnehmen; die unerhörten und unsagbaren Dinge in sich wahrnehmen - dies forderte Rimbaud vom Dichter. Und Deleuze:

    "Warum sprechen die Schriftsteller von der großen Gesundheit? Sie haben etwas gesehen, das über ihr Vermögen hinausgeht. Sie sind Sehende. Gleiches gilt für die Philosophen. Beide, Philosophen und Schriftsteller folgen einem gemeinsamen Weg. Die einen folgen den neuen Wahrnehmungen, den Perzepten, bis zur Grenze des Erträglichen, die anderen den neuen Denkweisen, den Begriffen, bis zur Grenze des Denkbaren."

    Die großen Gesunden sind für Deleuze die Philosophen Spinoza und Nietzsche sowie die Schriftsteller Lewis Carroll, Sacher-Masoch, Lewis Wolfson und Herman Melville. Alle diese Autoren erproben neue Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen. Neue Begriffe, mit denen sie die herkömmliche Sprache konfrontieren. Die Literatur erscheint deswegen - so Deleuze - "als ein Werk der Gesundheit":

    "Nicht, dass der Schriftsteller zwangsläufig eine große Gesundheit besitzen würde; er genießt vielmehr eine unwiderstehliche kleine Gesundheit, die daher rührt, daß er Dinge gesehen und gehört hat, die allzu groß, allzu mächtig für ihn sind, ihm den Atem verschlagen und ihn erschöpfen, wenn er sie durchlebt - wobei sie ihm dennoch Werdensprozesse gewähren, die im Bann einer üppigen Gesundheit unmöglich gewesen wären."

    Diese Konfrontierung der Sprache mit einer fremden Sprache ist für Deleuze immer mit einer Verlebendigung verbunden. Der Aggregatzustand des Festen und Starren geht ins Flüssige über. In Anlehnung an Proust heißt es über den Schriftsteller:

    "Der Schriftsteller reißt die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen heraus und lässt sie delirieren."

    Und über die Literatur:

    "Die Literatur entwirft in der Sprache eine Art Fremdsprache, die weder eine andere Sprache noch wiederentdeckter Dialekt, sondern ein Anders-Werden der Sprache ist, eine Minorisierung der großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt."

    Große Literatur hat es mit dem Werden zu tun. Dies ist immer dann der Fall, wenn sie an ihre Grenzen stößt und ins Stottern gerät, wenn in ihrer Sprache eine andere vernehmbar wird. Gute Literatur - so Deleuze - gewährt neue Wahrnehmungsweisen, nicht-sprach-liche Visionen und Klangereignisse, die aber allein durch die Sprache ermöglicht werden. Und was ist schlechte Literatur? Sie beschneidet uns in unserem Vermögen und engt uns ein. Der Titel "Die Literatur und das Leben" ist deswegen durchaus wörtlich zu verstehen. Deleuzes Texte zur Literatur sind kämpferisch, nicht kriegerisch. Sie suchen Anregung und Bereicherung, nicht Überwindung und Beherrschung.

    Ähnlich verhält es sich mit der Philosophie. Für Deleuze fängt das penser autrement , das andere Denken, jenseits des eingefriedeten Terrains der wohlgeordneten und wohldefinierten Begriffe an. Jenseits der tausendmal gestellten Frage nach dem ungeteilten Ursprung, der reinen Wahrheit, der ungetrübten Transzendenz und der aufgeklärten Vernunft. Anders zu denken bedeutet für Deleuze: Experimentieren nicht interpretieren. Auf diesem ungesicherten Terrain muß die Philosophie künftig errichtet werden:

    "Mir geht es um Denker, die jegliche Universalien verwerfen, ebenso die Vorstellung, daß Begriffe einen universellen Wert besitzen. Desgleichen verwerfen sie jegliche Transzendenz, nämlich die Instanz, die Erde und Mensch übersteigt."

    Nicht nur in den philosophischen Texten von "Kritik und Klinik" stellt Deleuze grundlegende Fragen. Etwa: Wie können wir neue Erfahrungen mit den Begriffen machen? Und weiter: Wie sieht eine Philosophie aus, die sich niemals damit zufrieden gibt, richtig zu denken? Die sich nicht darin erschöpft, die wahren von den falschen Ideen zu unterscheiden? Und schließlich: Wie gelangt man zu einem Denken der Bewegungen und Ereignisse? Zu einem Denken, das sich nicht länger mit dem Unbeweglichen, Unveränderlichen und Ewigen beschäftigt, sondern mit dem Werden, den Fluchtlinien, den Erfindungen? Verabschiedet man sich von den geheiligten Lehrsätzen, ergäbe sich vielleicht die Chance einer anderen Philosophie - einer Philosophie, die immer unterwegs ist. Deswegen ist die Bewegung des Denkens wichtiger als der Gedanken eines Philosophen. Und die Eröffnung neuer Denk- und Sehweisen, neuer Hör- und Empfindungsweisen wichtiger als die Starre eines begrifflichen Systems.

    Aus all diesen Gründen könnte das "Kritik und Klinik" auch "Die Philosophie und das Leben" heißen. Es ist nicht zufällig, dass auch in diesem letzten Buch von Deleuze immer wieder von Nietzsche die Rede ist. Denn es war der mit dem Hammer philosophierende Deutsche, der "das Wagnis des Erkennenden" einging, der dem Denken eine existentielle Bedeutung zumaß. Nietzsche hätte Deleuze sicherlich zugestimmt:

    "In der Philosophie zu bleiben, bedeutet auch, aus ihr herauszugehen. Doch aus der Philosophie herauszugehen, heißt nicht einfach: etwas anderes machen. Es bedeutet: Hinausgehen und dennoch drinnen bleiben (...). Ich möchte mit den Mitteln der Philosophie das Terrain der Philosophie verlassen. Genau das interessiert mich."

    Nietzscheaner blieb Deleuze bis zu seinem selbstgewählten Tod im November 1995. Das Leiden an der unheilbaren Krankheit - ohne jedes Erheischen falschen Mitleides - war für ihn Bestandteil des Lebens. Bis er es mit dem Sprung in den Abgrund dem Empedokles gleichtat, der sich der Legende nach in den Ätna stürzte.