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Kritik und Krise

Der Historiker Reinhart Koselleck ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Koselleck war einer der bedeutendsten Geschichtswissenschaftler, ein Denker über viele Grenzen und Universalgeist.

Von Wolfgang Stenke |
    In diesen Tagen, da alle Welt um ein dutzend Karikaturen streitet, ist an einen Wissenschaftler zu erinnern, der als junger Mann selbst einmal den Beruf des politischen Karikaturisten ergreifen wollte. Er hat den Stift des Zeichners dann doch mit der Feder des Historikers vertauscht, in späteren Jahren aber daran erinnert, was beide Professionen, die auf den ersten Blick so fremd erscheinen, vereint: nämlich die Kunst der Konzentration auf das Wesentliche - eine Art "verstehendes Übertreiben, das die Wahrheit ans Licht rückt", wie er selber sagte.

    Die Rede ist von dem Historiker Reinhart Koselleck, einem der Großen der europäischen Geschichtswissenschaft. Die Verwandtschaft zwischen Historiker und Karikaturist hat er als erhellende Miniatur skizziert, als ihm im Jahre 1999 der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen wurde. Da war er bereits ein Wissenschaftler, der die Summe eines langen und fruchtbaren Gelehrtenlebens ziehen konnte: In Kosellecks interdisziplinärer Konzeption von Geschichte verschränkten sich Begriffs- und Sprachgeschichte mit Anthropologie, Philosophie, Ikonologie, Sozial-, Rechts- und Verwaltungsgeschichte. Mit dem Instrumentarium dieser historischen Disziplinen entzifferte Koselleck die Entstehung und sprachliche Bildung von Zeiterfahrungen.

    In diese Arbeit ging auch die ganz persönliche Zeiterfahrung des Historikers Reinhart Koselleck ein. Sie ist geprägt von den Schrecken des Vernichtungskrieges im Osten, den Koselleck als junger Infanterist erlebte - inklusive zweijähriger Gefangenschaft in Kasachstan, die Koselleck nur mit Mühe überstand.

    Seine intellektuelle Prägung erfuhr der Historiker nach den Kriegsjahren im Klima der Heidelberger Universität durch akademische Lehrer wie Karl Jaspers, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Alfred Weber Werner Conze und Carl Schmitt - Namen, die auf die Vielfalt und Breite von Kosellecks wissenschaftlicher Ausbildung verweisen. Seine Dissertation "Kritik und Krise" analysierte 1954 den Aufstieg und die Irrwege der europäischen Aufklärung. Das Buch wurde zum Standardwerk über die Entstehung der bürgerlichen Welt. Mit der Habilitationsschrift "Preußen zwischen Reform und Revolution" gelang Koselleck wiederum ein großer Wurf. Das Werk gilt als ein Meisterstück der analytischen Gesellschaftsgeschichte.

    Mit seinen Arbeiten über den "Politischen Totenkult" und die "Politische Ikonologie des gewaltsamen Todes" ist Reinhart Koselleck als Bilderwissenschaftler hervorgetreten. Die Szenen, denen er als junger Mann an der Ostfront begegnet ist, hat er mit dem analytischen Verstand des Wissenschaftlers bearbeitet. Aus diesen Quellen speiste sich auch sein Engagement in den geschichts- und erinnerungspolitischen Debatten der Berliner Republik. Vehement wandte Koselleck sich gegen die Monumentalisierung von Käthe Kollwitz' Pietà-Skulptur bei der Umgestaltung der Neuen Wache. Und skeptisch begegnete er auch dem Projekt des Holocaust-Mahnmals, weil er darin die Gefahr sah, dass Millionen anderer unschuldig Ermordeter aus dem Prozess des Gedenkens ausgeschlossen würden.

    Gestern ist Reinhart Koselleck in Bielefeld, wo er bis 1988 als Professor für Theorie der Geschichte wirkte, im Alter von 82 Jahren gestorben. Mit der sechsbändigen "Theorie der Geschichte" und dem historischen Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe", deren Herausgabe er leitete, hat Koselleck der historischen Wissenschaft ein Monument hinterlassen.