Freitag, 19. April 2024

Archiv

Kritik zum Berliner Theatertreffen
Diskursiv und divers

Einfach nur ein gutes Stück reicht offenbar nicht fürs Berliner Theatertreffen. Die Jury möchte unbedingt Avantgarde sein und auszeichnen. Die Auswahl der zehn "bemerkenswerten" Inszenierungen, die im Mai nach Berlin fahren dürfen, sind in jedem Fall sehr speziell.

Von Michael Laages | 30.01.2019
    Das Foto zeigt die Jury des Berliner Theatertreffens 2019, also Dorothea Marcus, Christian Rakow, Shirin Sojitrawalla, Andreas Klaeui, Eva Behrendt, Wolfgang Höbel, Margarete Affenzeller
    Die Theatertreffen-Jury (Iko Freese / drama-berlin.de)
    Das ist tatsächlich überraschend – es gibt diesmal nämlich nicht DIE Siegerbühne, DAS Theater also, das so viele Einladungen wie niemand sonst aus dem eigenen Repertoire nach Berlin schicken darf. Zwar sind zwei Produktionen vom Staatstheater aus Dresden eingeladen, "Das große Heft" nach dem Roman von Agota Krysztof in Ulrich Rasches Regie; und Dostojewskis "Erniedrigte und Beleidigte" in der sehr freien Version von Sebastian Hartmann. Und das Theater in Basel ist sozusagen eineinhalb Mal im Spiel – mit der "Tartüff"-Version von Peter Licht in Claudia Bauers Inszenierung und "Hotel Strindberg" von Simon Stone, gemischt aus Material des schwedischen Dichters. Aber den Strindberg teilen sich die Basler mit den Koproduzenten im Wiener Burgtheater.
    Nein - wer diesmal "Sieger" sucht, findet immer mindestens ein halbes Dutzend: Produktionshäuser wie das in der Züricher Gessnerallee oder der Basler Kaserne, im Frankfurter Mousonturm oder auf Kampnagel in Hamburg, sowie natürlich die Sophiensäle und das HAU, die Berliner Theaterlabore. Zuweilen haben sich auch große Häuser in die Produzenten-Riege eingereiht - etwa für Torsten Lensings Version über den Monster-Roman "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace. "The Girl from the Fog-Machine Factory", eine Arbeit des Schweizers Thom Luz, ist aber an der Gessnerallee gestartet, das "Oratorium" der freien Gruppe "She She Pop" startete gar vor Jahren beim Festival "Theaterformen" in Hannover und ist mittlerweile an allen freien Theaterhäusern daheim.
    Viele Produktionshäuser mit ausgezeichneten Arbeiten
    Damit hat die Jury ein markantes Statement formuliert: Feste, große Ensembles wie an Stadt- und Staatstheatern sind nicht der einzige Nährboden für überzeugendes Theater. Die Gruppe, die einen Theaterabend trägt, entsteht erst in der Arbeit, im produktiven Prozess - und manchmal, wie bei "She She Pop", sogar erst im Dialog mit dem Publikum.
    Noch mit einem weiteren Postulat lehnt sich die Jury sehr weit aus dem Fenster, vielleicht ein bisschen zu modisch-elitär, in jedem Fall mehr mit Blick auf die Gesellschaft als aufs Theater. Einfach nur ein gutes Stück überzeugend inszenieren zu lassen, reicht für Juroren wie den "Spiegel"-Mann Höbel nämlich nicht mehr aus, um tauglich zu sein fürs Theatertreffen: divers muss es zugehen, natürlich auch gendergerecht; und die kreativen Köpfe sollten möglichst gleich ein neues Stück aus dem alten Stoff hervor destillieren. Vom Alltag auf deutschen Bühnen nabelt sich die Jury mit solchen Grundsatzforderungen bis auf weiteres ab. Die Jury-Kür will unbedingt Avantgarde sein.
    Überschreibungen und mutige Projekte
    Tatsächlich gelten ja "Tartüff" und "Hotel Strindberg" als sogenannte Überschreibungen. "Das Internat" von Ersan Mondtag, womit das Theater Dortmund nach Berlin eingeladen wird, ist eine freie Stückentwicklung; "Dionysos Stadt", das zehnstündige Mammut-Projekt von Regisseur Christopher Rüping für die Münchner Kammerspiele, ist vor allem ein dramaturgischer Großversuch mit ganz viel antikem Material in vielerlei Verpackung. Und Anna Bergmanns Inszenierung "Persona" folgt einem frühen, 1966 uraufgeführten Film von Ingmar Bergman. Film also, viele Romane und Projekte – und nirgends ein Stück. Auch Bergmanns Bergman übrigens ist koproduziert, zwischen dem Deutschen Theater in Berlin und dem Stadttheater in Malmö.
    Im übrigen ist die Auswahl ein Desaster auch für viele edlere unter den Stadt- und Staatstheatern, nicht nur in Berlin, auch in Hamburg. Kleinere Häuser in der sogenannten Provinz kommen ja ohnehin seit langem nicht mehr vor. Aber auch die spektakulären Neustarts blieben vorerst folgenlos: in Bochum, in Mannheim, in Stuttgart. Der Verdacht liegt recht nahe, dass im ersten Anlauf außer mutigen "Projekten" auch mal einfach nur Theater gespielt werden musste, schon um das Publikum bei Laune und am Ball zu halten. Und "einfach nur Theater", selbst wenn es von exzellenter Qualität wäre, schafft es eben nicht bis hinauf an die Wahrnehmungs-Horizonte der Jury fürs Theatertreffen: Es ist halt nicht nah genug dran an den gesellschaftlichen Diskursen, die auf diesen Höhen wichtig sind.
    So sieht die so überaus reiche Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum auf dem Theatertreffen diesmal zwar sehr speziell, doch auch ein bisschen arm aus.